„[…] Wissen ist begrenzt.“ – Internationalität und Kosmopolitismus in den Wissenschaften

„[…] Wissen ist begrenzt.“ – Internationalität und Kosmopolitismus in den Wissenschaften

Organizer(s)
Driburger Kreis
Location
Münster
Country
Germany
From - Until
20.09.2017 - 22.09.2017
Conf. Website
By
Christopher Halm, Wissenschaftsgeschichte, Universität Regensburg; Mathis Nolte, Institut für Geschichte, Karlsruher Institut für Technologie

Unter dem Thema „‚[…] Wissen ist begrenzt.‘ – Internationalität und Kosmopolitismus in den Wissenschaften“ trafen sich an der Medizin-, Wissenschafts- und Technikgeschichte interessierte junge Studierende, Promovierende und Nachwuchswissenschaftler/innen und stellten ihre eigenen Forschungsprojekte vor.

ALEXANDER STÖGER (Jena) leitete das Treffen mit einem kurzen Einführungsvortrag ein und stellte dabei zentrale Fragen für die kommenden Diskussionen auf: Auf welche Weise werden in verschiedenen wissenschaftlichen Systemen Werte von Internationalität und Kosmopolitismus erzeugt, verwendet und kritisiert? Wie sehr verstehen die Akteure Wissenschaft überhaupt als ein internationales Unterfangen und wie sehr treten sie in den Systemen kosmopolitisch agierend auf? So wie die Natur über regionale Grenzen wirkt, soll der/die Weltbürger/in idealtypischer Weise auch soziale, politische und kulturelle Grenzen überwinden. Wie beeinflusst dies folglich ihre Wissensproduktion?

Obgleich Wissenschaftler/innen sich nach außen gern als Kosmopoliten geben, findet die Umsetzung jenes Ideals allerdings selten statt. Wissen wurde und wird häufig als nationale Errungenschaft proklamiert und gefeiert. Ferner sind es nicht allein Wissenschaftler/innen, die sich über Grenzen verschiedener Art bewegen. Ebenso werden allgemeine Roh- und Werkstoffe (materials) sowie die Notizen und Veröffentlichungen der Wissenschaftler/innen über Grenzen transportiert und müssen daher bei der historischen Untersuchung Berücksichtigung finden.

MAREN C. BIEDERBICK (Ingolstadt) erinnerte anhand ihrer Untersuchung zu Wissenstransfers durch internationale Embleme im 16. Jahrhundert eindrücklich daran, dass das kosmopolitische Wissenschaftsideal weitaus älter ist als das Konzept des modernen Nationalstaats. In ihrem Vortrag diskutierte sie die ambivalente Funktion von Emblemen. Einerseits dienten sie zur Wissenskommunikation, indem sie Allegorien, Wahlsprüche und Erkennungszeichen herrschender Personen weitertransportierten, andererseits waren sie mit ihren ikonischen Darstellungen Wissenstresore. Wer Embleme zur Schau trug und vor allem auch zu deuten vermochte, gab sich nicht nur als Angehöriger einer gebildeten kosmopolitischen Oberschicht zu erkennen, sondern grenzte sich damit zugleich von nichteingeweihten und niederen Bevölkerungsschichten ab. Somit halfen Embleme letztlich, regionale und staatliche Grenzen zu überwinden, festigten jedoch gleichzeitig auch soziale Grenzen. Dem hinzukommend offenbaren frühneuzeitliche Embleme Grenzen hinsichtlich wissenschaftlich-empirischer Überprüfbarkeit. Die Darstellungstradition des Stachelschweins kann hierbei als Beispiel genannt werden. Mal wurde es als eine besondere Art eines Igels, mal als ein Schwein bildlich charakterisiert. Welche Darstellung die zutreffendere war, ließ sich aufgrund der Seltenheit des nachtaktiven Tieres nur schwer beurteilen.

