M. Gehler u.a. (Hrsg.): Grenzen in Europa

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Title
Grenzen in Europa.


Editor(s)
Gehler, Michael; Pudlat, Andreas
Series
Historische Europastudien. Geschichte in Erfahrung, Gegenwart und Zukunft 2
Extent
378 S.
Price
€ 39,80
Rezensiert für 'Connections' und H-Soz-Kult von:
Steffi Marung, Centre for Area Studies, Universität Leipzig

Die bereits seit über einer Dekade zurückliegende Forderung von Michiel Baud und Willem van Schendel nach einer „comparative history of borderlands“ 1 hat in der gegenwärtigen historischen, geographischen und sozialwissenschaftlichen Grenzforschung nichts an Aktualität eingebüßt. Vielfach wird die Lösung für dieses Problem gesucht in gemeinschaftlichen Forschungsprojekten, häufig netzwerkartig organisiert 2, oder – in der Regel damit in Verbindung stehend – in kollektiven Publikationsvorhaben. Diese stellen sowohl Leser als auch Herausgeber vor eine anspruchsvolle Aufgabe. Michael Gehler, Professor am Institut für Geschichte der Universität Hildesheim, und Andreas Pudlat, wissenschaftlicher Mitarbeiter ebendort, haben mit dem vorliegenden Sammelband die Herausforderung angenommen. Sie beschreiten damit auch ein durch den Nexus von „Grenzen“ und „Europa“ gekennzeichnetes Feld, das zu einem der wichtigsten Themen der jüngeren Europageschichtsschreibung geworden ist. Sie widmen sich allerdings nicht den wahlweise kakophonischen oder salomonischen Antworten auf die Frage nach den Grenzen von Europa, sondern vielmehr der Historizität und Vielfalt von Grenzen auf diesem Kontinent. Darüber hinaus unterstreichen die Herausgeber, „dass territoriale Grenzen alles andere als obsolet sind“ (Vorwort der Herausgeber, S. 7), und positionieren sich mithin in der Diskussion um die zentrale Dynamike von historischen Globalisierungsprozessen, die als Dialektik von De- und Re-Territorialisierung beschrieben worden sind 3.

In vier Hauptabschnitte gegliedert führt der Band historiographische, juristische und soziologische Perspektiven zusammen. Im ersten Teil „Grenzen im historischen und identitätsspezifischen Kontext“ schlägt zunächst Claudia Bruns einen weiten Bogen, um einen Überblick über den Wandel kartographischer und geographischer Europabilder seit der Antike über die Frühe Neuzeit bis in das durch Nationalisierung und Territorialisierung geprägte 19. und frühe 20. Jahrhundert zu geben. Ihr zentrales Augenmerk liegt dabei auf der Verflochtenheit von Raumkonstruktionen und Identifizierungsprozessen, wobei zur Abgrenzung und Vereindeutigung des „Europäischen“ mythologische, rassische, religiöse und Geschlechtervorstellungen mobilisiert wurden. Standen im Mittelalter vor allem religiöse und kartographisch-symbolische Vorstellungen in enger Verbindung, waren erst durch die Fahrten europäischer Eroberer und Entdecker in der frühen Neuzeit und dann durch die neue Qualität des kolonialen Ausgreifens auf „Außereuropa“ im 18. und 19. Jahrhundert rassische, zivilisationsmissionarische und auch Geschlechterbilder in der Abgrenzung des „europäischen“ vom anderen „dominant“ geworden. Dies habe sich im 19. Jahrhundert parallel zur zunehmend differenzierten und nationalisierten Binnengliederung des Kontinents entwickelt.

