Migration und Grenzen. Grenzkonstruktion als soziale und administrative Praxis von 1880 bis heute

Migration und Grenzen. Grenzkonstruktion als soziale und administrative Praxis von 1880 bis heute

Organizer(s)
Christina Reimann / Irina Mützelburg / Gesine Wallem, Centre Marc Bloch
Location
Berlin
Country
Germany
From - Until
01.10.2015 - 02.10.2015
Conf. Website
By
Christina Reimann, Centre Marc Bloch, Humboldt-Universität zu Berlin

In welchem Verhältnis stehen Mobilität und Grenze zueinander? Dies war die Leitfrage des Workshops, der im Rahmen der Tagungsreihe „Junges Forum“ Anfang Oktober am Centre Marc Bloch stattfand. Während die Grenzforschung heute zu den „profiliertesten Forschungsfeldern einer raumorientierten Geschichtswissenschaft“ gehört 1 und sich die historische Migrationsforschung in ihrer Fülle kaum überblicken lässt, sind Versuche, die analytischen Ansätze dieser beiden Forschungsfelder zusammenzuführen, eher selten. Daher sollte dieser Workshop an ein Credo anschließen, das bereits 1998 innerhalb des Stuttgarter Arbeitskreises für Historische Migrationsforschung formuliert wurde und bislang in der empirischen Forschung wenig Umsetzung gefunden hat: „Migranten überqueren Grenzen und machen dadurch die Grenzlinie erst zur Grenze als sozialer Tatsache. Migranten erfahren die Bedeutung von Grenzen und werden in ihrem sozialen Handeln durch diese Grenzerfahrung beeinflusst. Migrationsbewegungen können aber auch zur Auflösung oder zur Verschiebung und Errichtung von Grenzen führen.“2.

Besonderes Anliegen der Organisatorinnen war es, mit Blick auf diese Themenstellung sowohl den interdisziplinären, epochenübergreifenden als auch den intersprachlichen sowie interkulturellen Dialog zwischen Nachwuchswissenschaftler_innen anzuregen und zu vertiefen. So waren bei der Tagung junge Historiker_innen und Sozialwissenschaftler_innen unterschiedlicher Herkunft vertreten, die an Forschungseinrichtungen in Frankreich und Deutschland sowie in Österreich, England und den Niederlanden arbeiten.

Inwiefern lassen sich Grenzen als Gegenstand und Produkt von Aushandlungsprozessen zwischen mobilen Personen und staatlichen Akteuren betrachten? Wie werden Mobilität und Migration von „Grenzen“ beeinflusst und wie beeinflussen sie ihrerseits „Grenzen“ in ihrem Verlauf, ihrer Durchlässigkeit und in ihrer Bedeutung? Welche administrativen und sozialen Praktiken werden wann, von wem und wie eingesetzt, um „Grenzen“ zu ziehen, zu sichern oder sich ihrer zu vergewissern? Wie unterscheidet sich die Durchlässigkeit von „Grenzen“ je nach z.B. sozialer und ethnischer Zugehörigkeit oder nach Geschlecht der mobilen Personen?

Diese Fragen wurden mit Bezug auf einen historisch spezifischen Typus von Grenze, nämlich die Demarkationslinien und Abgrenzungsformen des modernen territorialen Nationalstaates – und deren derzeitigen Wandel – diskutiert. Diese Grenzform wurde dabei nicht allein im Sinne von territorial-physischen Grenzanlagen und -verläufen (border), sondern auch im Sinne von symbolischen und mentalen Abgrenzungsmechanismen verstanden (boundary), die sowohl an den Rändern als auch innerhalb oder jenseits des nationalstaatlichen Territoriums angesiedelt bzw. aktiv sein können.

Die Zusammensetzung der drei Panels sowie deren thematische Ausrichtung orientierten sich am doppelten Anliegen des Workshops, den intersprachlichen und interdisziplinären Austausch zu fördern. Wie sich Grenzen durch die Wechselwirkungen zwischen Migration und staatlichem Handeln konstituier(t)en, wurde daher anhand von drei verschiedenen Forschungsperspektiven untersucht und diskutiert. In einem ersten Zugriff wurden physische Orte der Grenzziehung und die dort stattfindenden Mobilitätskontrollen in den Blick genommen. Ein zweiter Fokus erfasste Grenzen auf der Ebene von Erfahrung und Körperlichkeit. Eine dritte Lesart bestand darin, innerstaatliche Grenzziehungen als Zuschreibungsprozesse durch staatliche Akteure zu interpretieren.

