H. Lutz u.a. (Hrsg.): Gender, Migration, Transnationalisierung

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Titel
Gender, Migration, Transnationalisierung. Eine intersektionelle Einführung


Autor(en)
Lutz, Helma; Amelina, Anna
Reihe
Sozialtheorie
Anzahl Seiten
216 S.
Preis
€ 16,99
Rezensiert für 'Connections' und H-Soz-Kult von:
Magda Boryslawska, University of Warsaw

Die beiden Autorinnen des zu besprechenden Buches repräsentieren verschiedene wissenschaftliche Disziplinen. Helma Lutz ist Professorin für Frauen- und Geschlechterforschung in Frankfurt/Main und Anna Amelina Professorin für Interkulturalität an der TU Cottbus-Senftenberg. Trotzdem überlappen sich die Forschungsinteressen im Kreis der Sozialwissenschaft, wie der vorliegende Band deutlich belegt. Beide unternehmen eine eingehend kommentierte Katalogisierung ausschlaggebender theoretischer Konzepte in Bezug auf die Migrationsforschung und verweisen auf eine Reihe von Problemen, die bisher in den sozialwissenschaftlichen Forschungen eher unterbelichtet blieben.

Im einführenden Kapitel skizziert Helma Lutz zentrale theoretische Konzeptionen und Vorgehensweisen. In erster Linie geht sie auf die Relevanz der sozialen Konstruktion des Geschlechts ein. Den für die poststrukturalistischen Überlegungen typischen Paradigmenwechsel zu einer sozialkonstruktivistischen Betrachtungsweise von Geschlecht und Migration verknüpft die Autorin mit dem Konzept Doing Gender, welches die fortlaufende Herstellung der Weiblichkeit und Männlichkeit, die die Produktion und Reproduktion zweigeschlechtlicher Ordnungen impliziert, voraussetzt (S. 17). Das Kapitel versammelt die Hauptlinien feministischer Theorie von Simone de Beauvoir bis Judith Butler, indem es beleuchtet, wie die Geschlechteridentitäten inszeniert werden, und berücksichtigt zudem den wichtigen Beitrag von Pionieren der Interaktionstheorie wie Erving Goffman und Harold Garfinkel. Darüber hinaus beleuchtet Lutz aktuell dominierende Forschungstendenzen und miteinander konkurrierenden Ansätzen, die sie mit gedankenreichen methodologischen Kommentaren versieht. In Bezug auf das weithin bekannte Pull-Push-Modell, das hauptsächlich auf dem Prinzip der Nutzenmaximierung basiert, argumentiert die Vf.in, dass Migrationsforschung sich nicht auf ökonomische Facetten begrenzen sollte, weil sie immer vielfältige außerökonomische Hintergründe hat. Durchaus konstruktiv werden allzu starre Vorstellungen zum Thema Migration überwunden, wie z. B. die bis heute vorherrschende irrtümliche Behauptung, dass die Gastarbeiterrekrutierung (BRD, 1955-1973) ein lediglich männliches Phänomen war, was mit der Vielfalt der Beschäftigung von Migrantinnen in Sektoren wie Gesundheit, Pflege, Lebensmittelverarbeitung und Textilindustrie belegt wird (S. 34). Die Durchsicht des Methodenspektrums, die die beiden Autorinnen vornehmen, zeigt, dass die traditionelle Migrationsforschung mit ihren reduktionistischen Begriffsapparaten für ein komplexes Problemverständnis oft unzureichend ist. Unter Verweis auf queere Perspektiven wird auf Forschungslücken hingewiesen, die neue Alltagspraktiken und Geschlechteridentitäten in der transnationalen Migration betreffen. (S. 42) Dies fügt sich in einen allgemeinen historischen Kontext von Feminisierung der Migration in den modernen Industriegesellschaften ein. (S. 30).

Das zweite Kapitel eröffnet ein theoretisch orientierter Abschnitt zu den Herausforderungen der Migrationsforschung, in dem geschlechterspezifische Asymmetrie und Ungleichheitsgeneratoren in den Vordergrund treten. Die Mehrheit der klassischen Ansätze, so wird betont, ist aus feministischer Sicht nicht mehr adäquat, weil sie keine Sensibilität für Geschlechtsfragen aufweist. Migrationspraktiken werden tendenziell so betrachtet, als seien sie bei allen Geschlechtern identisch. Dies wird bspw. deutlich an Assimilationsansätzen, die „die vergeschlechtlichte Verteilung der sozialen Chancen“ (S. 45) ignorieren. Ein weiterer Abschnitt dieses Kapitels behandelt ausführlicher die Weltsystemtheorie und präsentiert sowohl individuelle als auch kollektive Dimensionen der Migrationsprozesse in der globalen kapitalistischen Marktwirtschaft (S. 53), und verweist auf die Limitierungen einer solchen marxistischen Interpretation. Den Assimilationsansätzen und der Weltsystemtheorie sei vorzuwerfen, dass sie sich übermäßig auf die ökonomischen Faktoren und Klassenverhältnisse konzentrieren, während andere Differenzachsen unberücksichtigt bleiben.