Der zweite Beitrag dieses Abschnitts wendet sich der Frage des Bandes nach den Grenzen in Europa im eigentlichen Sinne zu. Andrea Komlosy nimmt, den böhmischen und österreichischen Teilraum vergleichend, die Herausbildung von territorialen Binnengliederungen des Habsburgerreiches von der zweiten Hälfte des 18. bis zur ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts in den Blick 4. Präzise erläutert die Autorin, wie bei der administrativen Erfassung und territorialen Durchdringung des Reichgebietes zentralstaatliche Interessen sich sowohl gegen landesfürstliche Beharrungskräfte als auch gegen gemeindliche Selbstverwaltungstraditionen durchsetzen mussten. Dabei entstanden vor allem im frühen 19. Jahrhundert vielfach konkurrierende und sich überlappende politische Einheiten und Räume sozialer und kultureller Identifikation. In diesem Prozess wurden nicht nur administrative Aufgaben wie Rechtsprechung, Konskription und Armenfürsorge restrukturiert, sondern auch in die binnenwirtschaftliche Gliederung des Reiches sowie in die Mobilitätsrechte der Bewohner durch die Schaffung eines komplexen Pass- und Meldewesens eingegriffen. Damit leistet Komlosys Untersuchung einen wichtigen Beitrag zur Geschichte von Territorialisierungsregimen und verweist gleichzeitig auf die Brüche, Verflechtungen und Kontinuitäten des Übergangs von imperialen zu nationalstaatlichen Formen der politischen Verräumlichung, die allzu häufig in einem Modernisierungsnarrativ vereinfacht werden.

Diesen zwei umfangreichen Beiträgen folgen im zweiten Teil „Raum- und kulturspezifische Grenzfragen“ kürzere Analysen, die sich europäischen Teilräumen zuwenden. Miloš Řezník verweist auf das problematische Verhältnis zwischen politischen und ethnisch-kulturellen Grenzen im Zuge der Nationalstaatsbildung in Ostmitteleuropa im 19. und 20. Jahrhundert, spricht aber der prominenten Vorstellung von der besonderen Instabilität von Grenzen in diesem Raum nur eingeschränkte Gültigkeit zu. Im und nach dem 1. Weltkrieg habe es nur wenige Beispiele für die Anpassung historischer und kultureller an politische, nationalstaatliche Grenzen gegeben, vielmehr sei der multiethnische Nationalstaat nicht nur in Ostmitteleuropa der Normalfall gewesen. Im Zusammenhang mit dem 2. Weltkrieg und nicht zuletzt mit der nationalstaatlichen Expansions- und Vernichtungspolitik jedoch habe sich die Logik der „Nationalisierung territorialer Grenzen – oder aber die Territorialisierung nationaler Grenzen“ (S. 126), also jene der Deckungsgleichheit ethnischer und politischer Räume durchgesetzt, vielfach verbunden mit gewaltsamen Bevölkerungsverschiebungen und massiven territorialen Veränderungen. Damit relativiert Řezník die Bedeutung des 1. Weltkrieges als Epochengrenze für die Region. Im Ost-West-Konflikt sei die Frage nach der Gültigkeit dieser Grenzen und damit verbundene politische Forderungen eingefroren worden. Nach der Öffnung der Berliner Mauer – jener Grenze, die zum zentralen Symbol des Kalten Krieges geworden war – seien nun die Denationalisierung von Grenzen unter den Vorzeichen europäischer Integrationspolitik und ihre Renationalisierung als Kristalliationspunkte politischer, ethnischer und kultureller Konflikte paradox miteinander verflochten.

Im gleichen Teil widmet sich Anton Sterbling einem weiteren durch hochgradige kulturelle Differenzierung und Verflechtung gekennzeichneten Raum, dem Banat, und schlägt den Begriff der „Regionalkultur“ als heuristischen Zugang für die Untersuchung von Grenzregionen vor. Michael Gehler stellt den Brenner als Erinnerungs- und Erfahrungsort für die österreichische und italienische Nationalbewegungen vor und verfolgt dessen Transformation von einer Kulturgrenze vor dem 1. Weltkrieg zum Objekt und Ort nationaler Auseinandersetzungen in und nach den beiden Weltkriegen bis hin zur Herausbildung einer spezifischen südtiroler Identität und der Europäisierung der Südtiroler Frage als Strategie der Öffnung – u.a. mit der Einrichtung der AREG ALP und Überlegungen für eine „Europaregion Tirol“. Spätestens jedoch mit dem EU-Beitritt Österreichs und der Übernahme des Schengen-Besitzstandes, so Gehler, verblasse der Brenner als europäischer Gedächtnisort.

