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Title
Eric Hobsbawm. A Life in History


Author(s)
Evans, Richard J.
Published
Extent
785 S.
Price
£ 35.00; € 44,00
Reviewed for Connections. A Journal for Historians and Area Specialists by
Gil Shohat, Institut für Geschichtswissenschaften, Humboldt-Universität zu Berlin

Wenige Historikerinnen und Historiker vermochten es im 20. Jahrhundert bereits zu Lebzeiten, politisch so umstritten und gleichzeitig wissenschaftlich so erfolgreich zu sein wie Eric Hobsbawm. Am 1. Oktober 2012 verstarb der im Jahr 1917 im ägyptischen Alexandria geborene Sohn eines britischen Angestellten und einer österreichischen Abiturientin in London. Dorthin war er nach Kindheits- und Jugendjahren in Wien und Berlin im Jahr 1933 als britischer Staatsbürger emigriert. Es dauerte nach seinem Ableben – man möchte nach der Lektüre dieser monumentalen Biographie sagen: nur – gute sechs Jahre, bis Hobsbawms Leben und Wirken von Richard J. Evans eine umfangreiche Würdigung erfahren hat. Für seine Studie erhielt Evans exklusiven Zugang zum Privatarchiv der Familie sowie zum Hobsbawm-Nachlass an der Warwick University. Darüber hinaus konnte er zahlreiche Interviews mit seinen nächsten Verwandten und engsten Freunden führen sowie auf Archivmaterial in England, Deutschland, den USA, Italien, Frankreich und Österreich zurückgreifen.

Die intellektuelle Historisierung Hobsbawms hat bereits zu seinen Lebzeiten begonnen, aber vor allem nach seinem Tod stark an Fahrt aufgenommen, nicht zuletzt in Form einer seinem historiographischen Erbe gewidmeten Konferenz im Londoner Senate House im Jahr 2014.1 Weiterhin gewährte Hobsbawm selbst mit seiner Autobiographie Interesting Times bereits einen umfassenden Einblick in seine Erinnerungen an die politischen und intellektuellen Entwicklungen des „kurzen zwanzigsten Jahrhunderts“, worin er allerdings kaum auf seine persönlichen Empfindungen und Gefühle in dieser Zeit eingeht.2 Vor diesem Hintergrund war es Evans' erklärtes Ziel, „to let Eric tell his own story as far as possible in his own words“, wodurch vor allem die Bedeutung persönlicher Erlebnisse für Hobsbawms wissenschaftliche Arbeit und Laufbahn hervorgehoben werden sollen. In zehn chronologisch angelegten Kapiteln mit untergeordneten Themenabschnitten versucht Evans nun, aus dem Nachlass Hobsbawms seinen abwechslungsreichen und widersprüchlichen Lebensweg vom naturverliebten „English boy“ in Wien und Berlin zum global vernetzten und rezipierten Londoner Intellektuellen mitteleuropäischer Prägung nachzuzeichnen.

Ebenjene mitteleuropäische Prägung, die dieser im post-imperialen Wien der 1920er- und im politisch umkämpften und deshalb für den jugendlichen Hobsbawm aufregenden Berlin der frühen 1930er-Jahre erfuhr, war neben seiner marxistisch-kommunistischen Grundüberzeugung ein entscheidender kultureller Faktor in seinem Leben. Generell war Hobsbawms Selbstbeobachtung sehr ausgeprägt, weshalb die detaillierten Schilderungen seiner persönlichsten Gedanken durchaus auch für langjährige Hobsbawm-Interessierte neue Erkenntnisse zutage fördern. So erfahren wir beispielweise, dass er sein persönliches Tagebuch, welches er ein Jahr nach seinem Umzug von Berlin nach London im Jahr 1933 anfertigte, jahrzehntelang nahezu ausschließlich auf Deutsch verfasst hat. An anderen Stellen schöpft Evans seinen exklusiven Zugang zum privaten Nachlass Hobsbawms aus Sicht des Rezensenten ein wenig zu sehr aus, indem er etwa den Trennungsbrief von Muriel Seaman, Hobsbawms erster Ehefrau, in voller Länge zitiert sowie Hobsbawms zunehmend verzweifelte Tagebucheinträge hinsichtlich seines aussichtslosen Ehelebens ausführlich wiedergibt (S. 272ff.).

Historische Tiefenschärfe erfahren Evans' Ausführungen zu den emotionalen Aspekten in Hobsbawms Leben vor allem dann, wenn er sie mit dem wissenschaftlichen und/oder intellektuellen Werdegang dieses unorthodoxen Historikers verknüpft. So erhalten wir etwa Einblick in die personellen Konstellationen in der englischen Wissenschaftslandschaft, die Hobsbawm trotz hervorragender wissenschaftlicher Leistungen in den 1950er- und 1960er-Jahren wiederholt eine höhere Anstellung an seiner Alma Mater am King‘s College, Cambridge verwehrten (S. 427). Dies lag, so belegen es nun auch die Quellen, an seiner Mitgliedschaft in der britischen kommunistischen Partei (CPGB). Unter deren Dach arbeitete er mit seinen marxistischen Zeitgenossen in der „Communist Party Historians‘ Group“ zusammen und publizierte Pionierstudien zur Geschichte der Arbeiterklasse oder „Sozialbanditen“, die zum späteren akademischen Siegeszug der Sozialgeschichte beitrugen.

