B. Lüthi: Invading Bodies

Title
Invading Bodies. Medizin und Immigration in den USA 1880-1920


Author(s)
Lüthi, Barbara
Published
Frankfurt am Main 2009: Campus Verlag
Extent
397 S.
Price
€ 45,00
Reviewed for Connections. A Journal for Historians and Area Specialists by
Melanie Henne, Lehrbereich Nordamerikanische Geschichte, Universität Erfurt

Barbara Lüthis Arbeit „Invading Bodies: Medizin und Immigration in den USA, 1880-1920“ fokussiert auf einen neuralgischen Zeitraum für die Migrationsforschung in den USA. So stieg die Zahl der so genannten „New Immigrants“ aus Süd- und Osteuropa in diesen Jahren stark an, woraus Zeitgenoss/innen vielfach ein Bedrohungsszenario ableiteten und die „Reinheit“ der US-amerikanischen Nation gefährdet sahen, wie Lüthi argumentiert. Lüthi zeigt in beeindruckender Weise die Verschränkung von rassistischen und medizinischen Diskursen in Bezug auf eine Klassifizierung von Immigrant/innen und damit verknüpfte Praktiken der Grenzkontrollen sowie der Einwanderergesetzgebung. Sie verfolgt den Anspruch, mit ihrer Arbeit „einen Beitrag zur Frage, wie die staatliche Politik im Prozess Migration – gerade auch über eine politische Somatik – direkt in das Leben der Akteure intervenierte“ zu leisten (S. 17). Zudem verschränkt sie diese Perspektive mit der Untersuchung des zeitgenössischen „nationalen Identitätsdiskurses“ (S. 17) in den USA. Dabei liegt der Fokus der Studie auf Ellis Island im Hafen von New York City als Tor in die USA, wo Immigrant/innen bei ihrer Ankunft medizinisch untersucht und gegebenenfalls unter Quarantäne gestellt oder ausgewiesen wurden. Diese medizinischen Untersuchungspraktiken sowie zeitgenössische Vorstellungen und Klassifizierungen von Krankheiten, als auch deren Bedeutungen für die Wahrnehmung von Immigrant/innen stehen im Mittelpunkt der Studie.

Nach einer körpergeschichtlich und kulturwissenschaftlich orientierten Einleitung ruht im ersten analytischen Teil der Fokus auf dem populärwissenschaftlichen Diskurs zu Immigrant/innen und deren Stigmatisierung als Gefahrenträger. Dabei nimmt Lüthi die auf Krankheiten rekurrierende Metaphorik in den Blick. Als Quellen dienen hier zahlreiche populärwissenschaftliche Veröffentlichungen und auch Zeitungsartikel, wobei Lüthi insbesondere auch die narrativen Strategien sowie die „autoritativen Wahrheitsansprüche“ (S. 52) quellenkritisch untersucht. Besondere Berücksichtigung finden die Veröffentlichungen des „United States Public Health Service“ (USPHS), die auch von „medical officers“ verfasst wurden, die in direktem Kontakt mit den Immigrant/innen auf Ellis Island standen und an deren medizinischen Untersuchungen beteiligt waren.

Lüthi arbeitet überzeugend heraus, wie Vorstellungen von der US-amerikanischen Nation eng mit Körperbezügen verknüpft waren. Den Körper der Nation galt es „rein“ zu halten, wobei Immigrant/innen vor allem aus Süd- und Osteuropa zu Beginn des 20. Jahrhunderts als „Krankheitsherde“ beschrieben wurden, die eine Bedrohung für den US-amerikanischen Volkskörper darstellten. Gerade die Massenimmigration so genannter „New Immigrants“ ab den 1880er-Jahren bis zur migrationbeschränkenden Gesetzgebung 1921/1924 wurde als Gefahr für die „Homogenisierungs- und Reinheitsvorstellungen“ (S. 45) in Bezug auf die US-amerikanische Nation stilisiert. Dabei waren die Vorstellungen von einer Verunreinigung der US-amerikanischen Nation vielfach von rassistisch aufgeladenem Gedankengut bestimmt, das „New Immigrants“ als Angehörige minderwertiger „Rassen“ kategorisierte.

