C. Helm: Botschafter der Revolution

Cover
Title
Botschafter der Revolution. Das transnationale Kommunikationsnetzwerk zwischen der Frente Sandinista de Liberación Nacional und bundesdeutscher Solidaritätsbewegung 1977–1990


Author(s)
Helm, Christian
Series
Studien zur Internationalen Geschichte 39
Published
Berlin 2018: de Gruyter
Extent
420 S.
Price
€ 59,95
Reviewed for Connections. A Journal for Historians and Area Specialists by
Dorothee Weitbrecht, Elisabeth-Käsemann-Stiftung, Stuttgart

Mit „Botschafter der Revolution“ analysiert Christian Helm die deutsch-sandinistischen Kommunikationswege und -inhalte der Nicaragua-Solidarität in den 1970er- und 1980er-Jahren. Indem er sich deutlich vom eurozentrischen Ansatz der bisherigen Geschichtsschreibung in Bezug auf Dritte-Welt-Solidaritäten in Westdeutschland abhebt, trägt er zu einem Paradigmenwechsel bei. Der in seiner Arbeit sichtbar werdende Einfluss von Akteuren des Südens auf die europäische und deutsche Solidaritätsbewegung ist in der historischen Perspektive kaum präsent.1 Helm benennt diese „Leerstellen in den jüngeren Darstellungen“ leider ohne eine Begründung hierfür anbieten zu können (S. 24).2

Seit sich die Protestbewegungen der 1960er-Jahre mit den Befreiungsbewegungen in der „Dritten Welt“ solidarisierten, überdauert die eurozentrische Interpretation dieses Phänomens: Demnach hätten ethisch aufgeklärte gesellschaftliche Gruppierungen der westlichen Industrienationen aus einer neuen internationalen progressiven Perspektive heraus eine ferne Solidarität mit der unterentwickelten Bevölkerung in den Ländern des Südens, die einen heroischen Überlebenskampf bestritten, entwickelt. Strategische, internationale Diplomatie zur Stärkung der eigenen Position wurde dabei eher ihren Gegnern zugesprochen als den Sozialrevolutionären in den südlichen Ländern. Wie fehlgeleitet diese Sichtweise ist, lässt sich nicht nur an der strategischen Marketingoffensive Kubas Ende der 1960er-Jahre nachweisen, die zur Bildung einer transnationalen Solidaritätsgemeinschaft mit der Insel beitrug.

Am Beispiel der zehn Jahre später entstandenen westdeutschen Nicaragua-Solidarität arbeitet Helm heraus, dass die Forschung bisher einen zentralen Aspekt in der Entstehung westdeutscher Solidaritätsnetzwerke ausgeblendet hat: nämlich die Interaktion westdeutscher Aktivisten mit den Adressaten der Solidarität. Nicht nur die Initiative zur Gründung westdeutscher Solidaritätsgruppen mit der sandinistischen Befreiungsbewegung gegen die Somoza-Herrschaft und später mit der sandinistischen Regierung sei von Nicaraguanern selbst ausgegangen. Die Sandinisten hätten die westdeutschen Solidaritätsgruppen auch in ihren Inhalten und Aktivitäten entscheidend mittels einer professionellen Öffentlichkeitsstrategie geprägt.

In der westdeutschen Öffentlichkeit sei Nicaragua bis Ende der 1970er-Jahre ein weitgehend unbekanntes Land gewesen. Um Unterstützung zu erhalten, musste die Guerillaorganisation „Frente Sandinista de Liberación Nacional“ (FSLN) diese Lücke schließen. Sie habe daher ab 1977 begonnen, ein transnationales und interaktives Kommunikationsnetzwerk aufzubauen, um das mittelamerikanische Land in das Blickfeld der bundesrepublikanischen Gesellschaft zu rücken. Das Netzwerk sah es als seine Aufgabe an, Informationen aus Nicaragua zielgruppenorientiert zu verbreiten. Um eine möglichst breite ausländische Unterstützung zu erreichen, reagierte die FSLN mit ihrer Öffentlichkeitsarbeit flexibel auf innenpolitische und gesellschaftliche Strömungen in den Ländern ihrer Partner. Den Informationstransfer übernahmen in erster Linie in Deutschland lebende nicaraguanische Netzwerker, prominente nicaraguanische Persönlichkeiten und die westdeutsche Solidaritätsinitiative. Gemeinsam mit der Auslandskommission der FSLN und mit dem späteren, nach dem Sieg der Sandinisten über Somoza, sandinistischen Außenministerium koordinierten und definierten sie die Informationen, die in die westdeutsche Öffentlichkeit gelangten.