SWEN STEINBERG (Dresden) untersuchte in seinem Vortrag “German Forestry. Naturnutzungskonzepte der Forstwissenschaften zwischen praktischer Eigenart und nationaler Zuschreibung“, wie deutsche Konzepte der Waldbewirtschaftung in den USA vor und nach dem Zweiten Weltkrieg Anwendung fanden. Steinberg hielt fest, dass in der Zwischenkriegszeit US-Amerikaner Forstversuchsanstalten als etwas explizit Deutsches wahrnahmen. Zudem gingen sie zur Ausbildung vorrangig nach Deutschland, von wo aus sie das dort entwickelte Forstkonzept in die USA brachten. Damit kam es nicht nur zu transnationalen Wissensaustauschen über staatliche Grenzen hinweg, sondern durch die Übertragung in die flächenmäßig größeren Natur- und Klimaräume der USA auch zur Entgrenzung eines anfangs sehr regional bezogenen Wissens. War diese Entgrenzung zunächst noch der Tätigkeit und der Natur geschuldet, so kam es nach dem Zweiten Weltkrieg zu einer deutlichen Abkehr von dem deutschen Bezug aufgrund von politischen Bedingungen.

Der Vortrag von ANTINA SCHOLZ (Wuppertal) zur Vernetzung westdeutscher Mathematiker nach dem Zweiten Weltkrieg zeichnete eine konträre Entwicklung. Anders als nach dem Ersten Weltkrieg gelang es den Mathematikern der Deutschen Mathematischen Vereinigung (DMV) in den 1950er-Jahren vergleichsweise schnell, Anschluss an die internationale Gemeinschaft zu finden. Wie Scholz anhand des internationalen Schriftverkehrs der DMV verdeutlichte, waren für den Erfolg dieser Bemühungen insbesondere zwei Aspekte entscheidend: das aktive Engagement des DMV-Vorsitzenden Erich Kampke, welcher 1952 zum Vizepräsident der erst im Jahr zuvor neu gegründeten Internationalen Mathematischen Union (IMU) gewählt wurde und die wohlwollende Unterstützung einflussreicher US-amerikanischer Mathematiker wie Marshall Harvey Stone.

Ein weiteres Beispiel enger Verknüpfungen von grenzübergreifender Wissenschaftskooperation mit unterschiedlichen wissenschaftspolitischen Motiven wurde von MARIE-CHRISTIN SCHÖNSTÄDT (Essen) in ihrem Vortrag zum deutsch-deutschen Kulturabkommen (1986) vorgestellt. Schönstädt nahm zunächst systematische Unterschiede der jeweiligen Wissenschaftsbetriebe in den Blick und fragte nach Prozessen gegenseitiger Beeinflussung. Zu den wichtigsten angesprochenen Unterschieden gehörten überraschender Weise nicht die staatlichen Kontrollbemühungen seitens der DDR, sondern die mit dem bilateralen Austausch verbundenen monetären Interessen. Während westdeutsche Akteure wie das Institut für Gesellschaft und Wissenschaft (IGW) in Erlangen vor allem beabsichtigten, sich einen Überblick über den Stand der DDR-Forschung zu verschaffen, nutzten ostdeutsche Akteure angesichts einer drohenden Staatspleite der DDR die Kooperationen dazu, sich vom Westen aus zu finanzieren.

DAVID FREIS (Münster) erforscht medizinische Zukunftsvorstellungen der BRD zur Zeit des Kalten Krieges. Ausgang seines Vortrages war die Herausstellung, dass sich Zukunft als ein eigenes Forschungsnarrativ nach dem Zweiten Weltkrieg innerhalb von Medizin und Gesellschaft manifestierte. Während in jener Zeit einerseits Technik- und Wissenschaftseuphorie sowie eine verbesserte Gesundheitspolitik Optimismus verbreiteten, riefen andererseits verschiedene Umweltkrisen und die Drohung eines Atomkriegs neue Ängste hervor. Die Antizipation von Zukunft war somit notwendig geworden, um bereits in der Gegenwart die Maßnahmen gegen kommende Gefahren einzuleiten. Dies zeigt sich zum einen in der Ausbildung von Ärzten, die zunehmend auch technisch geschult wurden, und zum anderen an der Konzeption von Gebäuden, welche bereits die Voraussetzungen von z.B. Hubschrauberlandeplätzen und Räumen für MRT-Untersuchungen erfüllten, noch bevor diese in der täglichen Praxis gefragt waren. Das immer stärkere Vorrücken computermedizinisch gestützter Diagnosetechniken führte zudem zu einer neuen Internationalisierung der Medizin. Gleichwohl entstand dabei eine Abhängigkeit zu Tech-Konzernen wie IBM und somit Grenzen hinsichtlich technisch-wirtschaftlicher Zugänglichkeiten.