Unter dem Titel „Lieux de frontières et contrôles des mobilités“ versammelte das erste Panel vier Beiträge, die sich zum einen staatlichen Handelns bei der Absicherung von Staatsgrenzen widmeten. Zum anderen ging es um konkrete Formen des aktuellen Outsourcings von Grenzen: um die territoriale Verlagerung der Orte der Grenzziehung in Auswanderungsländer auf der einen, und um den Einsatz privater Sicherheitsfirmen und von Managementstrategien bei der Migrationskontrolle auf der anderen Seite.

Den Beiträgen der Historikerin SARAH FRENKING (Göttingen) und des Politikwissenschaftlers RADOSŁAW BURACZYŃSKI (Dresden) war gemeinsam, dass sie sich mit Praktiken der materiellen Grenzbefestigung und -sicherung beschäftigen: einerseits wurde das doing border als Verwaltungspraxis in Bezug auf die deutsch-französische und deutsch-niederländische Grenze um 1900 thematisiert, anderseits die Versicherheitlichung der polnisch-ukrainischen Grenze, die auf den Beitritt Polens zum Schengener Abkommen folgte. Sarah Frenking beschrieb die mühsame Arbeit der Grenzmarkierung und die akribische Verfolgung von Grenzverletzungen, die dem Eindruck eines ausgehenden 19. Jahrhunderts der „absoluten Reisefreiheit“ deutlich entgegenwirkten. Radosław Buraczyński erörterte seinerseits, wie durch die Versicherheitlichung der Grenze diese ihre Funktion als aktivierendes Element für die Region verlor und wie sehr die dortige Wirtschaft und das soziale Leben durch die Schließung der Grenze negativ beeinflusst wurden.

Der zweite Teil des Panels widmete sich Ausprägungen der Auslagerung von „Grenzorten“ als staatliche Reaktion auf Migrationsbewegungen. So untersuchte der Beitrag der Politikwissenschaftlerin INKEN BARTELs (Berlin) zeitgenössische Formen des Grenz- und Migrationsmanagments am Beispiel einer Nichtregierungsorganisation. Ihre ethnographische Studie bezog sich auf die Diskurse und Praktiken der International Organization for Migration (IOM), die von Staaten dafür bezahlt wird, z. B. in Marokko Migrationsbewegungen zu kanalisieren. Die ethnographische Studie der Juristin und Anthropologin MAYBRITT JILL ALPES (Amsterdam / Paris), die am Flughafen von Douala in Kamerun durchgeführt wurde, zeigte zweierlei: die zentrale Funktion von Ausreisekontrollen durch private Sicherheitsfirmen für das europäische Migrationsmanagement und wie innerhalb eines transnationalen Netzwerks von street-level bureaucrats eine Zirkulation von Normen und Praktiken der Personenkontrolle erfolgt.

Die Ethnologin SARAH MAZOUZ (Berlin) hob in ihrem Kommentar der Beiträge hervor, dass die empirischen Studien das Spannungsverhältnis aufzeigten, das zwischen der Grenze als Durchgangsort und ihrer Funktion als Kontrollpunkt existiere; hier werde außerdem deutlich, wie im Zuge von an der Grenze ausgeübten Praktiken (neue) Kategorisierungen entstünden.

In seinem Abendvortrag sprach ALEXIS SPIRE (Paris) über die historisch wandelbare Rolle des Staates im Bereich der Immigrations- und Grenzkontrolle und über deren zentrale Funktion für die Bestimmung des staatlichen Selbstverständnisses. Während Spire, der ein Spezialist des Forschungsansatzes l’Etat au guichet ist, wie auch die Beiträge des ersten Panels, die Perspektive staatlicher Akteure einnahm, wurde diese Perspektive mit Beginn des zweiten Tagungstages umgekehrt.

