Isolated or Entangled Histories? Migration erinnern in regionalen und lokalen Kontexten

Isolated or Entangled Histories? Migration erinnern in regionalen und lokalen Kontexten

Organizer(s)
Collegium Carolinum, München; Europäisches Netzwerk Erinnerung und Solidarität; Collegium Bohemicum, Ústí nad Labem; Institut für slawisch-germanische Forschung der Philosophischen Fakultät der Jan-Evangelista-Purkyně-Universität, Ústí nad Labem; Gesellschaft für die Geschichte der Deutschen in Böhmen, Ústí nad Labem
Location
Ústí nad Labem
Country
Czech Republic
From - Until
03.12.2015 - 05.12.2015
Conf. Website
By
Václav Smyčka, Ústav pro českou literaturu, AV ČR, Prag

Der Leitidee folgend, dass man sich im konkreten Raum und an konkreter Stelle kollektiv erinnert, fand vom 3. bis 5. Dezember 2015 in der nordböhmischen Stadt Ústí nad Labem die Konferenz „Isolated or Entangled Histories? Migration erinnern in regionalen und lokalen Kontexten“ statt. Eingeladen hatten das Collegium Carolinum und das Europäische Netzwerk Erinnerung und Solidarität sowie als lokale Veranstalter das Collegium Bohemicum, das Institut für slawisch-germanische Forschung der Philosophischen Fakultät der Jan-Evangelista-Purkyně-Universität und die Gesellschaft für die Geschichte der Deutschen in Böhmen. Die Konferenz nahm das komplexe Wechselverhältnis von Erinnerungsräumen und Erinnerungsakteuren in den Fokus: Gegenstand waren städtische Erinnerungen an Massenwanderungen in verschiedenen historischen Phasen und politischen Epochen im 20. und 21. Jahrhundert.

Mit der Fokussierung auf lokale und regionale Erinnerungskulturen distanzierten sich die Teilnehmer der Konferenz gezielt von einer allzu holistischen, staatlichen und globalen Sichtweise zu einzelnen Stadträumen. Dank dieser Detailperspektive gelang es, traditionelle, pauschalisierende Geschichtsnarrative zu hinterfragen und auf der lokalen Ebene eine Pluralität und Ambivalenz von Erinnerungskulturen sichtbar zu machen, die bislang nicht berücksichtigt wurde. Dabei wurde nicht allein die große Vielfalt städtischer Erinnerungskulturen deutlich, es zeigten sich auch bemerkenswerte Ähnlichkeiten und Verknüpfungspunkte. Mit dem Sammelbegriff „Migration“ verbanden sich Beiträge zu Schicksalen verschiedener Gruppen: unter anderem vertriebene Deutsche aus der Tschechoslowakei, aus Polen und Ungarn, dazu im Rahmen der sozialistischen Planwirtschaft umgesiedelte slowakische Roma in Tschechien oder die heutigen Krakauer Juden.

Die produktiven Möglichkeiten der detaillierten Fokussierung wurden schon bei dem ersten Beitrag von KATEŘINA SDIROPULU JANKŮ (Brno) deutlich, in dem sie sich den Problemen der Repräsentation von Erinnerungen tschechischer Roma-Arbeiter in Hinsicht auf ihren Migrations-Hintergrund widmete. Sie stellte zudem die praxisorientierte Frage nach der Verwendung der Oral-History-Methode, die aus ihrer Sicht nicht nur fachlichen Zwecken dienen, sondern auch eine breitere öffentliche Resonanz hervorrufen sollte. KATARZYNA WONIAK (Berlin) konzentrierte sich auf Denkmäler als Medium des kollektiven Erinnerns. Sie verglich die öffentlichen Festivitäten und die Institutionalisierung des kollektiven Erinnerns an die ehemalige deutsche Besiedlung der polnischen Städte Labes und Flatow. Auch ADAM GAJDOŠ (Brno) beschäftigte sich in seinem Beitrag mit der Funktion von Denkmälern im öffentlichen Raum, konkret: in der ostslowakischen Stadt Košice. Gajdoš analysierte die Rolle privater Initiativen und öffentlicher Institutionen bei der Errichtung der Gedenkzeichen und stellte die Frage nach konkreten Aushandlungspraktiken von Erinnerungspolitik im lokalen Raum.

