S. Lampadius u.a. (Hrsg.): Under Western and Eastern Eyes

Cover
Titel
Under Western and Eastern Eyes. Ost und West in der Reiseliteratur des 20. Jahrhunderts


Herausgeber
Lampadius, Stefan; Schenkel, Elmar
Erschienen
Anzahl Seiten
278 S.
Preis
€ 33,00
Rezensiert für Connections. A Journal for Historians and Area Specialists von
Eva Oberloskamp, Institut für Zeitgeschichte, München - Berlin

Der Sammelband „Under Western and Eastern Eyes“ ist aus einer Konferenz hervorgegangen, die im Oktober 2010 an der Universität Leipzig stattfand. Aus literaturwissenschaftlicher Perspektive untersuchen die Autorinnen und Autoren die wechselseitigen Perzeptionen des „Ostens“ und des „Westens“ in der Reiseliteratur des 20. Jahrhunderts – die „Dynamik von Selbst- und Fremdbeobachtungen“ (S. 9). Das Hauptaugenmerk gilt dabei Texten, die auf tatsächlich stattgefundenen Reisen basieren. Angestrebt wird auch eine komparatistische Herangehensweise, soll doch „das gegenseitige Sehen und Interpretieren von Kulturen“ (S. 10) vergleichend nebeneinandergestellt werden. Die Beiträge stammen von einem internationalen Autorenkreis aus Russland, Großbritannien, Frankreich und Deutschland; sie sind teils in deutscher, teils in englischer Sprache verfasst. Das Buch ist in drei chronologische Abschnitte gegliedert: „Vom Zarenreich zum Zweiten Weltkrieg (1890er–1945)“, „Der Kalte Krieg (1946–1989)“ und „Nach dem Mauerfall (1990–2010)“. Die meisten Aufsätze beschäftigen sich jeweils mit einzelnen Persönlichkeiten, teilweise auch nur mit einem einzigen Text.

Der erste und umfangreichste Abschnitt des Bandes, der die Zeit bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs behandelt, umfasst sieben Aufsätze: Elmar Schenkel analysiert das Russlandbild des amerikanischen Abenteurers und Journalisten Thomas Stevens, der 1890 Russland von Moskau bis zur Krim auf einem Pferd reitend durchquerte und hierüber in der Zeitung „New York World“ berichtete. Schenkels Untersuchung bietet auch instruktive Einsichten in die medialen Kontexte derartig vermarkteter Abenteuerreisen gegen Ende des 19. Jahrhunderts. Die revolutionären Umwälzungen der Jahre 1917–1919 sind das Thema des Reiseberichts „Der rote Garten“ des jungen dänischen Diplomaten Henning Kehler, den Elena Shevchenko in ihrem Beitrag behandelt. Marina Tsvetkova beschäftigt sich mit einem östlichen Blick nach Westen, nämlich mit den romantisierenden, lange Zeit überaus positiven Vorstellungen der russischen Dichterin Marina Tsvetaeva über Deutschland. Sophia Manns-Süßbrich vergleicht die Amerikatexte der beiden russischen Dichter Sergej Esenin und Vladimir Majakovskij, die in der ersten Hälfte der 1920er-Jahre die USA bereisten. Sie qualifiziert diese als „Initiationstexte“, welche vor allem „die Ideologiekonformität ihrer Autoren […] demonstrieren“ sollten (S. 50). Erneut umgedreht wird die Perspektive in den Beiträgen von John S. Partington, der die Sowjetunion-Eindrücke von sechs britischen Sozialistinnen aus den 1920er-Jahren beschreibt, und von Nadine Menzel, die an den Liverpooler Arbeiter James Morton erinnert: Finanziert durch die konservative Parlamentsabgeordnete Lady Nancy Astor – die hoffte, so den Topos vom „Arbeiterparadies Sowjetunion“ als Lüge entlarven zu können – siedelte Morton 1926 unter einiger Medienaufmerksamkeit mit seiner Familie ins „neue Russland“ über. Einen breiteren und zugleich komplexeren Zugang hat Anne Hartmann gewählt: Ihr Beitrag beschäftigt sich mit den Interaktionen zwischen westlichen Intellektuellen, die Mitte der 1930er-Jahre die Sowjetunion bereisten, und ihren sowjetischen „Guides“ und Kontaktpersonen. Die Autorin zeigt, dass das Kalkül der sowjetischen Gastgeber in den meisten Fällen letztlich nicht aufging – auch wenn sich die Reisenden teilweise durchaus blenden ließen, so etwa bei der Beurteilung der stalinistischen Schauprozesse.

Der zweite Abschnitt des Buches, in dem es um die Zeit vom Ende des Zweiten Weltkriegs bis zum Zusammenbruch der sozialistischen Herrschaftssysteme in Europa Ende der 1980er-Jahre geht, besteht aus fünf Aufsätzen. Zhanna Konovalova untersucht das Sowjetunionbild in Norman Mailers Roman „Oswald’s Tale. An American Mystery“. Im Mittelpunkt steht darin der Sowjetunionaufenthalt des mutmaßlichen Kennedy-Mörders Lee Harvey Oswald in den Jahren 1959 bis 1962. Um den britischen Blickwinkel geht es in Barbara Kortes Beitrag über „Big Red Train Ride“ des Reiseautors Eric Newby sowie in Christiane Bimbergs Untersuchung von Colin Thubrons Reisebericht „Among the Russians“. Vera Shamina stellt in ihrem Aufsatz drei russische Texte über die USA nebeneinander, die in jeweils unterschiedlichen Phasen des Kalten Kriegs publiziert wurden, und Stefan Lampadius analysiert die „postkoloniale“ Reisebeschreibung des aus der Karibik stammenden britischen Autors Caryl Phillips über Osteuropa in den 1980er-Jahren.