Im zweiten Kapitel stehen als Ergänzung zu den populärwissenschaftlichen diskursiven Klassifizierungen der Immigrant/innen die medizinischen Untersuchungen bei ihrer Ankunft auf Ellis Island im Mittelpunkt, wobei auch das Gesundheitswesen in den USA und insbesondere der „USPHS“ näher beleuchtet werden. Dabei begreift Lüthi die medizinischen Untersuchungen auf Ellis Island als Teil von internationalen Kontrollbestrebungen von Migration. Bei der Analyse der medizinischen Untersuchungen berücksichtigt sie sowohl die Perspektive der „medical officers“, der Immigrant/innen als auch das räumliche Setting, wobei ein besonderes Augenmerk auf den Praktiken der Klassifizierung von Krankheiten und den damit verbundenen Ausweisungen von Immigrant/innen liegt. Lüthi versteht dabei die medizinischen Klassifizierungen der Immigrant/innen auf Ellis Island auch als normalisierende Praktiken, die darauf zielten, die Bevölkerung durch Selektion zu regulieren.

Im dritten Kapitel zeigt Lüthi exemplarisch die Verschränkung von „rassischen“ Diskursen zu jüdischen Immigrant/innen aus Osteuropa mit medizinischen Praktiken der Kategorisierung und Pathologisierung jüdischer Körper. Gerade die Differenzmarkierung jüdischer Körper im Kontext von US-amerikanischem Antisemitismus findet hier besondere Berücksichtigung. Stereotype Bilder von jüdischen Immigrant/innen fokussieren insbesondere auf deren vermeintlichen Disposition zu Geistes- und Nervenkrankheiten. Auch die Konstruktion einer jüdischen „Rasse“ beispielsweise durch Schädelvermessung, ihrer vermeintlichen Degeneration sowie die positive Aneignung des jüdischen Rassebegriffs durch jüdische Gelehrte findet in diesem Kontext Beachtung.

Im letzten Kapitel zu pathologisierten Körpern greift Lüthi exemplarisch eine schlechte Körperhaltung („poor physique“) und das Trachom als zwei häufig diagnostizierte Krankheitsfälle beziehungsweise körperliche Defekte auf. Diese werden umfassend analysiert, wobei Lüthi sowohl die vielschichtigen Bedeutungen, mit denen sie belegt waren, als auch Praktiken der medizinischen Diagnose differenziert darstellt. Hervorzuheben ist in diesem Kapitel die Auswahl des Quellenmaterials: Anhand von ausgewählten Personenakten des „Immigration and Naturalization Services“ zeichnet Lüthi einzelne Fälle nach, wo die Ausweisung der Immigrant/innen zur Verhandlung stand. Die Untersuchung exemplarischer Fälle ermöglicht es Lüthi in überzeugender Weise, die Verschränkung von normativem Wissen, Urteilen der Immigrationsbehörden sowie Interventionen von Migrantenvereinen als komplexe Aushandlungsprozesse innerhalb eines Machtgefüges aufzuzeigen.

Einschränkend sei erwähnt, dass die Lesbarkeit der Studie bisweilen darunter leidet, dass sehr viele Begriffe kursiv gesetzt sind. Zudem hätte eine stärker ausgeprägte Leser/innenführung insbesondere auch bei den Übergängen der einzelnen Unterkapitel das Lesevergnügen optimiert und den Zugang zu der sehr differenzierten und dichten historischen Studie erleichtert. Diese Anmerkungen beeinträchtigen jedoch nicht den Eindruck, dass Lüthis Arbeit gerade auch durch ihre vielschichtigen Perspektiven beeindruckt. Sie verbleibt nicht bei der Untersuchung von (populär)wissenschaftlichen Diskursen zu Immigrant/innen und Krankheiten, sondern berücksichtigt auch die klassifizierenden Praktiken der „medical officers“ sowie das institutionelle Setting und die Funktion staatlicher Behörden. Dabei lotet sie jedoch auch immer wieder die diskursiv konstituierten Handlungsmöglichkeiten ihrer historischen Akteur/innen aus, wobei sie trotz schwieriger Quellenlage auch die Perspektive der Immigrant/innen immer wieder einfließen lässt.

Lüthis Arbeit ist gerade durch ihre machtanalytisch informierte körpergeschichtliche Perspektive auf Migration sehr innovativ und inspirierend. Dabei bietet die besprochene Publikation wichtige Erkenntnisse nicht nur zur Migrationsgeschichte in den USA, sondern zeigt zudem auf, wie die medizinische Professionalisierung und die daraus resultierende Medikalisierung der Grenzkontrollen daran beteiligt war, eine Gesellschaftsordnung in den USA zu (re-)produzieren, die insbesondere entlang der Kategorie „Rasse“ strukturiert wurde.

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11.03.2010
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