S. Ehlers: Europa und die Schlafkrankheit

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Title
Europa und die Schlafkrankheit. Koloniale Seuchenbekämpfung, europäische Identitäten und moderne Medizin 1890–1950


Author(s)
Ehlers, Sarah
Published
Göttingen 2019: V&R unipress
Extent
377 S.
Price
€ 59,99
Rezensiert für 'Connections' und H-Soz-Kult von:
Samuël Coghe, Freie Universität Berlin

Spätestens seit Lyons‘ wegweisendem Buch über die Schlafkrankheit in Freistaat und Belgisch-Kongo erfreut sich die Geschichte der Schlafkrankheit (oder Human African Trypanosomiasis – HAT) im kolonialen Afrika eines regen historiographischen Interesses.[1] In einer Vielzahl von Studien, auch zu den deutschen Kolonien, haben HistorikerInnen akribisch wie kritisch die neuartigen (tropen)medizinischen Praktiken analysiert, mit denen die europäischen Kolonialmächte dieser Krankheit, die Ende des 19. Jahrhunderts etwa im Kongobecken, Angola und Uganda epidemische Ausmaße annahm und ohne Behandlung normalerweise tödlich verläuft, begegnet sind.2 Zuletzt sind auch verstärkt die transnationalen Dimensionen der Schlafkrankheitsforschung und -bekämpfung sowie afrikanische Perspektiven und Reaktionen auf die Krankheit(sbekämpfung) ins Zentrum der Überlegungen gerückt.3

Angesichts dieses beeindruckenden Forschungsstandes lässt sich auf den ersten Blick kaum noch empirisches oder interpretatives Neuland betreten. Mit ihrer umfangreichen, aus der Doktorarbeit hervorgegangenen, Studie ist es Sarah Ehlers dennoch über weite Strecken gelungen, existierende Forschungen zur europäischen Schlafkrankheitsbekämpfung nicht nur zu einer Art Synthese zusammenzutragen, sondern sie auch immer wieder um neue Beispiele, Quellen und Perspektiven zu ergänzen.

Zum einen verflechtet das Buch in den ersten drei von vier Hauptkapiteln, ähnlich wie Neill’s vielgerühmte Studie aus dem Jahr 2012 4 die britischen, deutschen und französischen Forschungen und Praktiken zu einer transnationalen Wissensgeschichte der Schlafkrankheitsbekämpfung im kolonialen Afrika zwischen 1900 und 1914. Dafür hat die Autorin eine beeindruckende Zahl an Quellen aus staatlichen und (tropen)medizinischen Bibliotheken und Archiven in Deutschland, England und Frankreich ausgewertet. Im Mittelpunkt der Analyse stehen dabei nicht so sehr die Kolonialärzte vor Ort oder die afrikanischen PatientInnen, Intermediäre und Autoritäten, sondern die Schlafkrankheitsforscher.

Das erste Hauptkapitel (Kap. 2) argumentiert, dass die Schlafkrankheit eine zentrale Rolle bei der Institutionalisierung der Tropenmedizin in Europa spielte. Es geht auch detailliert auf die Kommission der britischen Royal Society ein, die 1902/3 in Uganda die parasitären Trypanosomen als Krankheitserreger ausfindig machte. Kapitel 3 untersucht die frühen Bemühungen von europäischen Wissenschaftlern wie Robert Koch und Paul Ehrlich, ein heilendes Medikament gegen die Trypanosomen zu finden. Ein wichtiges Instrument, so Ehlers, waren die Schlafkrankheitslager, die an ausgewählten Stellen in den betroffenen Kolonien zur Konzentration und Isolation/Segregation der Kranken eingerichtet wurden. Hier testeten Ärzte eine Vielzahl von neuen Medikamenten. Diese „Menschenversuche“ bzw. „Humanexperimente“ (S. 105), waren nicht nur weitgehend erfolglos, schmerzhaft, und manchmal tödlich (und trugen somit zu der hohen Fluchtquote aus den Lagern bei), sie waren auch ethisch höchst problematisch und seien, so Ehlers, zu der Zeit in Europa so nicht mehr möglich gewesen. Kapitel 4 bietet einen faszinierenden Überblick über die ‚räumlichen‘ Maßnahmen, mit denen die Krankheit bekämpft und gleichzeitig die afrikanische Bevölkerung kontrolliert werden sollte. Sie umfassten einerseits ökologische Eingriffe wie Buschrodungen und Wildtiertötungen, die das vermeintliche Habitat der Tsetsefliegen bzw. die tierischen Parasitenreservoirs zerstören sollten; andererseits auch Maßnahmen, mit denen die Infektionskette zwischen Mensch und Fliege unterbrochen werden sollte, wie die Zwangsumsiedlung ganzer Dörfer, die Konzentration von Kranken in tsetsefreien Konzentrationslagern oder Verkehrs- und Grenzkontrollen zur Immobilisierung potentiell kranker Afrikaner.

