Transnationale Geschichte - Ein neues Paradigma?

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Kiran Klaus Patel, Institut für Geschichtswissenschaften, Neue Geschichte, Humboldt-Universität zu Berlin

Die Schlagzahl der Wenden, die in der Geschichtswissenschaft ausgerufen werden, hat sich in den letzten zwei Jahrzehnten enorm erhöht. Der Historismus noch konnte rund ein Jahrhundert lang weitgehende Deutungshoheit für sich beanspruchen, bevor er von der historischen Sozialwissenschaft herausgefordert wurde. Kaum hatte diese ihre Pflöcke eingeschlagen, wurde sie selbst schon wieder – und jetzt gleich von mehreren Seiten – in Frage gestellt: „linguistic“, „cultural“ und „iconic turn“ sind nur einige Stichworte für die zuletzt geforderten Kehrtwenden. Wer Clio eine derart wilde Slalomfahrt zumutet, muss sie für eine recht rüstige Dame halten. Ist nun die transnationale Geschichte, die neuerdings Konjunktur hat, das neueste Fähnchen, an dem es vorbeizuwedeln gilt?

Auf den ersten Blick mag es so scheinen: Immerhin stellt die transnationale Geschichte die Nationalfixierung der Geschichtswissenschaft in Frage, wenn sie sich die Befreiung der historischen Forschung aus ihrer selbst auferlegten Beschränkung auf den Analyserahmen des Nationalstaates zum Auftrag macht. Sie wendet sich damit gegen einen der wenigen Punkte, in dem die meisten bisherigen Ansätze übereinstimmten. Handelt es sich bei diesem Blickwechsel somit auch um einen Paradigmenwechsel im Sinne Thomas Kuhns, um eine grundstürzende Veränderung der Sicht auf die Vergangenheit? Meines Erachtens ist das nicht der Fall. Vielmehr soll hier transnationale Geschichte weder als Paradigma noch als spezifische Methode oder Theorie definiert werden. So hohe Ämter strebt sie nicht an. Vielmehr ist sie eine Forschungsperspektive, die den unterschiedlichen Graden der Interaktion, Verbindung, Zirkulation, Überschneidung und Verflechtung nachgeht, die über den Nationalstaat hinausreichen. Zugleich spielt die Nation aber auch für sie eine bedeutsame, sogar eine definierende Rolle. Transnationale Geschichte ist sektoral unbeschränkt. Epochal spricht meiner Ansicht nach viel dafür, nur für die späte Neuzeit von transnationaler Geschichte zu sprechen. Auf der Ebene methodischer Verfahren setzt sie in besonderem Maße auf den Vergleich und die Transferanalyse. Außerdem sollte sie versuchen, den Begriff des Transnationalen von allen normativen Konnotationen zu lösen.

Transnationale Geschichte ist somit nicht Antithese zur These der konventionellen Nationalgeschichte. Auch behauptet sie nicht, diesen Schritt einfach zugunsten der Synthese zu überspringen. Vielmehr unterläuft sie ein derartiges, dialektisches Verständnis. Fruchtbar erscheint vielmehr eine Definition, laut der in transnationalen Konstellationen die Nation weiterhin eine wesentliche, relationale Rolle spielt. Transnationale Geschichte umfasst demnach all das, was jenseits (und manchmal auch diesseits) des Nationalen liegt, sich aber auch durch dieses definiert – sei es, dass es sich daraus speist oder davon abgrenzt, dass es das Nationale erst konstituiert oder dass es sich um wechselseitige und dynamische Konstruktionsprozesse zwischen dem Nationalen und dem Transnationalen handelt. Das heißt gerade nicht, dass sich das Transnationale in nationale Komponenten auflösen ließe. Trotzdem nimmt der Nationalstaat oder zumindest ein Nationalgefühl eine zentrale und definierende Position für die transnationale Geschichte ein.

Diese Definition korrespondiert übrigens mit der Logik des Prefix trans in „trans-national“: Es verweist auf die Überschreitung nationaler Demarkationslinien ebenso wie auf die qualitativen Veränderungen, die diese Transgression mit sich bringt. Gleichzeitig ist die natio – und nicht eine beliebige andere Analyseeinheit – ein Bezugspunkt.