So nahm das zweite Panel, „Corporalité et expériences de la frontière par les migrant_es“, die Materialität und Erfahrung von Grenzziehung aus der Perspektive von Migrant_innen bzw. Zwangsdeportierten in den Blick. Die Beiträge folgten dem Analyseansatz, wonach Grenzen auf unterschiedliche Weise in Körper eingeschrieben werden können. Zum einen wurde die Auswirkung von Grenzen auf die physische und psychische Verfassung von Menschen analysiert, die diese überschreiten (möchten), und zum anderen, wie die körperliche Einschreibung als ein Mittel zur Durchsetzung von Grenzen genutzt wird. Der Beitrag der Historikerin EVA HALLAMA (Wien) erörterte, wie durch die systematische Errichtung von Grenzentlausungslagern durch die Nationalsozialisten ein unzivilisiertes Außen geschaffen wurde, das für die innere Ordnung konstitutiv war. Die Forscherin zeigte auf, dass das Prozedere der Entlausung und die dadurch erzeugte strukturelle Beschämung der Zwangsdeportierten zum zentralen Mittel der Grenzziehung wurde.

Während Eva Hallamas Quellen in den Erinnerungen ehemaliger Zwangsarbeiter_innen bestanden, stützte sich der Vortrag der Anthropologin CHLOÉ FAUX (Paris), der ebenfalls auf physische und psychische Gewalterfahrung beim Grenzübertritt abhob, auf eine ethnographische Studie innerhalb eines zeitgenössischen Aufnahmelagers in Nordfrankreich. Die von den Asylsuchenden erfahrene „bürokratische Gewalt“ gründet in der Analyse von Chloé Faux z. B. auf der von den Behörden durchgesetzten „absoluten Hoheit des Papiers“ gegenüber reeller Erfahrung sowie auf der als „soziale Waffe“ genutzten Zeit. Die dadurch erzwungene Passivität ziehe nicht selten eine Behandlung der wartenden Asylsuchenden mit Psychopharmaka nach sich, was die körperliche Dimension der Grenzziehung nochmals verstärke. Der Politikwissenschaftler STEPHAN SCHEEL (London) stellte in seinem Vortrag das Konzept der Aneignung von Migration in den Mittelpunkt. Damit ließen sich, besser als anhand der Begriffe agency und Widerstand, Praktiken der Subversion, mit denen Migrant_innen versuchen, Grenz- und Visakontrollen zu unterwandern, analytisch fassen. Nicht zuletzt beruhen eben jene Visakontrollen auf biometrischen Verfahren, bei denen die Speicherung unveränderlicher körperlicher Merkmale die zentrale Rolle spielt.

In ihrem Kommentar betonte die Historikerin LEYLA DAKHLI (Paris / Berlin) zwei hier thematisierte Aspekte des Phänomens Grenze: zum einen die zum Teil auch körperliche Erfahrung des „Zwischen-Etwas-Seins“ und zum anderen die Kapazität der Grenze, einen Transformationsprozess hervorzurufen, der unmittelbar die persönliche Identität und Integrität der Migrierenden betrifft.

Im dritten Panel, „Assignations d’identités et spatialisation“, erörterten die Historiker_innen ANTOINE SAILLARD und AURÉLIE AUDEVAL (beide Paris) anhand historischer Fallbeispiele, wie staatliche Akteure versuchten, bestimmte Ordnungen innerhalb des nationalen Territoriums zu errichten; wie sie unsichtbare Grenzen zogen, die für die Kontrolle von „Risikogruppen“ bestimmt waren. Diese Risikogruppen bestanden in dem Vortrag von Antoine Saillard in Vagabunden, Bettlern und ehemaligen Gefängnisinsassen, die in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts von den Metropolen Frankreichs mithilfe von „Verbotszonen“ ferngehalten werden sollte. Die Anzahl und Ausdehnung dieser administrativ eingesetzten Zonen erhöhte sich zum Ende des Jahrhunderts immer weiter, während ihre praktische Umsetzung mehr als unvollkommen blieb. Der Beitrag von Aurélie Audeval konzentrierte sich auf die Stadt Marseille während des Zweiten Weltkrieges, wo die lokalen Behörden zwischen 1940 und 1942 die dorthin geflüchteten Personen nicht mehr nur regelmäßig kontrollierten, sondern ihnen bestimmte Aufenthaltsorte in der Stadt zuwiesen bzw. sie dort internierten. Die somit vorgenommene Raumordnung entsprach den identitären Zuschreibungen gegenüber den Migrant_innen durch die Verwaltungs- und Polizeibeamten, wobei die Unterscheidung zwischen „erwünschten“ und „unerwünschten“ „Fremden“ zentral war.

