E. Hexelschneider u.a. (Hrsg.): In Moskau ein kleines Albertinum bauen

Titel
In Moskau ein kleines Albertinum bauen. wan Zwetajew und Georg Treu im Briefwechsel (1881-1913)


Herausgeber
Hexelschneider, Erhard; Baranov, Alexander; Burg, Tobias
Erschienen
Köln 2006: Böhlau Verlag
Anzahl Seiten
416 S.
Preis
€ 39,90
Rezensiert für 'Connections' und H-Soz-Kult von:
Bénédicte Savoy, Technische Universität Berlin

Was verbindet uns mit dem weltweit bekannten Staatlichen Museum der Bildenden Künste A.S. Puschkin in Moskau? Spontan würde man in Deutschland antworten: Beutekunst. Im Puschkin-Museum lagert ein Großteil der auf sowjetischen Befehl abtransportierten Kunstschätze aus Deutschland, darunter die Troja-Funde von Heinrich Schliemann und der Eberswalder Goldschatz. Vor drei Jahren, pünktlich zum 60. Jahrestag des Kriegsendes, eröffnete die prominente Institution eine kulturpolitisch sensationelle Schau mit einem nicht minder sensationellen Titel: „Archäologie des Krieges. Rückkehr aus dem Nichts“ (2005). Erstmals seit dem Krieg waren die von Legenden umwobenen Geheimdepots des Moskauer Museums für eine öffentliche Ausstellung geöffnet worden. Beutekunst wurde sichtbar. Von dieser „Rückkehr aus dem Nichts“ zeigte man sich in Deutschland allerdings wenig angetan. Die Ausstellung sei „ohne Wissen und Beteiligung der staatlichen Museen zu Berlin“ vorbereitet worden, beklagte zum Beispiel die Stiftung Preußischer Kulturbesitz. Und auch wenn im vergangenen Frühjahr eine zweite Beutekunst-Ausstellung im Puschkin-Museum stattfand – diesmal als Merowingerschau mit dem pikanten Untertitel „Europa ohne Grenzen“ verkleidet und als Meilenstein deutsch-russischer Museumskooperation propagiert - ist das Moskauer Museum in den letzten Jahren zum Symbol für das verfahrenste Kapitel der deutsch-russischen Beziehungen geworden, für die schmerzhaften Mühen des Dialogs. Es ist paradox. Denn eigentlich ist diese bedeutende russische Institution alleine schon als Gebäude die Museum gewordene Frucht eines deutsch-russischen, ja europäischen Dialogs wie er intensiver nicht hätte sein können. Davon zeugt der Briefwechsel des Moskauer Gründungsdirektors Iwan Zwetajew mit seinem Dresdner Kollegen Georg Treu, den Erhard Hexelschneider, Alexander Baranov und Tobias Burg jüngst herausgeben haben.

Die Geschichte, wie so oft, beginnt in Rom und auf Reisen. Iwan Zwetajew, junger Professor für Altphilologie in Moskau und (man hätte es nicht besser erfinden können) Verfasser einer Dissertation über die „Germania“ des Tacitus, fasst Ende der 1880er Jahre in Rom den zunächst bescheidenen Entschluss, die unansehnlich kleine Gipsabgusssammlung seiner Universität zu erweitern. Die akademischen „Lehr- und Hilfskabinette“ in München und Prag schweben ihm als Vorbild vor, er beginnt zu sammeln. In diesen Jahren allerdings boomt überall in Europa der Neubau bombastischer Museumshäuser, die an Pracht und Größe alles übertreffen, was das 19. Jahrhundert bis dahin hervorgebracht hat: Um 1890 werden innerhalb von wenigen Monaten das Prager Nationalmuseum am Wenzelsplatz, die zwei monumentalen, spiegelgleichen Häuser des naturhistorischen und des kunsthistorischen Museums in Wien, das Neue Museum der Schönen Künste in Brüssel, das Rijksmuseum in Amsterdam, das Dresdner Skulpturenmuseum im Albertinum – um nur einige zu nennen – als mächtige Einrichtungen mit modernster Ausstellungstechnik und nationalem Repräsentationsanspruch feierlich eröffnet. Im Frühjahr 1892 verbringt Zwetajew auf der Durchreise von Italien nach Russland einen ganzen Tag im gerade eröffneten Albertinum, eine der exquisitesten und größten Gipsabgusssammlungen Europas. Spätestens seit diesem Besuch in Dresden steht für den russischen Gelehrten fest: Auch Moskau soll ein großes öffentliches Museum für antike Kunst bekommen. Das Terrain in günstig. Monumentale Museen als Orte nationaler Affirmation gehören Ende des 19. Jahrhunderts zum Standartrepertoire einer jeden Welthauptstadt. Die Moskauer Öffentlichkeit lässt sich schnell für das Projekt einnehmen. Im März 1893 schreibt Zwetajew an Georg Treu, den Direktor des Albertinums: „Wie unvergleichlich ist Ihr Albertinum! Als ich in Moskau angekommen war, habe ich mit der Agitation in der hiesigen Gesellschaft begonnen, wie notwendig ein Museum der antiken Kunst an der Kaiserlichen Moskauer Universität sei. Diese Sache hat vielen gefallen und es begannen sogar schon Geldspenden einzugehen“. Diese optimistischen Zeilen an seinen Dresdner Kollegen schreibt Zwetajew in russischer Sprache. Er leitet damit einen zwanzig Jahre lang währenden, intensiven Briefwechsel ein, durchdrungen von einer ebenso obsessiven wie ganz praktischen Frage: Wie baue ich ein Museum aus dem Nichts? Aus Dresden antwortet sein Altersgenosse Treu, ein Deutschbalte mit Petersburger Hintergrund, stets auf Deutsch. Es ist ein großes Verdienst der vorliegenden, aus dem deutsch-russischen Forschungskolleg „Kunsttransfer“ der Staatlichen Kunstsammlungen in Dresden hervorgegangenen Publikation, diesen einzigartigen Briefwechsel zweisprachig zugänglich gemacht zu haben – ein vornehmes Plädoyer für die Sprachenvielfalt als Basis entspannter Kommunikation in Europa, gestern wie heute.