Die Beiträge von K. ERIK FRANZEN (München) und FRAUKE WETZEL (Dresden) setzten sich zum Ziel, die komplexen Erinnerungslandschaften der Städte Hoyerswerda und Ústí nad Labem zu skizzieren. Franzen analysierte die radikalen demographischen Umwälzungen der Stadt in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts (Flüchtlingszustrom nach dem Zweiten Weltkrieg, rasche Industrialisierung in Schwarze Pumpe und Aufbau der Neustadt ab Mitte der 1950er-Jahre, massiver Wegzug seit 1990), die nicht nur die Semantik der Repräsentationspraktiken definieren, sondern auch in die Urbanistik der Stadt eingeschrieben sind. Wetzel thematisierte das komplexe Stadtgefüge und das Image einer Stadt, die von der Vertreibung der deutschen Bevölkerung, der Bombardierung und Industrialisierung betroffen waren. Der Beitrag von Wetzel zeichnete sich dadurch aus, dass er nicht bei einer Beschreibung der Stadt stehen blieb, sondern auch historische Diskurse, die an der semantischen Ordnung des Raumes beteiligt waren, berücksichtigte.

Die Beiträge von STEFANIE MENKE (Hof) und MARTIN RENGHART (Julbach) widmeten sich den Erinnerungskulturen der Zuwanderer in den bayrischen Städten Hof und Waldkraiburg. Menke beschäftigte sich mit den praktischen Fragen der Musealisierung der Erinnerung an Flucht und Vertreibung, sowie mit der Integration der Flüchtlinge am Beispiel des Stadtmuseums in Hof (Vogtland). Martin Renghart konzentrierte sich auf Gruppen-Identitäten verschiedener Bevölkerungsgruppen mit „Migrationshintergrund“, zu denen er Sudetendeutsche, Türken und Russlanddeutsche zählte, deren Erinnerungsaktivitäten er anhand zahlreicher Beispiele von Veranstaltungen, aber auch von konkreten Objekten, wie beispielsweise Gemälde und Mosaike im städtischen Raum untersuchte.

Mit der Erinnerung und Identität von Minderheiten, die nach dem Zweiten Weltkrieg in Ostmitteleuropa nicht vernichtet, vertrieben oder ausgesiedelt wurden, sondern verblieben sind, beschäftigten sich die Beiträge von KATHARINA SCHUCHARDT (Kiel), STEFANIE TROPPMANN (Chemnitz), BEÁTA MÁRKUS (Budapest) und APOLÓNIA SEJKOVÁ. Schuchardt untersuchte identitätsstiftende Diskurse der deutschen Minderheit im Schlesischen Oppeln. Troppmann versuchte auf der Basis von Zeitzeugengesprächen die Entscheidungskriterien für die freiwillige Aussiedlung aus der Tschechoslowakei zu identifizieren. Sejková thematisierte die Veränderungen der Erinnerungskulturen in dem Krakauer jüdischen Stadtviertel Kazimierz und fokussierte sich dabei auf die Spannung zwischen der Erinnerung an Holocaust und der lebendigen Identität der jüdischen Gemeinde heute. Márkus beschrieb die aktuelle Re-Semantisierung der sogenannten „Verschleppung von Ungarndeutschen in die Sowjetunion“ in der Folge der Einbeziehung ihrer Erinnerungen in die hegemonialen nationalen Meistererzählungen der Ungarn. Die Re-Semantisierung eines Erinnerungsaktes nahm auch NIKOLA BAKOVIĆ (Gießen) in den Blick. Baković widmete sich den Auswirkungen der Verschiebung traditioneller Erinnerungsfestivitäten im ehemaligen Jugoslawien von einem nicht-nationalen, staatlichen Kontext hin zur explizit nationalistischen Umwidmung der kollektiven Erinnerung im Laufe der 1960er- bis 1980er-Jahre im lokalen und regionalen Kontext.