Im Zentrum von Helms Untersuchung stehen das Framing und die sich in diesem Deutungsrahmen bewegenden Images, welche die Sandinisten der westdeutschen Bewegung anboten. Dieser Ansatz Helms ermöglicht nicht nur eine Bewertung des nicaraguanischen Engagements in Deutschland. Er schärft dadurch auch das ideelle, vor allem christliche und linksalternative Profil des westdeutschen Solidaritätsmilieus in den 1970er- und 1980er-Jahren, indem er die Erwartungshaltungen skizziert, welchen die Sandinisten mit der Schaffung verschiedener Images versuchten zu entsprechen. Für Deutschland und die internationale Öffentlichkeit wurden im Wesentlichen fünf zentrale Images geschaffen: das biblische David-Goliath-Motiv, Authentizität, ein Gut-und-Böse-Antagonismus im Sinne christlicher Wertevorstellungen, die Sehnsucht nach einer hierarchiefreien, geschwisterlichen, grenzüberschreitenden Gemeinschaft und dem Ideal der Freiheit und des Guten schlechthin. Um transnationale Solidarität für die sandinistische Befreiungsbewegung zu erzeugen, hätten sich die Revolutionäre das Image von einer ideologisch gemäßigten, christlich und ethisch motivierten, selbstbestimmten und jungen Bewegung verliehen. Der zugrundeliegende Deutungsrahmen hatte offensichtlich Kontinuität entfalten können, denn diese romantischen Images von der „Dritten Welt“ waren bereits der 68er-Bewegung inhärent.

Mit der These, dass die Determinanten für das von den Sandinisten angewandte westdeutsche Framing dem Unbehagen der deutschen Gesellschaft am eigenen Land entsprangen, folgt Helm der gängigen Interpretation, dass diese Empfindung ein zentraler Auslöser für die sozialen Bewegungen in Deutschland war. Nach dem Scheitern der Abrüstungsproteste in den 1980er-Jahren sei der Eindruck von individueller Machtlosigkeit entstanden. Von diesem Gefühl sei ein starker Impetus ausgegangen, einen praktischen Beitrag zu einer besseren Gesellschaft leisten zu wollen. Die westdeutsche Unterstützung ging so weit, dass Brigaden mit hunderten von deutschen Helfern, teils unter Lebensgefahr, Aufbauarbeit in Nicaragua leisteten. Auf die dabei sichtbar werdende Diskrepanz zwischen erzeugtem Idealbild und praktischer Politik habe die Solidaritätsbewegung mit Vermeidungs- und Umdeutungsstrategien reagiert, die langfristig wirksam wurden.

Zur Steuerung der selektiven Wahrnehmung gehörten unter anderem westdeutsche Gruppenreisen nach Nicaragua. Nach einem mehrmonatigen Aufenthalt in Kuba im Jahr 1968 bezog Hans Magnus Enzensberger bereits kritische Stellung zum Phänomen des „Revolutionstourismus“.3 Kubanische Revolutionäre hatten sorgfältig ausgewählte Reiseprogramme für ausländische Besucher organisiert und versuchten sicherzustellen, dass die gewonnenen Eindrücke dem gewünschten Profil in der Weltöffentlichkeit entsprachen. Auch die Sandinisten bedienten sich dieser Methode mit hohem multiplikativem Effekt.