Wie also baue ich ein Museum? Geld, Raum, Licht, Wärme und eine Sammlung, das sind in Moskau die Voraussetzungen. Darüber hinaus, wie Zwetajew in einem frühen Brief an Treu vermerkt, „die Anteilnahme der europäischen Gelehrten“. Vor diesem Hintergrund geht Zwetajew nur eine einzige Frage rein „russisch“ an: die Finanzierungsfrage. Ein schwerreicher Fabrikant namens Juri Netschajew-Malzow übernimmt die gesamten Baukosten des Museums (!) und liefert damit ein eindrucksvolles Beispiel für die unerhörte Potenz des Mäzenatentums im zaristischen Russland vor und sogar noch einige Jahre nach den revolutionären Unruhen von 1905. Am Tag nach der offiziellen Eröffnung des Museums im Jahre 1912 berichtet Zwetajew mit spürbarer Genugtuung: „Glücklicherweise wurde das Museum ohne eine Kopeke Schulden eröffnet. Wir zahlen ganz Europa vollständig aus“. Während also das Finanzielle bis zur erfolgreichen Eröffnung des Museums eine rein russische Angelegenheit bleibt, werden alle anderen museumsrelevanten Fragen – zum Sammlungskonzept, zu Ankaufsstrategien, zu Rauminszenierungen und zum äußeren Erscheinungsbild des Museums von Anfang an auf dem Postweg zwischen Moskau und Dresden erörtert, in gegenseitigem Austausch und regem Dialog.

„Sehr geehrter Jegor Jegorowitch...“ Unermüdlich schreibt Zwetajew an seinen Kollegen nach Dresden, er fragt nach den besten Adressen in Europa um Gipse und galvanoplastische Reproduktionen von Skulpturen zu bestellen, nach geeigneten Raumhöhen und Raumbreiten für sein Museum, nach Fensterfronten und Oberlichtern, nach Deckenformen und Marmorarten, nach Fußböden, Säulenordnungen, Postamenten, nach „Vorkehrungen, die Abgüsse vor Staub und Verschmutzung zu schützen“ und dergleichen mehr. Und Woche für Woche, Jahr für Jahr, beantwortet Treu diese Moskauer Briefe, zwei Jahrzehnte lang, umfangreich und präzise. Er warnt zum Beispiel vor den Abgüssen der Ecole des Beaux-Arts in Paris („wir haben die allerübelsten Erfahrungen gemacht“), empfiehlt bewegliche Querwände und Holzverkleidungen statt Mauerwerk und Stuck in den Museumssälen, um jederzeit Raumveränderungen zu ermöglichen, überhaupt plädiert er für Beweglichkeit und Behaglichkeit im Museum. Seine Ratschläge reichen bis ins kleinste Details: „Vor die Thüren würde ich keine modernen Sphingen, sondern Nachbildungen altägyptischer Sphingen oder noch besser Kopien der beiden herrlichen ägyptischen Löwen aus dem Vatikan hinlegen. Das wäre die beste Einleitung zu Ihrer Abgusssammlung“. Ein sichtbares Symbol für den deutsch-russischen, ja gesamteuropäischen Ursprung des Moskauer Museums liefert schließlich der prunkvolle Fries, der einige Monate vor Fertigstellung des Gebäudes in zehn Meter Höhe an der Außenkolonnade des Museums angebracht wird: ein Relief, frei entworfen nach dem Parthenonfries aus dem Britisch Museum, mit Hilfe von Abgüssen des Albertinums zusammengestellt und in Tiroler Marmor von einem deutschen Künstler in Dresden gehauen. Mit anderen Worten: Athen in Moskau via London, Sachsen und den Vinschgau – plastischer lässt sich das Transnationale an dieser nationalen Museumsschöpfung nicht schildern.