Der transnationale Blick interessiert sich für Abhängigkeiten und Transfers über (nationale) Grenzen hinweg sowie für die wechselseitigen Wahrnehmungen, auf denen Übertragungen jeder Art aufbauen. Ebenso sehr geht es um Formen der Verflechtung, das heißt um jene strukturellen Verbindungen, die eine nationalhistorische Perspektive per definitionem relativieren. In dieser Hinsicht hat die geschichtswissenschaftliche Debatte zu Transnationalität übrigens wesentliche Impulse von den post-colonial studies empfangen. Stärker als bisher geschehen sollte sie sich jedoch von deren Tendenz freimachen, transnationale Praktiken prinzipiell als emanzipatorisch zu verstehen. Im Extremfall würde transnationale Geschichte sonst nur auf die Erzählungen marginalisierter Gruppen hinauslaufen. Die einer solchen Eingrenzung zugrunde liegenden normativen Vorannahmen versperren jedoch den Blick auf die Vielfalt transnationaler Strukturen, Prozesse und Erfahrungen. So lassen sich etwa in der Geschichte der Sklaverei, der nationenübergreifenden Kooperation von Antisemiten und Rassisten oder von Umweltkatastrophen viele transnationale Themen finden, und nicht alle werden in empathischen Erzählungen von Widerstand und Subversion aufgehen.

Auch außerhalb der Postkolonialismus-Debatte hat der Begriff des Transnationalen oft normative Konnotationen, etwa wenn die neuen transnationalen Akteure als Motoren einer auf Konvergenz und Frieden hinauslaufenden Weltgesellschaft gesehen werden. Die transnationale Geschichte kann den künftigen Lauf der Dinge jedoch so wenig voraussagen wie jeder andere Ansatz; so sichere Vorschriften bietet sie nicht. Deswegen steht gerade die transnationale Geschichte vor der Herausforderung, sich von allen teleologischen Vorannahmen zu befreien. Plädiert wird hier deswegen für einen wertneutraler Begriff von Transnationalität – was allerdings nicht mit einer generellen Abstinenz von Werturteilen zu verwechseln ist.

Neben der normativen Begrenzung sollte man aber auch der inflationären Ausweitung des Begriffs einen Riegel vorschieben. Deswegen spricht viel dafür, die transnationale Geschichte epochal auf die späte Neuzeit, das heißt auf die Zeit seit dem 18. Jahrhundert, zu begrenzen, in der ein modernes Nationsverständnis strukturell und im Denken und Handeln der Akteure zu einem bedeutsamen Faktor wurde. Der analytische Mehrwert einer transnationalen Geschichte der griechischen Polis, der Tang-Dynastie oder der Karolingerzeit dürfte gering sein – wer hier trotzdem von Transnationalität spricht, sitzt entweder einer anachronistischen Modeformel auf oder führt durch die Hintertür ein eigentlich überwundenes, essentialisierendes Nationsverständnis ein. Als Begriff bietet sich dann ebenso wie in allen anderen Konstellationen, in denen die Nation keine prägende Rolle spielt, eher der des Transkulturellen an – ein Begriff, über den künftig mehr nachgedacht werden sollte. Zugleich folgt diese Eingrenzung nicht jener ebenso exklusiven wie präsentistischen Definition, wonach Transnationalia erst im Zuge der Globalisierung der letzten Jahrzehnte zu beobachten seien oder wonach zu deren Vorhandensein noch die explizite Reflexion der Akteure über Globalisierungsprozesse kommen müsse.

Die Definition der transnationalen Geschichte über ihr erkenntnisleitendes Interesse impliziert zugleich eine Aussage über ihren Gegenstand. Während sie epochal klar umrissen ist, ist sie sektoral nicht beschränkt. Thema transnationaler Studien können die über den Nationalstaat hinausreichenden Interaktionen, Verbindungen, Zirkulationen, Überschneidungen und Verflechtungen von Menschen, materiellen Gegenständen und Institutionen jeder Art bilden, sei es in Form von sozialen Praktiken, Symbolsystemen oder Artefakten.

Für solche Analysen ist auch künftig quellennahes Arbeiten unverzichtbar. Es ist für eine transnationale Geschichte vielleicht sogar noch wichtiger als für die konventionelle Nationalhistoriografie. Das hat mit der déformation professionelle der Geschichtswissenschaft der letzten 200 Jahre zu tun. Eine ihrer wesentlichen Konstruktionsleistungen lag gerade darin, die transnationale Dimension aus ihren Meistererzählungen auszuscheiden, da diese der vorwissenschaftlichen Annahme spezifischer Nationalgeschichten widersprach. Deswegen ist gerade die transnationale Geschichte dazu aufgerufen, ad fontes zu gehen.

Zugleich legt transnationale Geschichte einen besonderen Wert auf eine Zentralkategorie der Geschichtswissenschaft, die erst seit Kurzem wieder verstärkt beachtet wird: den Raum. Die Nationalgeschichtsschreibung fixierte und essentialisierte diese Kategorie zumeist im Sinne der vergleichsweise statischen, geografisch-politischen Größe der Territorialität des Nationalstaates. Flächen- und Sozialraum müssen aber nicht identisch sein; bekanntlich bilden sich zumeist noch nicht einmal Staat und Nation direkt aufeinander ab. Darüber hinaus zwingt man viele Problemzusammenhänge auf ein Prokrustesbett, wenn man ihre Untersuchung auf das Territorium eines (National-)Staates beschränkt. Denn die Reichweite seiner Steuerungsfähigkeit und die Reichweite von Problemen sind nur selten identisch.