Weitere Referent/innen machten zudem von dem Angebot des Driburger Kreises Gebrauch, Forschungsvorhaben und Projekte zu diskutieren, die nicht oder nur sehr bedingt an die Themen Internationalität und Kosmopolitismus anschlossen.

CAROLA OSSMER (Lübeck) nahm am Beispiel des US-amerikanischen Psychologen Arnold Gesell in den Fokus, wie sich Anfang des 20. Jahrhunderts die Entwicklungspsychologie von Kindern als neues Territorium psychologischer Forschungs- und Behandlungstätigkeit etablierte. In Abgrenzung zu vorherigen Forschergenerationen, die sich vergleichsweise wenig für Kinder interessierten, sah Gesell eine entwicklungspsychologisch informierte Kindererziehung nicht nur als Voraussetzung für eine „normale“ Kindesentwicklung, sondern er erklärte die kontinuierliche Überprüfung und Förderung der kognitiven Leistungsfähigkeiten von Kindern zugleich auch zu einer unverzichtbar notwendigen Investition für eine zukunftsfähige Gesellschaft. Die von Gesell primär anhand von Untersuchungen der Söhne und Töchter einer weißen Mittelschicht herausgearbeiteten und in zahlreichen Büchern, Filmen und Radiosendungen erfolgreich vermittelten kindlichen Entwicklungsstufen übten daher sowohl auf medizinische Versorgungsroutinen wie auch auf die Erziehungsprinzipien von Pädagogen und Eltern einen nicht unerheblichen Einfluss aus.

LAURENS SCHLICHT (Berlin) gab in einem spontanen Werkstattbericht erste Einblicke in sein aktuelles Forschungsprojekt zum Thema Wahrheitstechnologien, welches sich mit der Verbreitung und dem Einsatz von Vernehmungstechniken, Graphologie und psychologischen Tatbestandsdiagnosen in der Polizeiarbeit, in der angewandten Psychologie und in Gerichtsälen zwischen 1900-1945 beschäftigt. Im Zentrum des Berichts standen allerdings weniger die Wahrheitstechnologien selbst, als vielmehr methodische Überlegungen. Diese drehten sich vor allem darum, wie sich mit Hilfe einer historischen Netzwerkanalyse international und interdisziplinär verlaufende Migrationsprozesse des Wissens über Wahrheitstechnologien zwischen verschiedenen Fachzeitschriften abbilden lassen (Makroebene) und inwieweit die Ergebnisse dieser Netzwerkanalyse die Einordnung von Schilderungen des Einsatzes von Wahrheitstechnologien in Gerichtsakten und -protokollen (Mikroebene) befruchten können.

JUDITH MARLEN DOBLER (Potsdam) berichtete von ihren Feldforschungen zur Nutzung und Bedeutung von handgezeichneten Skizzen im Bereich der Experimentalphysik. Basierend auf ihren Beobachtungen in einem Labor der Technischen Universität Berlin zeigte Dobler, dass informelle Praktiken des kollaborativen Skizzierens von Versuchsanordnungen, Diagrammen und Modellen auf Notizzetteln, Tafeln oder Whiteboards einen wesentlichen nonverbalen Beitrag zum interaktiven Wissensaustausch der Anwesenden leisten. Obwohl viele dieser Skizzen nie das Labor verlassen und sie oft bereits nach kurzer Zeit weggeworfen oder ausradiert werden, reicht ihre epistemische Bedeutung jedoch weit über ihre situativen Entstehungskontexte hinaus. Deren beständige Reproduktion und ihr kontinuierliches Abgleichen mit den Laborbüchern tragen zur Herausbildung einer kollektiven Formen- und Symbolsprache bei.