Hobsbawm, der im Laufe der 1960er-Jahre seine zweite Frau, Marlene Schwarz, wie Hobsbawm einer jüdischen Familie in Wien entstammend, heiratete und mit ihr Mitte des Jahrzehnts zwei Kinder bekam, musste sich bis zu seinem 54. Lebensjahr gedulden, ehe er 1970 nach 23 Jahren als „Lecturer“ und später „Reader“ am Birkbeck College der University of London zum „Professor for Economic and Social History“ ernannt wurde (S. 430). Dabei hatte Hobsbawm ursprünglich einige Jahre zuvor entschieden, die Abenduniversität aufgrund mangelnder Wertschätzung zu verlassen. Die akademische Unsicherheit tat seiner wissenschaftlichen Produktivität indes keinen Abbruch. Es waren die späten 1950er- und frühen 1960er-Jahre, in denen Hobsbawm mit methodisch innovativen, da transnational und sozialgeschichtlich angelegten Büchern wie Primitive Rebels und The Age of Revolution die Grundlage für seine spätere wissenschaftliche Berühmtheit legte. Doch erst die Professur gab der Familie die nötige materielle Sicherheit, um 1971 in ein Haus im Stadtteil Hampstead zu ziehen. Dort führte der intellektuelle Marxist Hobsbawm letztendlich ein zutiefst bürgerliches Leben und schrieb den Großteil seiner Bücher. Ungewöhnlich war seine für damalige Verhältnisse aktive Rolle in der Erziehung seiner beiden Kinder, welche er unter anderem als Begründung für die verspätete Abgabe der Manuskripte für die oben genannten Bücher heranzog (S. 411). Insbesondere also für die Jahrzehnte vor Hobsbawms Ernennung zum Professor liefert Evans zahlreiche kontextualisierende Erkenntnisse zu dessen Privatleben.

Im Einklang mit seinem Fokus auf den „privaten Hobsbawm“ wird der Einfluss von dessen Familie auf sein Leben und Wirken und dabei wiederholt seine jüdische Herkunft thematisiert. Das eigene Jüdischsein spielte für Hobsbawm, obwohl er sich als Marxist kaum für religiöse oder gar nationale Zugehörigkeitsgefühle interessierte und dies auch als Analysekategorie in seinen historischen Arbeiten lange Zeit vernachlässigte, doch immer wieder im Hintergrund eine Rolle. Unter anderem hatte er sich ausdrücklich die Aufsagung des Kaddisch, des jüdischen Totengebets, bei seiner Beerdigung gewünscht (S. 652). Es ist dies auch ein Grund, wieso er sich während seines kompletten akademischen Lebens nie mit dem Nazi-Terror gegenüber den europäischen Juden beschäftigte. Hobsbawm, der große Teile seiner Wiener Familie in der Shoah verlor, gab zu, dass „since the first material on the camps came out in the early fifties or late forties, I have kept away from it. […] I have just found it too difficult to face emotionally” (S. 260). Dieses emotionale Unbehagen könnte aus Sicht des Rezensenten retrospektiv als Erklärung dafür dienen, wieso die Begriffe “Holocaust” oder “Shoa” in seiner Weltgeschichte des 20. Jahrhunderts, The Age of Extremes, keine Erwähnung fanden.

Richard Evans' großes Verdienst ist es, die oben angedeuteten Kontinuitäten und Brüche im Leben Hobsbawms aus dessen eigener Perspektive zu veranschaulichen und sie als wichtigen Faktor für die Genese seines politischen und wissenschaftlichen Lebens zu definieren, ohne dabei die Diskussion der von ihm angestoßenen Debatten zu vernachlässigen. Aufgrund der sehr hohen inhaltlichen Dichte bei gleichzeitiger Länge des Buches konnten viele weitere Aspekte wie etwa Hobsbawms Erfahrungen als „re-educator“ der britischen Armee in der Lüneburger Heide nach Kriegsende 1945 (u.a. unterrichtete er dort den damaligen Wehrmachtssoldaten Reinhart Koselleck), seine Jahre als Jazz-Kolumnist für die Zeitschrift New Statesman in den 1950er-Jahren oder seine in den 1970er-Jahren entwickelte und in fortschreitendem Alter vertiefte Abneigung gegen den Zeitgeist des Postmodernismus, inklusive seiner Vernachlässigung des Feminismus, nicht berücksichtigt werden.

Zu bemängeln wäre lediglich im Einklang mit den oben angedeuteten etwas voyeuristisch anmutenden Passagen in dem Buch, dass Evans sich vor allem zu Beginn in zu vielen Anekdoten verliert, worunter die Kohärenz und Schärfe der Analyse leidet. Dies soll jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, dass Evans ein äußerst lesenswerter, weil tiefgängiger und hoch empathischer Einblick in das Leben und Werk eines streitbaren Historikers und Intellektuellen des 20. Jahrhunderts gelungen ist. Er verortet ihn in seiner eigenen, uns teilweise schon sehr fremden Zeit und trägt damit jenseits der früheren, häufig polemischen Auseinandersetzungen mit seiner Person zu einer Differenzierung des Hobsbawm-Bildes bei.

Anmerkungen:
1 Siehe John H. Arnold / Matthew Hilton / Jan Rüger (Hrsg.), History after Hobsbawm. Writing the Past for the Twenty-First Century, Oxford 2018.
2 Siehe Eric Hobsbawm, Interesting Times. A Twentieth Century Life, London 2003.

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06.06.2019
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