Für die historische Forschung wird es schließlich besonders wichtig sein, verschiedene Grade transnationaler Interaktion und Verflechtung zu unterscheiden. Jene verkehrs- und kommunikationstechnischen Innovationen der letzten Jahrzehnte, die es zum Beispiel peruanischen Transmigranten erlauben, sich neben der Existenz in einem Bergdorf in den Anden gleichzeitig ein Leben im New Yorker Stadtteil Queens aufzubauen, stellen dann nur den Extremfall dar. Hier bilden sich dauerhafte, massive, strukturierte, gleichzeitige plurilokale Beziehungen über nationale Grenzen hinweg aus. Aber nicht immer werden die Verflechtungen derart massiv sein und nicht immer müssen sich Menschenmassen in Bewegung setzen, nicht in allen Fällen sind transnationale Interaktionen mehr als transitorische Phänomene. Insgesamt sollte man deswegen von einem Kontinuum transnationaler sozialer Räume unterschiedlicher Dauer und Intensität ausgehen. Es wäre zudem falsch, eine lineare, stetige Zunahme transnationaler Beziehungen in den letzten Jahrzehnten und Jahrhunderten anzunehmen – vielmehr gilt es, auch nach Prozessen der Ausdünnung oder sogar der Auflösung einmal geknüpfter Bindungen Ausschau zu halten.

Schließlich stellt sich die Frage nach möglichen Gegenkonzepten zur transnationalen Geschichte. In dieser Frage besteht bisher besonders wenig Einigkeit. Meines Erachtens ist es sinnvoll, die transnationale Geschichte nicht nur von der herkömmlichen Nationalgeschichte, sondern besonders auch von der internationalen Geschichte auf der einen und der Globalgeschichte auf der anderen Seite abzugrenzen. Internationale Geschichte hat sich demnach im Gegensatz zur transnationalen aus der Diplomatiegeschichte entwickelt und erneuert diese durch die Anreicherung mit sozial- und kulturhistorischen Ansätzen. Sie interessiert sich für die Außenbeziehungen von Nationen und Gesellschaften und untersucht zum Beispiel das internationale System als Ganzes oder außenpolitische Entscheidungsprozesse innerhalb von (National-)Staaten. Wenn sie so die konventionelle Diplomatiegeschichte zu modernisieren versucht, verharrt sie aber häufig in einem weitgehend statischen, monadenhaften Verständnis von Nation und Gesellschaft: Jeweils klar voneinander abgeschlossene (nationale) Entitäten treten demnach miteinander in Kontakt. Deswegen ist von der internationalen Geschichte zumeist kein Beitrag zur Überwindung der Nationalfixierung zu erwarten. In anderen Fällen, in denen sie die Einheit ihres Untersuchungsgegenstands kritisch hinterfragt und überschreitet, sind die Grenzen zwischen trans- und internationaler Geschichte dagegen fließend. Diese beiden Spielarten entprovinzialisierter Historiografie sollte man deswegen als einander ergänzende, teilweise überlappende und gelegentlich konvergierende Ansätze verstehen. Der Hauptunterschied zwischen internationaler und transnationaler Geschichte liegt demnach darin, dass Letztere von ihren Fragestellungen und der historiografischen Tradition, aus der sie sich speist, primär aus der Binnengeschichte kommt, diese nun aber durch neue Verknüpfungen zu durchbrechen und zu erweitern versucht und den politisch-sozialen Raum der Nationalgesellschaft nicht mehr unhinterfragt akzeptiert.

Im Unterschied zur trans- und zur internationalen Geschichte stellen Welt- und Globalgeschichte die Formen der Historiografie dar, in denen nationalstaatlich verfasste Entitäten keine tragende Rolle spielen. Vielmehr geht es hier häufig um Makrostrukturen, weltumspannende Triebkräfte und Konstellationen, in denen sich Handlungsspielräume und Wirkungen einzelner Subjekte nicht genau bestimmen lassen. Das gilt für die ältere Weltgeschichte, teilweise aber auch für die global history, die sich inzwischen als eigene Subdisziplin etabliert hat und schon wieder in eine ältere und eine „New Global History“ zu spalten beginnt. In der fehlenden Verbindung zur Nation, die sich auch in den Begriffen Welt- bzw. Globalgeschichte widerspiegelt, liegt die differencia specifica zur trans- und zur internationalen Geschichte. Aber auch die globale und die transnationale Geschichte können in engem Verhältnis zueinander stehen. Gelegentlich liefert die transnationale Perspektive die Geschichten, die sich unter einer globalen Geschichte bündeln lassen – auf eine Wasserträgerrolle reduzieren kann man sie aber nicht.