Wie schon im Jahr zuvor traf sich der Driburger Kreis im Anschluss an die thematischen Vorträge und Diskussionen mit Vertreter/innen der AG MITTELBAU der Wissenschafts-, Medizin- und Technikgeschichte, die sich für eine Verbesserung der Arbeitsbedingungen von Wissenschaftler/innen in Deutschland einsetzt. Im Anschluss an eine kurze Schilderung der bisherigen Tätigkeit der AG MITTELBAU und ihrer zentralen Forderungen, kam es zu einem regen Austausch persönlicher Erfahrungen und Eindrücke, die z.T. auch Eingang in die späteren Diskussionen beim Runden Tisch auf der Jahrestagung der GWMT fanden.

In der Abschlussdiskussion kehrte der Driburger Kreis zu seinem Tagungsthema zurück. Hierbei wurde festgehalten, dass dank Kosmopolitismus und Internationalität von Wissen Forschende verschiedener Nationalitäten und kultureller sowie geographischer Hintergründe sich als Gleichgesinnte verstehen können. Im kosmopolitischen Idealbild werden Konkurrenz und Kooperation erfolgsversprechend miteinander vereint. In der historischen Realität zeigt sich die Idee des Kosmopolitismus allerdings als ein politisches Programm, dessen Bedingungen, Ziele und Umsetzungen fortlaufend neu ausgehandelt werden. Insbesondere die Fragen nach dem Allgemeinwohl und danach, wer wie an diesem Wohl partizipieren darf, erweisen sich als Einfallstore für Dissens und Konflikte.
Des Weiteren wurde herausgestellt, dass Wissen, welches über Grenzen transportiert wird, nicht allein von Wissenschaftler/innen und wissenschaftlichen Institutionen, sondern auch durch die neuen räumlichen und gesellschaftlichen Gegebenheiten verändert wird. Die Tradierung von Wissen ändert Wissen und schafft neues Wissen. Letztendlich scheint es ganz natürlich zu sein, dass Wissen Grenzen überschreitet – das Gegenteil wäre eher seltsam und die Ausnahme.
Anschließend an dieses inhaltliche Resümee der Vorträge und Debatten, wurde die Abschlussdiskussion auch dazu genutzt, über das Format des Driburger Kreises selbst zu diskutieren. Gelobt wurde hierbei insbesondere die Offenheit der Veranstaltung für Einreichungen abseits des übergreifenden Tagungsthemas. Auch der Vorschlag, eine „Open Session“ für Werkstattberichte und kürzere Spontanvorträge anzubieten, fand regen Zuspruch.

Konferenzübersicht:

Einführungsvortrag von Alexander Stöger (Jena)

David Freis (Münster): „Die Medizin 2000“ Die Medizin der Zukunft in der Bundesrepublik der 1960er- bis 1980er-Jahre

Maren C. Biederbeck (Ingolstadt): Ist Wissen begrenzt? – Kosmopolitischer Wissenstransfer durch internationale Embleme im 16. Jahrhundert

Carola Oßmer (Lübeck): Territorien der Entwicklungspsychologie: Institutionen, Medientechnologie und normale Entwicklung bei Arnold Gesell (1911–1925)

Swen Steinberg (Dresden): German Forestry. Naturnutzungskonzepte der Forstwissenschaften zwischen praktischer Eigenart und nationaler Zuschreibung

Antina Scholz (Wuppertal): Internationale Vernetzung deutscher Mathematiker nach dem Zweiten Weltkrieg am Beispiel ihrer Rolle in der Internationalen Mathematischen Union

Marie-Christin Schönstädt (Essen): Zwischen BRD und DDR. Ost- und westdeutsche Wissenschaftskooperationen am Ende der 1980er-Jahre

Laurens Schlicht (Berlin): Werkstattbericht zum Thema Wahrheitstechnologien und historische Netzwerkanalyse

Judith Marlen Dobler (Potsdam): Wissen Skizzieren: Diskursive Praxis und visuelle Sprache in der Experimentalphysik


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Published on
05.04.2018
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