Die Geographin BÉATRICE VON HIRSCHHAUSEN (Paris / Berlin) bemerkte in ihrem Kommentar, dass aus der Darstellung der inneren Grenzen hervorgehe, wie diese als Mittel zur Auf-Distanz-Haltung von als für die „normale“ Bevölkerung gefährlich eingestuften Personen(gruppen) gesehen bzw. nutzbar gemacht wurden. Zugleich rücke durch den Fokus auf das gouvernement du territoire der von den Grenzen umschlossene Raum und dessen Konzeption durch staatliche Akteure in den Mittelpunkt der Betrachtung.

Ein Fazit des „Jungen Forums“ lässt sich mithilfe des Abschlusskommentars von MATHILDE DARLEY (Paris) ziehen. Der politischen Soziologin zufolge war es ein Verdienst der Tagung, dass eine Vielzahl von Akteuren, die an Grenzziehungsprozessen beteiligt waren bzw. sind, in den Blick genommen wurde. Dennoch kamen die EU-Institutionen und (internationale) humanitäre Organisationen gemessen an ihrer jeweiligen Bedeutung für aktuelle Grenzziehungsprozesse etwas zu kurz. Richtete sich der Fokus vieler Beiträge auf die Kontrollen, das Warten, die Entwürdigungen von Migrant_innen an den Grenzen, so wurde dem Vorgang des Überschreitens oder Passierens der Grenzen weniger Beachtung geschenkt. Ein weiterer „blinder Fleck“ der Tagung ließe sich auch dahingehend ausmachen, dass der nationale politische Diskurs, der Repräsentationen von „dem Migranten“ produziert und Vorstellungen von Sicherheit und Kontrolle entwirft, hier nicht, oder nur am Rande thematisiert wurden.

Als besonders inspirierend und durchaus auch ermutigend kann der disziplinen- und epochenübergreifende Dialog beim Nachdenken über das Phänomen Grenze beurteilt werden. Auch die intersprachliche Kommunikation gestaltete sich dank zwischenzeitlicher Kurz-Übersetzungen ebenfalls unproblematisch, sodass auch dahingehend von einem gelungen Ideenaustausch gesprochen werden kann, an den sich anknüpfen und der sich vertiefen ließe.

Konferenzübersicht:

Panel 1: Lieux de frontières et contrôles des mobilités

Sarah Frenking, Georg-August-Univ. Göttingen: „Steine, Zeichen und Stationen“ – Konstruktionen der deutsch-französischen und deutsch-niederländischen Grenze um 1900

RadosławBuraczyński, TU Dresden: Die “sichere Region”. Grenzpolitik an der polnischen Ostgrenze

Inken Bartels, Humboldt-Universität Berlin: Europäisches Grenzmanagement in der Praxis? Ethnographische Einblicke in die Arbeit der IOM in Marokko

Maybritt Jill Alpes, VU Amsterdam, Sciences Po Paris: Border crossings at airports: a topography of transnational connections

Abendvortrag
Alexis Spire, CNRS, EHESS-IRIS: Les usages bureaucratiques des frontières : l’immigration comme révélateur des transformations de l’Etat

Panel 2: Corporalité et expériences de la frontière par les migrant_es

Eva Hallama, Universität Wien: Differenzierung und Konstituierung des „Anderen“ durch Beschämung. Erinnerungen ehemaliger Zwangsarbeiter_innen an nationalsozialistische Grenzentlausungslager

Stephan Scheel, Goldsmiths, University of London: Autonomie der Migration 2.0: Zur Aneignung von Mobilität innerhalb von biometrischen Grenzregimen

Chloé Faux, EHESS Paris: La douleur manifestement infondée et la construction d’un pays de/en papier

Panel 3: Assignationsd’identités et spatialisation

Antoine Saillard, EHESS-Ined Paris: Relégation intérieure et conception de l’espace national (France, seconde moitié du XiXe siècle)

Aurélie Audeval, EHESS-IRIS Paris: La spatialisation des identités assignées : Marseille 1940–1942

Anmerkungen:
1 Ulrike Jureit, Das Ordnen von Räumen. Territorium und Lebensraum im 19. und 20. Jahrhundert, Hamburg, 2012, S. 16.
2 Andreas Gestrig und Marita Krauss, Einleitung, in: Dies., Migration und Grenze, Stuttgart, 1998, S. 10.


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Published on
23.11.2015
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