Vieles von dem, was Sarah Ehlers in Kapitel 2 bis 4 schildert, ist nicht gänzlich neu, aber dennoch sehr lesenswert, weil die Kapitel eine sehr gute und klar strukturierte Synthese der internationalen Schlafkrankheitsforschung vor 1914 bieten und auch immer wieder neue aufschlussreiche Perspektiven enthalten, wie etwa die mediale Aufmerksamkeit für drei afrikanische Patienten in Paris im Jahr 1903 (S. 85-92) oder die kontroverse Debatte um die Wildtiervernichtung in Ostafrika (S. 170-183).

Zum anderen versucht die Studie in drei – in Einleitung und Schluss klar markierten – Punkten konzeptionell über existierende Forschungen hinauszugehen. Erstens verfolgt sie im letzten Hauptkapitel (Kapitel 5), entsprechend einem breiteren Trend in der deutschen Kolonialismusforschung, die deutsche Schlafkrankheitsforschung und einige ihrer führenden Vertreter über den Verlust der Kolonien im Jahr 1919 hinaus. Hier untersucht sie die Geschichte des neuartigen Schlafkrankheitsmedikamentes ‚Bayer 205‘, das zwischen 1916 und 1920 von Bayer entwickelt und ab 1924, nach aufwendigen klinischen Tests in Europa und Zentralafrika, unter dem vielsagenden Namen Germanin vermarktet wurde (siehe weiter unten). Anhand der Biographien einzelner Forscher und ihrer medizinischen Menschenversuche während des Zweiten Weltkrieges weist sie auch auf die nationalsozialistischen Verstrickungen deutscher Tropenmediziner hin.

Zweitens sieht Ehlers die Geschichte der Schlafkrankheitsforschung dezidiert nicht nur als Teil der Kolonialmedizin, sondern der ‚modernen Medizin‘ tout court. Rein wissenschaftsgeschichtlich, so Ehlers, hätte sich die in den Kolonien praktizierte, laborbasierte Biomedizin nicht grundlegend von der allgemeinen Biomedizin unterschieden, auch wenn ihre Motivationen und praktische Umsetzungsmöglichkeiten andere gewesen seien (S. 18).

Drittens zieht sich wie ein roter Faden eine kulturgeschichtliche Analyseperspektive durch die Arbeit, nach der die Schlafkrankheitsbekämpfung eine „europäische Erfahrung“ (S. 24) war, die eine Verstärkung europäischer Identitäten und weitere rassifizierte Grenzziehungen zwischen AfrikanerInnen und EuropäerInnen zur Folge hatte. So führt Ehlers etwa aus, dass Schlafkrankheit bis zu dem Tod einer Europäerin in London 1903 von vielen als rein afrikanische Krankheit definiert wurde; dass AfrikanerInnen mit anderen (höheren) Medikamentendosierungen behandelt wurden; ihre Fälle (anders als die von EuropäerInnen) in den Berichten üblicherweise namenlos beschrieben werden; sie insgesamt als potentielle TrägerInnen der Krankheitserreger betrachtet wurden und ihre Bewegungsfreiheit viel stärker eingeschränkt wurde. Es ist ein wichtiges Verdienst dieser Arbeit, dass sie immer wieder den Blick auf diese rassistisch unterlegten Unterschiede lenkt.

Dennoch lassen sich gerade an diesen Punkten auch einige Schwachstellen der Arbeit aufzeigen. Erstens bleibt unklar, was unter Europa und „europäischen Identitäten“ zu verstehen ist. Indem das Buch fast ausschließlich britische, deutsche und französische Forscher und Kolonien in den Blick nimmt, bleiben die kleineren Kolonialmächte Portugal, Belgien und Spanien (fast) ganz außen vor. Obwohl diese Entscheidung forschungspragmatisch Sinn ergeben mag, ist sie für die „europäische“ Argumentation der Arbeit problematisch. Aus einer „europäischen“ Perspektive ist es nicht einleuchtend, die Arbeit mit dem angeblichen Eintreffen der „ersten Nachrichten über die Schlafkrankheit [in den] Kolonialmetropolen Europas“ im Jahr 1900 (S. 29) und der 1902 nach Uganda entsandten Kommission der britischen Royal Society anzufangen (S. 50-65). Alleine schon der portugiesische Fall stellt diese an Britisch-Ostafrika orientierte Chronologie in Frage: Die portugiesischen Forschungen begannen bereits um 1870 in Lissabon, wurden in den 1880er und 1890er Jahren in Metropole und Kolonien weitergeführt und lösten 1901 die erste europäische Schlafkrankheitsmission nach Angola und Príncipe aus, wo die Krankheit seit längerem existierte und Mitte der 1890er Jahre (erneut) epidemische Ausmaße angenommen hatte.5

