H. Bungert u.a (Hrsg.): Transnationale Universitätsgeschichte

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Title
Transnationale Universitätsgeschichte.


Editor(s)
Bungert, Heike; Lerg, Charlotte
Series
Jahrbuch für Universitätsgeschichte 18/2015
Published
Stuttgart 2017: Franz Steiner Verlag
Extent
272 S.
Price
€ 61,20
Rezensiert für 'Connections' und H-Soz-Kult von:
Ulrike Breitsprecher, Universität Leipzig

Für die Herausgeberinnen des Themenschwerpunktes „Transnationale Universitätsgeschichte“ im Jahrbuch für Universitätsgeschichte, Heike Bungert und Charlotte Lerg, war und ist Wissenschaft transnational, weil sie notwendigerweise auf dem Austausch von Ideen beruht. Im Zuge der Verfestigung von Nationalstaaten im 19. und besonders im 20. Jahrhundert wurden zwar aus Gleichgesinnten Konkurrenten und stellten sich die Universitäten in den nationalen Dienst, jedoch behielt Wissenschaft, wie dieser Band zeigen möchte, einen grenzübergreifenden Kern.
Die Ausgangsbeobachtung des Bandes ist, dass sich Wissenschaftsgeschichte bislang mit einzelnen Ländern oder Universitäten bzw. Disziplinen in einem nationalen Rahmen beschäftigte. Diese traditionellen Sichtweisen und Ansätze überdecken jedoch wichtige Aspekte des Ideenaustauschs oder der Verflechtung zwischen Gesellschaften und Individuen, da Ideen und Diskurse immer einen gesellschaftlichen und kulturellen Bezug hätten und selten an nationalen Grenzen enden. Unerlässlich sei deshalb die Erweiterung um eine transnationale Perspektive auf die Entwicklung von Universitäten und Wissenschaften. Es existieren in der Geschichtswissenschaft bereits viele unterschiedliche fruchtbare Ansätze und Begrifflichkeiten zur Überwindung des Fokus auf den Nationalstaat (Transfergeschichte, Globalgeschichte, Entangled Histories, etc.).
Die Herausgeberinnen definieren „transnational“ im Gegensatz zur internationalen Geschichte als Verflechtungen zwischen Gesellschaften und Individuen und nicht nur als Beziehungen zwischen Institutionen. Damit sollte das Nationale nicht zementiert, sondern ergänzt und nuanciert werden. Der transnationale Blick auf historische Gegenstände soll eine neue Perspektive ermöglichen. Dabei betonen Bungert und Lerg, dass es nicht nur um einen Perspektivwechsel zu globalen, sondern auch um regionalen und lokalen Phänomenen gehe, da gerade Wissenschaften Knotenpunkte darstellen würden, die auf regionalen, nationalen und globalen Netzwerke beruhen.
Die Herausgeberinnen leiten aus einer Vielzahl an bereits existierenden Theorien und Ansätzen der Geistes- und Sozialwissenschaften, die sich bei der Betrachtung von transnationalen Forschungsfragen als hilfreich erwiesen, drei Themenkomplexe ab, nach denen sie jeweils drei Beiträge des Themenschwerpunkt anordnen: Netzwerk und Verflechtung, Agency sowie Transfer. Die Beiträge sollen nicht nur die Existenz von Netzwerken, Verflechtungen und Transfers nachweisen, sondern ihre Funktionsweise und Nutzung durch die Akteure beschreiben, um „die möglichen Formen institutionalisierter Wissenschaft an der Schnittstelle zwischen dem Nationalen und dem Transnationalen in den Blick zu nehmen.“ (S. 43) Den Herausgeberinnen geht es um die Identifizierung von Beispielen einer „transnationalen Universität“, die als Chiffre für Überlappung und Verwerfungen in den unterschiedlichen Verflechtungsebenen der entgrenzten akademischen Welt dient.

Der Abschnitt „Netzwerk und Verflechtung“ behandelt die Nutzung von Netzwerken der akademischen Welt. Netzwerke können mit unterschiedlicher Intention geschaffen und ausgebaut werden, zum Beispiel um eine berufliche Perspektive zu sichern oder politischen Einfluss zu erlangen. Der Aufsatz von Emily J. Levine die „Nützlichkeit, Kultur und die Universität aus transatlantischer Perspektive“ beschreibt beispielweise die gegenseitige Bezugnahme und Abgrenzung amerikanischer und deutscher Universitäten an der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert in Bezug auf ihre Selbstbeschreibung zwischen Nützlichkeit von Forschung und der ‚reinen Lehre‘. Levine zeigt, dass ein lokaler und regionaler Blicks verdeutlicht, dass Wissenstransfer nicht auf nationaler oder globaler Ebene stattfand, sondern Ideen und Wissen durch einzelnen Institutionen und Akteuren zirkulierten. Christine von Oertzen beschreibt anhand der International Federation of University Women als supranationaler Organisation wie die Vernetzung und der Aufbau einer deutschen Sektion nach dem Ersten Weltkrieg funktionierte. Dabei steht nicht nur das Verhältnis zwischen der Überorganisation und den nationalen Abteilungen im Fokus, vielmehr weist von Oertzen nach, wie erfolgreich sich Akademikerinnen, inklusive der deutschen, vernetzen konnten, obwohl die deutsche Wissenschaftsgemeinschaft eigentlich mehrere Jahre boykottiert wurde.