Als eine der wichtigsten Zielgruppen der westdeutschen Nicaragua-Solidarität nennt Helm Vertreter des progressiven Christentums und der Friedensbewegung. Sie betonten den humanitären Charakter der sandinistischen Revolution und erreichten, dass die Solidarität auch für bürgerliche Gesellschaftsgruppierungen anschlussfähig wurde. Als Kronzeugen der christlichen Unterstützung traten prominente nicaraguanische und deutsche Geistliche und Theologen auf. Mit ihrer Hilfe erfuhr der bewaffnete Widerstand der nicaraguanischen Opposition eine Rechtfertigung im Sinne eines „causa iusta“, während die Reinterpretation des Begriffs „Frieden“ Basis für eine Kooperation zwischen Solidaritäts- und Friedensbewegung gewesen sei. Der Kampf der Sandinisten sei eine unausweichliche Maßnahme, um Frieden nicht nur als Abwesenheit von Krieg, sondern als sozialen Frieden zu erreichen.

Die breite Unterstützung der Befreiungsbewegungen durch christliche Organisationen und Vertreter ist wie die Aktivität ausländischer Akteure und Individuen in den sozialen Bewegungen ein blinder Fleck in der deutschen Geschichtsschreibung. Die Weltkirchenkonferenzen des Ökumenischen Rates der Kirchen in Genf und Uppsala von 1966 und 1968 hatten die Befreiungsbewegungen in Lateinamerika aus christlicher Perspektive früh für die 68er-Bewegung fruchtbar gemacht. Es ist daher ein weiteres Verdienst Helms, in seiner Arbeit auf die christliche Komponente des nicaraguanischen Befreiungskampfes hinzuweisen, die sich in der deutschen Lateinamerika-Solidarität widerspiegelt. Hintergrund für diese Reflexion waren die seit Ende der 1960er-Jahre aufkommende lateinamerikanische Befreiungstheologie und -pädagogik, die auch in Deutschland rezipiert wurden und die eine dynamische interkulturelle Wechselwirkung erzeugten.4

Aufgrund der Gegebenheiten wohl unvermeidbar ist die etwas einseitige Quellenbasis, die bis auf die im Rahmen der Arbeit geführten Interviews hauptsächlich aus in oder von den Sandinisten für Deutschland oder das Ausland produzierten Quellen besteht, die differenziertere Einblicke in die Entstehung und Erarbeitung der sandinistischen Auslandsarbeit verhindert. Eine kritische Prüfung einiger zeitgenössischer Angaben wäre wünschenswert gewesen. Darüber hinaus hätte der Erkenntnisgewinn der Untersuchung durchaus noch gesteigert werden können, wenn Helm bei seiner chronologischen Gliederung den gesellschaftswissenschaftlichen und ideengeschichtlichen Ansätzen in seiner Arbeit mehr eigenen Raum zugestanden hätte, auch um zahlreiche Wiederholungen zu vermeiden. Insgesamt stellt die Arbeit jedoch einen Grundlagenbeitrag zur westdeutschen Nicaragua-Solidarität dar und bereichert die Forschungen zur transnationalen Geschichte und Ideengeschichte der Bundesrepublik in den 1970er- und 1980er-Jahren maßgeblich.

Anmerkungen:
1 Eine Ausnahme bildet Slobodians Studie zur Aktivität ausländischer Studierender und Studentenvereinigungen in der westdeutschen Studentenbewegung: Quinn Slobodian, Foreign Front. Third World Politics in Sixties West Germany, Durham 2012.
2 Einer der ausländischen Akteure, der ecuadorianische Philosoph Bolivar Echeverría, Mitbegründer der lateinamerikanischen Studierendenorganisation in Westdeutschland in den 1960er-Jahren, unterstellt hier ein bewusst gefördertes Narrativ. Er beklagte in den 1990er-Jahren das „konsequente Verschweige[n] der Bedeutung ausländischer Kommilitonen“ in der Studentenbewegung. Er ging davon aus, dass die Beteiligung nicht in das national-revolutionäre Selbstverständnis der westdeutschen 68er-Bewegung gepasst habe; vgl. Stefan Gandler, Peripherer Marxismus. Kritische Theorie in Mexiko, Berlin 1999, S. 63.
3 Hans Magnus Enzensberger, Dossier. Revolutions-Tourismus, in: Kursbuch 30 (1972), S. 155ff.
4 Eine Ausnahme bildet Sebastian Tripp, Fromm und politisch. Christliche Anti-Apartheid-Gruppen und die Transformation des westdeutschen Protestantismus 1970-1990, Göttingen 2015.