Auf der Konferenz wurde deutlich, dass die lokale Perspektive einerseits vieles einfangen kann, was in einer globalen oder staatlichen Perspektive verloren ginge. Dabei darf allerdings die Gefahr nicht übersehen werden, dass ohne breiteren Kontext letztlich auch verkapselte Ergebnisse erzielt werden können. Die Lokalperspektive birgt nämlich die Gefahr, dass die breiteren Zusammenhänge verloren gehen, oder dass man auf der Oberfläche von Beschreibungen und Diskursen stehen bleibt und sich mit der bloßen Anhäufung kleinteiliger Informationen zufrieden gibt. Den Begriffen „Erinnerung“ oder „Migration“ droht, dass sie zu den leeren Wendungen verflacht werden können, die keinen Erkenntnisgewinn bringen – wenn die Einbettung in größere historische, politische und soziale Zusammenhänge fehlt.

So kristallisierte sich als Ergebnis der Tagung im Kaisersaal des gastgebenden Stadtmuseums in Ústí nad Labem heraus, dass die lokale Perspektive dann den größten Gewinn erbringt, wenn die örtlichen Eigenheiten der Semantik städtischer Räume und identitätsstiftender Diskurse mit nationalen, offiziellen Diskursen verknüpft werden. Gerade wenn man sich nicht nur auf die bloße Beschreibung von ritualisierten Feierlichkeiten, veröffentlichen Programmen und von Denkmälern beschränkt, sondern den städtischen Raum als ein komplexes Geflecht, eine vielschichtige Erinnerungslandschaft, untersucht und dazu semantisierende Diskurse (zum Beispiel Presse, Reiseführer) mit in Betracht zieht, gelingt es, mit der lokalen Perspektive zugleich die globalen Fragen von Erinnerungskulturen zu berühren.

Konferenzübersicht:

Ethnizität und Erinnerung
Moderation: René Küpper

Adam Gajdoš (Brno) Public-private remembering of past multi-ethnicity in Košice: Memorials between familiar and civic

Erzählung und Repräsentation
Moderation: Frauke Wetzel

Kateřina Sidiropulu Janků (Brno): Making the memory happen. The case of Czechoslovak socialist Roma workmen.

Katarzyna Woniak (Berlin): Konglomerat der Erinnerung als Folge der (Zwangs)Migration in den heute polnischen Kleinstädten Labes und Flatow aus vergleichender Perspektive

Stadt und Gedächtnis
Moderation: Kristina Kaiserová

K. Erik Franzen (München): Ein dichtes Feld. Das Stadtzentrum Hoyerswerdas als Erinnerungsangebot

Frauke Wetzel (Dresden): „Die Stadt ohne Vergangenheit“: Erinnern und Vergessen im Städtebau von Ústí nad Labem

Aushandeln und Ritualisieren
Moderation: Václav Smyčka

Stefanie Menke (Hof): Erkämpfte Erinnerung - Der langwierige Entstehungsprozess der Ausstellung „Flüchtlinge und Vertriebene in Hof“ unter erinnerungskulturellen Gesichtspunkten

Martin Renghart (Julbach): Öffentliche Erinnerungen und Gruppen-Identitäten in Waldkraiburg 1950 bis 2000

Minderheit und Migration
Moderation: Martin Zückert

Katharina Schuchardt (Kiel): Die Aushandlung des eigenen Raums. Identitätsstiftende Diskurse der deutschen Minderheit im Oppelner Schlesien

Stefanie Troppmann (Chemnitz): Ausreisen oder hierbleiben? Freiwillige Migration aus der Tschechoslowakei

Actors and Actions
Moderation: Karin Hoření

Apolónia Sejková (Brno): Remembering and Forgetting in one City District: Who Is Remembering Krakow‘s Jewry?

Beáta Márkus (Budapest): Regionale und lokale Erinnerungskulturen der „Verschleppung“ von Ungarndeutschen in die Sowjetunion

Nikola Baković (Gießen): „(De-)Railing“ the Memory: Train of Brotherhood and Unity - from Yugoslav Mnemonic Glue to Serbo-Slovene Vehicle of Nationalism 1961–1989


Editors Information
Published on
02.06.2016
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Regional Classification
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Conf. Language(s)
German
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