An dieser Differenzierung wird außerdem deutlich, dass transnationale Geschichte nicht auf eine Hegemonialstellung innerhalb der Geschichtswissenschaft abzielt. Sie erteilt zwar dem Primat der Nationalgeschichte eine klare Absage, will aber nicht selbst das neue „Paradigma“ darstellen, das alle bisherigen ablöst, sondern nur eine von mehreren gleichberechtigten Spielarten der Historiografie sein. Transnationale Geschichte folgt so einem antiparadigmatischen Impuls. Demnach ist es auch nicht sinnvoll, all jene Formen, die über die alte Nationalfixierung hinausführen, unter einem Dachbegriff zu sammeln. Dies würde eine zu einfache Gegenüberstellung mit der konventionellen Nationalgeschichtsschreibung darstellen, die diese auch noch stabilisierte. Denn am Anfang jedes Projekts muss die Frage stehen, ob ein auf den nationalhistorischen Gesichtskreis beschränkter Analyserahmen überhaupt angemessen ist bzw. welcher Zugang am meisten Gewinn verspricht.

Folgt man dieser Differenzierung und fragt zusammenfassend nach den Spezifika der transnationalen Geschichte, so ist dies nicht der untersuchte Akteur und auch nicht der moralische Gehalt des Handelns oder eine verbindliche Theorie. Vielmehr liegt der Hauptunterschied im jeweiligen Erkenntnisinteresse des Historikers bzw. der Historikerin. Um dies an einem Beispiel zu verdeutlichen: Die Vereinten Nationen sind per se weder Teil der transnationalen, der internationalen oder der Weltgeschichte. Wer sich für das Entstehen neuer übernationaler Akteure im 20. Jahrhundert interessiert, untersucht die UN im Kontext der internationalen Geschichte. Fragt man etwa nach den Rückwirkungen von UN-Bestimmungen auf eine bestimmte Gesellschaft, sei es im Bereich der Korruptionsbekämpfung oder des Embryonenschutzes, befindet man sich im Feld der transnationalen Geschichte; geht es schließlich um die Intensivierung globaler Kommunikation – wobei die UN als empirischer Fokus dienen könnte – betreibt man Weltgeschichte. Insgesamt entscheiden somit die Fragestellung und das erkenntnisleitende Interesse über den Zugang; die Ansicht hängt also jeweils von der Absicht ab. All dies macht die transnationale Geschichte zu einer konzeptionell ausgereiften Forschungsperspektive, nicht aber zu einer Theorie oder einem neuen Paradigma.

Aus Absicht und Stoff entsteht die Form. Auf dem Weg zu dieser spielen für die transnationale Geschichte verschiedene methodische Verfahren eine besondere Rolle, vor allem der Vergleich, die Perzeptions- und die Transferanalyse. Transnationale Geschichte ist mit diesen Verfahren nicht identisch, sondern bedient sich ihrer. Zugleich zeichnet sie sich dadurch aus, dass sie häufig auf die kontrollierte Kombination dieser Werkzeuge setzt – eine Herangehensweise, die etwa unter vielen deutschen Komparatisten vor zehn Jahren noch verpönt war. Dagegen werden nun komplexe Gegenstände immer häufiger mit einem ganzen Set von Verfahren bearbeitet – was nicht nur dem Gegenstand neue Seiten abgewinnt, sondern auch die Form der Darstellung vor neue Herausforderungen stellt.

Um zum Ausgangspunkt zurückzukehren: Transnationale Geschichte will kein Paradigma sein. Wie Lutz Raphael kürzlich gezeigt hat, laufen derartige Ansprüche in der Geschichtswissenschaft ohnehin zumeist ins Leere. Angesichts eines fachspezifischen Empirismus und eines eher lässigen Umgangs mit Theorie existieren heute mehrere Ansätze und Forschungsperspektiven nebeneinander. Transnationale Geschichte ist eine davon. Da auch ihre Reichweite begrenzt ist, ging es hier nicht nur darum, die Spezifität der transnationalen Geschichte zu verdeutlichen, sondern auch die Anknüpfungspunkte an andere Herangehensweisen, wie die klassische Nationalgeschichte, die internationale und die globale Geschichte. Zugleich verspricht die transnationale Geschichte, nicht zuletzt weil sie bisher eine marginale Stellung in der deutschen und in vielen anderen Historiografien eingenommen hat, heute besonders viele neue Erkenntnisse.

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02.02.2005
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