Der dritte Teil des Bandes „Die Aufarbeitung der deutsch-deutschen Grenze“ wendet sich einem besonderen Fall zu, dessen Bedeutung die Grenzen Europas überschritt. Hierbei geht es vor allem um die Aufarbeitung der Geschichte der innerdeutschen Grenze durch das Archiv der Zentralen Erfassungsstelle Salzgitter, die von 1961 bis 1989 „staatliche Unrechthandlungen der DDR“ (S. 185) systematisch registrierte. Zunächst gibt Hans-Jürgen Grasemann, ehemaliger Leiter der Einrichtung, einen Überblick über die sich aus seiner Sicht als Erfolgsgeschichte darstellende Entwicklung der Arbeit der Erfassungsstelle. An diesen Beitrag schließt ein von Imke Scharlemann geführtes Interview mit Grasemann an. Die Beweggründe für diese etwas ungewöhnliche Kombination zwischen Beitrag und Interview bleiben ebenso undeutlich wie die Frage unbeantwortet, warum keine weiteren Beiträge zur Geschichte der innerdeutschen Grenze aufgenommen wurden.

Im vierten und letzten Teil „Grenzen in historischer, aktueller und ästhetischer Dimension“ gehen drei Beiträge der jüngsten Problematik europäischer Grenzen im Zusammenhang mit der Herausbildung des Schengenregimes nach. Gerhard Kunnert gibt aus juristischer Sicht einen fundierten, zur Einführung in die Problematik empfohlenen Überblick über die Entwicklung des in der in der öffentlichen Diskussion als „Schengen“ apostrophierten Komplexes von den ersten Überlegungen zu einer Passunion in den 1970er Jahren über die Verabschiedung des Schengener Übereinkommens bis hin zur Einrichtung einer europäischen Grenzschutzagentur (FRONTEX) im Jahr 2004. Andreas Pudlat schließt an diese Problematik an und unterzieht die Institutionalisierung eines europäischen Grenzschutzes, insbesondere deren Auswirkungen auf die Praxis nationaler Polizeibehörden einer kritischen Analyse. Im letzten Beitrag stellen Christian Jostmann und Bernd Ctortecka ihre Ausstellung „Nach Schengen. Architektur und Ästhetik der Grenze“ vor, in der sie die verlassenen Grenzanlagen nach der Abschaffung der Schengenbinnengrenzen fotografisch dokumentierten.

In der Zusammenschau entwirft der Band ein differenziertes Bild der Geschichte der europäischen Grenzen, wobei die Entwicklung seit dem späten 18. Jahrhundert als zentral erscheint: von der Herausbildung zentral- und später nationalstaatlicher Territorialisierung, über die gewaltsamen Grenzherstellungen in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts bis hin zur komplexen Geschichte europäischer Grenzregime unter den Vorzeichen der EU-Integration. Außerdem verweist er auf die Bedeutung europäischer Teilräume für eine solche Differenzierung – jenseits einer vorschnellen Europäisierung von Grenzerzählungen – und integriert mit den Beiträgen über das Habsburgerreich, Ostmittel- und Südosteuropa für eine solche Untersuchung wichtige europäische Regionen, die mit Blick auf die umfangreiche Forschung um weitere Fallbeispiele aus anderen Teilen des Kontinents ergänzt werden können. Der weiteren Vergleichsarbeit in der Grenzforschung haben die Herausgeber damit eine Fülle neuen Materials zur Verfügung gestellt.

Anmerkungen:
1 Michiel Baud / Willem van Schendel, Toward a comparative history of borderlands, in: Journal of World History 8 (1997) 2, S. 211-242.
2 Wie beispielsweise die in den aus EU-Mitteln geförderten Großprojekten EUDIMENSIONS oder EXLINEA, aber auch im Netzwerk „Border Regions in Transition“ (BRIT).
3 Neill Brenner, Beyond state-centrism? Space, territorialty and geographical scale in globalization studies, in: Theory and Society 28 (1999) 2, S. 39-78. Vgl. auch Katja Naumann / Matthias Middell, Global history and the spatial turn. From the impact of area studies to the study of critical junctures of globalization, in: Journal of Global History 5 (2010) 1, S. 149–170.
4 vgl. dazu ausführlicher die Habilitationsschrift von Andrea Komlosy: Grenzen und ungleiche regionale Entwicklung. Binnenmarkt und Migration in der Habsburgermonarchie, Wien 2003.

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10.06.2011
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Diese Rezension entstand im Rahmen des Fachforums 'Connections'. http://www.connections.clio-online.net/
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