Im Themenkomplex Agency sticht der Aufsatz von Helke Rausch heraus, der sich mit US-amerikanischen Stiftungen in den 1920er Jahren beschäftigt und beschreibt wie diese über akademische Netzwerke in Europa politisch intervenierten. Die von ihr betrachteten Stiftungen „Carnegie Endowment for International Peace“ und „Rockefeller Foundation“ waren beide in Europa bemüht, nach dem Ersten Weltkrieg wissenschaftliche Institutionen im Wiederaufbau zu unterstützen. Indirekt war das Ziel jedoch politische Kräfte zu forcieren, zu stabilisieren und die eigenen Analysen und Lösungen auf die Probleme des europäischen Kontinents anzuwenden. Die Mittel und die Strategien zielten auf die Unterstützung von Hochschulen, die Einrichtung von Studiengängen und außeruniversitärer Forschungseinrichtungen, die den Sozialwissenschaften nahestanden und die im Bereich der internationalen Beziehungen und des Völkerrechts aktiv waren. Rausch beschreibt die unterschiedlichen Strategien beider Stiftungen und legt personelle Netzwerke und leitende Ideen offen. Durch das Ideal der „scientific internationalism“ wurden die Stiftungen nicht zu reinen Interessensvertretern der US-Regierung, sondern zu Agenten der Transnationalisierung im Europa der Zwischenkriegszeit, da sie trotz politischer Intentionen wissenschaftliche Netzwerke aufbauten und akademische Kontakte forcierten.

Der Themenkomplex „Transfer“ beinhaltet drei Aufsätze, die erfolgreiche und weniger erfolgreiche Beispiele von Transfers aufzeigen. Der Aufsatz von Ana Belén Garcia Timón behandelt die Gründung von Lehrerseminaren in Chile die im 19. Jahrhundert. Mit Hilfe von deutschen Lehrkräften sollten Lehrer ausgebildet werden. Timón analysiert sehr genau und treffend, an welchen Stellen und aus welchen Gründen dieser Transfer von Strukturen, Personal und Idealen scheiterte. Dabei spielten nicht nur monetäre Gründe eine Rolle, sondern auch kulturelle und gesellschaftspolitische Spezifika des Landes. Veronika Keller widmet sich einem Beispiel für Transfer von Wissen, Strukturen und Personen, das langfristig weitestgehend erfolgreich war. Sie untersucht die amerikanische Musikausbildung und beobachtet wie überdurchschnittlich viele der Akteure am Leipziger Konservatorium zwischen Mitte des 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts ausgebildet wurden. Sie zeigt wie Erfahrung und Kenntnis in die USA transferiert wurden, um dort beim Aufbau einer eigenständigen Musikausbildung genutzt zu werden.
Ganz ähnlich verhielt es sich mit amerikanischen Medizinstudenten, die Anja Werner an den Universitäten Halle und Leipzig untersucht. Wie im Falle der Musikausbildung nutzen viele Studierende ihre Erfahrung und Kontakte um in den USA eine eigenständige, (teilweise) nach europäischem Vorbild geprägte Medizinausbildung aufzubauen. Beide letztgenannten Artikel verdeutlichen, dass es oftmals einzelne Persönlichkeiten oder Institutionen sind, die den Erfolg eines (Wissens-)Transfers ausmachen und weniger nationalspezifische Vorstellungen.

Besonders in Abschnitt „Transfer“ zeigt sich, dass das konzeptionelle Anliegen des Bandes nicht ganz eingelöst wird. Die Artikel verfolgen einen transnationalen Ansatz um Transferprozesse zu beschreiben, unterscheiden sich jedoch wenig von anderen Artikeln in diesem Band des Jahrbuches. Wissenschaft kann eben nicht ohne den Austausch von Ideen, ohne Netzwerke oder Verflechtungen nicht funktionieren. Dennoch gelingt es den Autoren und Autorinnen in dem Band sehr gut nachzuzeichnen, dass es lohnenswert und erkenntnisreich sein ist, Wissenschaft und Universitäten auf ihre Transnationalität hin zu untersuchen. Die Themenkomplexe verdeutlichen, dass es Facetten gibt, die mit bisherigen Forschungsansätzen verdeckt geblieben wären und unterstreichen damit, dass die „transnationale Universität“ auf unterschiedlichsten Ebenen und Epochen zu finden ist. Bis auf wenige Ausnahmen beschäftigen sich die Artikel mit bereits recht gut erforschten Beispielen der Wissenschafts- und Universitätsgeschichte, u.a. dem deutschen Bildungssystem, mit US-amerikanischen Thinktanks sowie dem 19. Jahrhundert und der europäischen Zwischenkriegszeit. Dementsprechend werden zwar bisherige Forschungen um eine neue Perspektive erweitert, jedoch wäre eine Erweiterung der Forschungsthemen auf weitere Regionen und Epochen wünschenswert. Sehr auffällig ist, dass in dem Band überdurchschnittlich viele Wissenschaftlerinnen zu Wort kommen. Dies könnte ein Hinweis auf die Funktion von (weiblichen) Netzwerken sein; ob es sich um ein weiteres Beispiel für eine transnationale Universität handelt, bleibt offen.

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15.02.2019
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Diese Rezension entstand im Rahmen des Fachforums 'Connections'. http://www.connections.clio-online.net/
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