Im architektonischen Herzen des Moskauer Museums plant Zwetajew eine gesamtrussische Ruhmeshalle. Genau diese Spannung zwischen nationalen Ansprüchen am Museum und transnationalen Wegen der Museumsgestaltung macht den vorzüglich kommentierten Briefwechsel zwischen Zwetajew und Treu so spannend. Hier erleben wir nämlich Tag für Tag, wie zwischen Dresden und Moskau Raumfiktionen und museale Modelle entstehen, wie sie zirkulieren, angenommen und adaptiert werden, wie sie Maßstäbe setzen – oder auch nicht, weitab von großen Theorien und staatlichem Museumspathos. Vom Albertinum lässt sich Zwetajew exakte Fotografien der Raumsituationen schicken, er fordert wissenschaftliche Publikationen zu antiken Raumdekore ein, lässt Dutzende von Abgüssen für seine Sammlung anfertigen. Daraufhin entstehen einige seiner Ausstellungssäle in Moskau in zwillingshafter Anlehnung zu den Räumen des Dresdener Museums. Und Zwetajew wird nicht müde, sein zuckerweißes Riesenhaus aus Uralmarmor als „kleines Albertinum“ und dankbarer „Sohn“ der Dresdner Institution zu bezeichnen.

Dass solche Formeln allein der Dankbarkeit geschuldet sind und das Moskauer Museum mitnichten nur ein „kleines Albertinum“ ist, kommt im Briefwechsel zwischen den Zeilen sehr wohl zum Ausdruck. Es wird schnell deutlich – und das bestätigen ältere Publikationen, etwa die Korrespondenz zwischen Zwetajew und seinem Architekten Roman Klein (A. A. Demskaja und L. M. Smirnova, Hg., Istorija sozdanija Muzeja v perepiske professora I. V. Cvetaeva s architektorom R. I. Klejnom i drugich dokumentach (1896-1912), Moskau 1977) , dass der Moskauer Direktor nicht nur mit Dresden, sondern mit halb Europa in ähnlichem fachlichem Kontakt stand, dass seine Korrespondenten in den Museen von Wien, Paris, London, Berlin und Budapest saßen. Zwetajew berichtet von Studienreisen, die ihn und seinen Architekt Roman Klein in die wichtigsten Museen Europas führen, er erzählt von wohlwollenden Ratschlägen aus Berlin, von starken Impulsen aus Florenz und guten Museumskatalogen aus Amerika: „Die Amerikaner, schreibt er voller Bewunderung im Frühjahr 1893, sind auch in dieser Beziehung Menschen mit großem Schwung. Die als die allermächtigsten der Welt holst Du nicht ein!“. Museumsbau um 1900 ist allerdings noch eine sehr europäische Angelegenheit. Für jeden angedachten Raum in seinem Museum besorgt Zwetajew präzise Informationen über entsprechende Räume in den großen westeuropäischen Sammlungen, er studiert die Vorlagen genau und übernimmt explizit, oft ohne Veränderung, ganze Raumordnungen, Einrichtungsideen und Austellungskonzepte aus dem Ausland, die er dann in Moskau zu seltsamen Synthesen vereinigt: Im ägyptischen Saal seines Museums sind die Säulen genau die gleichen wie im ägyptischen Saal des kunsthistorischen Museums in Wien; der Sternenhimmel kommt aus Berlin (Neues Museum); die Stellwände aus dem Louvre. Der „Saal der Ägineten“ ist ein Mix aus München (Glyptothek) und Straßburg (Gipssammlung der Universität). Für seinen assyrischen Saal sieht er Kopien der Decken des assyrischen Saals im Louvre vor. Und als es darum geht, den „Saal der altchristlichen Kunst und des Mittelalters“ zu gestalten, verbringt Zwetajew fünf Wochen in der ersten Etage des kurz zuvor eröffneten Kaiser-Friedrich-Museums (heute Bodemuseum) in Berlin, um Bodes Einrichtung der mittelalterlichen Abteilung zu studieren. Etc. etc. Man übertreibt nicht, wenn man im Museum an der Wolochonka Strasse eine der aufregendesten – und verkanntesten Synthese moderner Museumsinszenierungen in Europa um 1900 sieht.