Über die Chronologie hinaus stellt sich hier auch die Frage, inwieweit die historiographische Marginalisierung der südeuropäischen Schlafkrankheitsforschung, die sich auch in anderen Studien findet 6, teilweise bereits damals existierende Marginalisierungen und Ausschlüsse weiterführt. Eine ungebrochene „gesamteuropäische“ Identität dürfte es angesichts der damaligen negativen und teilweise rassistischen Darstellungen etwa der Portugiesen als nicht ganz europäisch und kolonisationsunfähig so nicht gegeben haben. Eine transnationale „europäische“ Geschichte hätte gut daran getan, auf die Bruchlinien in der „europäischen“ Identität hinzuweisen und, jenseits der durchaus wichtigen deutsch-britisch-französischen Kooperationen, Austauschprozesse und Gemeinsamkeiten, auch die Machthierarchien und Ausschlussmechanismen in der „europäischen“ Schafkrankheitsforschung vor 1914 zu thematisieren.

Zweitens sind manche biomedizinischen Einordnungen ungenau. So verwundert es, dass die Autorin immer wieder von der zentralen Rolle der Bakteriologie in der Tropenmedizin spricht (etwa S. 30-37; 65, 84-85), wo doch gerade die Parasitologie und der sich aus dem Parasit-Vektor-Modell ergebende multidisziplinäre Ansatz, teilweise in Abgrenzung zur Bakteriologie, zum Kern der ‚modernen‘ Tropenmedizin avancierten. Auch die Darstellung der Tropenmedizin als ein im Wesentlichen „europäisches Phänomen, das aus der spezifisch europäischen Konstellation aus Landnahme in Afrika und einem Zivilisierungsdiskurs resultierte“ (S. 36-37) ist diskutabel. Eine solche an der Schlafkrankheit orientierte Einordnung ignoriert die Tropenmedizin vor 1900, in der Afrika eine eher geringe Rolle spielte 7, und minimiert die Bedeutung der (nicht immer kolonial motivierten) US-amerikanischen, japanischen oder etwa brasilianischen Forschungen zu anderen tropischen Krankheiten wie Malaria, Gelbfieber oder Beriberi.8

Problematisch ist aber vor allem, die Entdeckung von ‚Bayer 205‘/‘Germanin‘ (generisch: Suramin) als „einen der größten tropenmedizinischen Erfolge des 20. Jahrhunderts“ (S. 234) oder gar als „de[n] bedeutendste[n] tropenmedizinische[n] Durchbruch des frühen 20. Jahrhunderts“ (S. 235) zu bezeichnen, der die „Medikamentenfrage [...] fast zufällig im Elberfelder Labor gelöst“ (S. 312) habe. Hier scheint die Autorin ungewollt der offensichtlich bis heute andauernden Selbstbeweihräucherung des Pharmakonzerns Bayer (S. 313f.) und/oder dem in Kapitel 5 eigens (und auch sehr treffend) analysierten deutschen kolonialrevisionistischen Diskurs der Zwischenkriegszeit aufgesessen zu sein. Damals priesen sowohl die deutsche Fachpresse als später auch die Nationalsozialisten Germanin als Wunderheilmittel gegen die Schlafkrankheit, mit dessen Entwicklung Deutschland sich seine Kolonien redlich zurückverdient hätte. Zwar war Suramin ein Schritt vorwärts, weil es im Vergleich zu den damals üblichen arsenhaltigen Medikamenten wie Atoxyl weniger gefährliche Nebenwirkungen zeitigte und zunehmende Arsenresistenzen umging. Deshalb weckte es auch bei den verbliebenen Kolonialmächten in den 1920er Jahren große Hoffnungen und Begehrlichkeiten. Aber weder galt die Schlafkrankheit „zu diesem Zeitpunkt als unheilbar“ (S. 241) noch war Suramin die Lösung. Zum einen vermochte auch Suramin Schlafkranke im sehr häufigen zweiten Stadium nicht zu heilen. Zum anderen wurde es nur bei der (ostafrikanischen) rhodesiense-Form der Krankheit (im ersten Stadium) zum Wirkstoff der Wahl. Bei der viel häufigeren (west- und zentralafrikanischen) gambiense-Form setzten die dortigen Kolonialmächte (insbes. Franzosen, Belgier und Portugiesen) sowie ihre Nachfolger vorwiegend auf andere ‚Wunderheilmittel‘, allen voran das zeitgleich mit Suramin entwickelte Tryparsamide, das auch im zweiten Stadium heilen konnte, und ab den 1940ern Pentamidin.9 Ohne diese Einschränkungen und Differenzierungen muss es für die LeserInnen schleierhaft bleiben, wieso ‚Germanin‘ die Schlafkrankheit nicht bereits in den 1920er Jahren besiegte.