Der dritte Teil befasst sich in wiederum fünf Aufsätzen mit Texten, die seit der Öffnung des Eisernen Vorhangs erschienen sind. Alexandra Lembert schreibt über den 1992 publizierten Reisebericht des aus Kanada stammenden Autors und Filmemachers Rory MacLean, der unmittelbar nach der Wende den ehemaligen Ostblock bereiste. Lemberts Beitrag sowie die darauffolgende Untersuchung Hans-Christian Treptes über das Osteuropa-Bild englischsprachiger Schriftsteller polnisch-jüdischer Herkunft sind die beiden einzigen Aufsätze, die sich etwas differenzierter mit den Begriffen „Ost“ und „West“ sowie auch mit der komplexen Stellung Ostmitteleuropas zwischen „Ost“ und „West“ auseinandersetzen. Stephanie Schwerter vergleicht drei Texte über Russland, die je von einem irischen, einem deutschen und einem französischen Autor stammen. Thomas Daiber untersucht auf linguistischer Ebene die Darstellung von Fremdheitserfahrungen in einem polnischen und einem russischen Reisebericht über Deutschland, die beide im Internet publiziert wurden. Der Protagonist von Kristina Skroniakovas Aufsatz schließlich ist der in Deutschland lebende, aus Russland stammende Schriftsteller Wladimir Kaminer, der in seinen Werken mit „östlicher“ und „westlicher“ Identität und mit entsprechenden Klischees spielt.

Für die Geschichtswissenschaft ist der Sammelband eine anregende Informationsquelle zu einzelnen Persönlichkeiten. Allerdings kommt er insgesamt betrachtet häufig nicht über die Deskription von Einzelschicksalen und -texten hinaus und bietet wenig Syntheseleistung. Hinzu kommen konzeptionelle Schwächen: So wird der Perzeptionsbegriff von den Autorinnen und Autoren recht unterschiedlich, teilweise auch überhaupt nicht theoretisch gefasst. Weiter verzichten sowohl die Herausgeber in ihrer sehr kurzen Einleitung als auch ein großer Teil der Beiträge auf eine Problematisierung der Begriffe „Ost“ und „West“. Der „Osten“ bleibt oftmals auf Russland bzw. die Sowjetunion reduziert, zum „Westen“ werden zumeist ohne Differenzierungen Nordamerika und die meisten europäischen Staaten gezählt, die nach 1945 westlich des Eisernen Vorhangs lagen – ohne dass hierbei ein Bewusstsein für die historische Wandelbarkeit der Konzepte aufscheint. Dies ist umso problematischer, als der Sammelband einen sehr bewegten Zeitraum von über 100 Jahren umfasst. Der in der Einleitung angekündigte Ost-West-Vergleich der wechselseitigen Perzeptionen kann allenfalls vom Leser selbst vollzogen werden – ein Unterfangen, das jedoch aufgrund der Verschiedenartigkeit der Beiträge recht anspruchsvoll ist. Hilfreich wären hier strukturierende Vorgaben an die Autoren und vor allem ein resümierendes Fazit der Herausgeber gewesen. Ähnliches gilt für die Veränderungen der Wahrnehmungen über die unterschiedlichen behandelten Epochen hinweg.

Der Sammelband verfolgt primär ein literaturwissenschaftliches Interesse, das innerhalb des Faches zweifelsohne seine Berechtigung hat. Allerdings bleibt das Werk letztlich stark auf diese Perspektive beschränkt. So fällt auf, dass teilweise wichtige Publikationen zum Thema, die aus anderen Disziplinen stammen, ignoriert werden. Beispielsweise ist die in der Einleitung der Herausgeber aufgestellte Behauptung, es gebe bislang keine Forschungsliteratur zu den wechselseitigen Perzeptionen des „Ostens“ und des „Westens“ (S. 9), nicht zutreffend.1 Ein großer Teil der Beiträge verzichtet zudem weitgehend auf historische Kontextualisierung. Schließlich bleibt oft unklar, welcher Aussagewert und welche Bedeutung den vorgestellten Texten beigemessen werden kann. Trotz dieser Kritik ist insgesamt festzuhalten, dass der Band auch für Historiker/innen wichtige Fragen anschneidet und zu einzelnen Persönlichkeiten oder Themen instruktive Einsichten bietet.

Anmerkung:
1 Verwiesen sei insbesondere auf Michael David-Fox, Showcasing the Great Experiment. Cultural Diplomacy and Western Visitors to the Soviet Union, 1921–1941, Oxford 2011 (Alexander Frese: Rezension zu: David-Fox, Michael: Showcasing the Great Experiment. Cultural Diplomacy and Western Visitors to the Soviet Union, 1921–1941. Oxford 2011, in: H-Soz-u-Kult, 16.07.2012, <http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/rezensionen/2012-3-035> [12.04.2013]), sowie Karl Eimermacher / Astrid Volpert (Hrsg.), Stürmische Aufbrüche und enttäuschte Hoffnungen. Russen und Deutsche in der Zwischenkriegszeit, München 2006.