Das ist aber nicht alles. Im Grunde wird die seltsame Poesie dieser imposanten Institution erst richtig deutlich, wenn man die Säle des Museums selber durchschreitet, und zwar heute noch. Da betritt man den sogenannten „griechischen Hof“, einen riesigen glasüberdachten Saal mit Terrassenanlagen und Aussichtspunkten, in dem surrealistisch beieinander gerückte antike Architekturfragmente in tadellosem weißen Gips und merkwürdigen Perspektiven aufgestellt sind - monumentale Außenräume in einem geschlossenen Museumsraum: eine Ecke des Parthenon in Originalgröße (um 1900 existierte diese Ecke sonst nur in Paris und in keinem anderen Museum der Welt), der Korenhallenportikus des ionischen Erechteions, das korinthische Lysikratosdenkmal, ein Stierkopfkapitell aus Persepolis, „alle chefs d’oeuvre der griechischen Skulptur und andere sperrige Sachen“, wie Zwetajew es einmal formulierte. Ein paar Schritte weiter präsentiert sich eine seltsame Nachbildung des Bargello-Hofes in Florenz, eins zu eins und doch vereinfacht, die Wände mit Sandsteinplatten verkleidet wegen der Gefahr, so Zwetajew, einer „Verschmutzung durch Studentenstiefel“. Das ist der sogenannte „Christliche Hof“, das architektonische Pendant zum griechischen. Hier steht der David von Michelangelo vor der Goldenen Pforte des Freiberger Doms in Sachsen, das Reiterstandbild des Colleoni unweit vom Chorgestühl aus dem Ulmer Dom (auch ein Unikat in der europäischen Museumslandschaft um 1900). Alles aus Gips, alles Fake.

Im Jahre seiner Eröffnung 1912 war das Museum der schönen Künste in Moskau also weit, weit mehr als eine umfangreiche und gut sortierte Abgusssammlung im Sinne des edlen Albertinums. Es stand in ideeller Nähe zu den fortschrittlichsten Architekturmuseen der Welt, wie dem im Herbst 2007 wieder eröffneten Musée des Monuments français von Viollet-le-Duc im Pariser Trocadéro, das seit 1882 gotische Kirchenportale, Fresken und Kapitelle – ausschließlich französisches patrimoine – originalgroß aber in Gips erlebbar machte. Konzeptuell wies das Moskauer Museum darüber hinaus auf die sensationellen und nicht unproblematischen Museumsinszenierungen des frühen 20. Jahrhunderts hin, auf das Pergamonmuseum in Berlin etwa und seine kühnen Rekonstruktionen des Markttors von Milet, der Monumentalaltars von Pergamon, der Prozessionsstrasse und des Ischtar-Tors von Babylon, diesmal allerdings nicht in Gips sondern original antik. Vor diesem Hintergrund wird der historische Wert des Briefwechsels zwischen Treu und Zwetajew besonders greifbar. Seine Veröffentlichung ist nicht nur die neueste Frucht deutsch-russischer Kulturtransferforschung, nicht nur ein erneuter Beweis für die Vorzüge einer transnationalen, sich Austauschdynamiken und Verflechtungsmechanismen widmende Geschichtsschreibung. Er gehört darüber hinaus zu den interessantesten museumsgeschichtlichen Quellen, die in den letzten Jahren überhaupt zutage gefördert wurden. Dieser Briefwechsel erzählt nicht zuletzt die Geschichte einer ausgestorbenen Museumsgattung, die der Abgusssammlung und Kopienmuseen, einer Gattung, deren mächtigste Förderer schon um 1900 ahnten, dass es um ihre Zukunft im 20. Jh. schlecht bestellt sein würde. So prognostizierte Zwetajew mit visionärer Melancholie bereits 1903 in einem Brief an seinen Architekten: „Die Abgüsse werden früher oder später zerstört, und eine der kommenden Generationen wird dazu gezwungen sein, alles wie alten und untauglichen Trödel wegzuwerfen, alles, was jetzt mit solchen Mühen und Kosten erworben wird“. Heute, hundert Jahre später, gibt es hier und da erfreuliche Anzeichen für ein Wiedererwachen der alten Zuneigung zu Kopienmuseen und Abgüssen. Und das ist gut so.

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08.02.2008
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