Trotz dieser Kritik ist Sarah Ehlers‘ Buch ein sehr lesenswerter Beitrag zur transnationalen Wissens- und Medizingeschichte des europäischen Kolonialismus in Afrika. Die Studie legt eindringlich dar, wie die Schlafkrankheitsbekämpfung in den europäischen Kolonien von neuartigen und einschneidenden Maßnahmen, räumlichen Kontrollphantasien und auf kolonialem Rassismus basierenden ethischen Transgressionen geprägt war.

Anmerkungen:
[ ] Maryinez Lyons, The Colonial Disease. A Social History of Sleeping Sickness in Northern Zaire, 1900-1940, Cambridge 1992.
2 Siehe beispielsweise Rita Headrick, Colonialism, Health and Illness in French Equatorial Africa, 1885-1935, Atlanta 1994; Kirk Arden Hoppe, Lords of the Fly. Sleeping Sickness Control in British East Africa, 1900-1960, Westport 2003 und, zu den deutschen Kolonien, Hiroyuki Isobe, Medizin und Kolonialgesellschaft. Die Bekämpfung der Schlafkrankheit in den deutschen "Schutzgebieten" vor dem Ersten Weltkrieg, Münster 2009.
3 Siehe insbesondere Deborah Neill, Networks in Tropical Medicine. Internationalism, Colonialism, and the Rise of a Medical Specialty, 1890-1930, Stanford 2012 und Mari K. Webel, The Politics of Disease Control. Sleeping Sickness in Eastern Africa, 1890-1920, Ohio 2019.
4 Neill, Networks.
5 Siehe etwa Isabel Amaral, Bacteria or Parasite? The Controversy over the Etiology of Sleeping Sickness and the Portuguese Participation, 1898-1904, in: Manguinhos. História Ciências Saúde 19 (2012), pp. 1275–1300 und Samuël Coghe, Population Politics in the Tropics. Demography, Health and Colonial Rule in Portuguese Angola, 1890s-1940s (Ph.D. Thesis, European University Institute, 2014), pp. 41–130.
6 Siehe etwa auch Neill, Networks.
7 Siehe etwa David Arnold (ed.), Warm Climates and Western Medicine. The Emergence of Tropical Medicine, 1500-1900, Amsterdam 1996 und Mark Harrison, Medicine in an Age of Commerce and Empire. Britain and its Tropical Colonies, 1660-1830, Oxford 2010.
8 Siehe etwa Jaime Larry Benchimol, Dos micróbios aos mosquitos. Febre amarela e a revolução pasteuriana no Brasil, Rio de Janeiro 1999; Warwick Anderson, Colonial Pathologies. American Tropical Medicine, Race, and Hygiene in the Philippines, Durham 2006.
9 Myriam Mertens, Chemical Compounds in the Congo. Pharmaceuticals and the 'Crossed History' of Public Health in Belgian Africa (ca. 1905-1939), Doktorarbeit, Universität Gent, 2014; Guillaume Lachenal, Le médicament qui devait sauver l'Afrique. Un scandale pharmaceutique aux colonies, Paris 2014. Siehe auch https://www.who.int/en/news-room/fact-sheets/detail/trypanosomiasis-human-african-(sleeping-sickness) und Harry P. De Koning, The Drugs of Sleeping Sickness. Their Mechanisms of Action and Resistance, and a Brief History, in: Tropical Medicine and Infectious Diseases 5,14 (2020), doi:10.3390/tropicalmed5010014.

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26.06.2020
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Diese Rezension entstand im Rahmen des Fachforums 'Connections'. http://www.connections.clio-online.net/
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