Das dritte Kapitel erörtert die Migrations- und Transnationalisierungsprozesse im Kontext sozialer Produktion des Raumes (Doing Space), aus der sich die Konzepte sozialer Herstellung von Migration (Doing Migration) und Transnationalität (Doing Transnationality) entwickeln lassen. Analog zum zuvor erwähnten sozialen Geschlecht (Doing Gender) werden Migration und Transnationalität durch „historisch-spezifische Wissens- und Machtkomplexe sowie institutionelle Konfigurationen“ geprägt. Als besonders relevant für den dargestellten Ansatz erscheint das Zusammenspiel von ganz unterschiedlichen und in der traditionellen Forschung zumeist isolierten Differenzachsen, wie Gender, Ethnizität, Klasse, Nationalität, Sexualität, Alter oder Behinderung, welches den Kern der Intersektionalität als von den Autorinnen bevorzugtem methodischem Instrumentarium ausmacht. Gleichzeitig machen sie die LeserInnen auf die Fluidität der genannten Kategorien aufmerksam. Das Kapitel ist insgesamt durch eine anthropologisch begründete Kritik an sedentaristischen Denkmustern, die die Anerkennung von Migrantenkulturen zu einem gewissen Grade verneinen, geprägt.

Im nächsten Kapitel wird ein Überblick über globale Versorgungsketten mit einem Schwerpunkt auf den Arbeitsbedingungen für MigrantInnen und der nicht selten ethnisierten Ausbeutungsverhältnisse geboten. Es werden wirtschaftliche Abhängigkeiten zwischen dem globalen Norden und dem globalen Süden hinsichtlich der Care-Zirkulation aufgezeigt als auch die Folgen neoliberaler Logik thematisiert, die nach der Cash-For-Care-Politik die Versorgungsarbeit zwischen Staat, Familie und Markt umverteilt. Zudem werden die Bezüge zwischen der Produktionsarbeit, die als männlich stilisiert wird, und der Reproduktionsarbeit, die als weiblich rezipiert wird, in ihrer Komplexität beleuchtet. Offensichtlich werden diese Zusammenhänge, wenn man die Feminisierung jener Marktsektoren betrachtet, die sich Erziehung-, Betreuungs- und Versorgungsarbeit widmen und dabei eine nicht annähernd ausreichende Entlohnung bieten. Ausgehend von der Doppelrolle der Frauen wird die Problematik grenzüberschreitender Elternschaft aufgegriffen. Außerdem schlägt Helma Lutz angehenden ForscherInnen potenzielle Forschungsfelder vor, indem sie Probleme wie die stigmatisierende Wirkung öffentlicher Debatten über transnationale Mutterschaft, Diversifikation der Haushaltsformen oder Verlust von Bildungskapital in strukturschwachen Ländern aufs Korn nimmt.

In der Staatsbürgerschaftsforschung positioniert sich der postnationale Ansatz in Opposition zu einem nationalen Gesellschaftsmodell. Das fünfte Kapitel widmet sich der bereits im ersten Kapitel thematisierten Problematik ausführlicher und bringt die damit in Verbindung stehenden Fragen nach Neudefinition von nationaler Zugehörigkeit, Grundrechte und Partizipationsmöglichkeiten als auch verschiedene Bürgerschaftsvarianten im Konterxt von Migration zur Sprache. Anna Amelina weist auf eine signifikante Korrelation zwischen dem sozialen Geschlecht und der politischen Zugehörigkeit nach, die in der Diskussion über die flüssige Grenze zwischen öffentlicher und privater Sphäre zum Vorschein kommt. Diese dichotomische Trennung verstärkt die patriarchalische Gesellschaftsstruktur. Die Autorin stellt plausibel dar, wie politische Entscheidungen auf das Privatleben einwirken, und weist dabei auf die Rolle patriarchalischer Geschlechternarrationen hin. Das Kapitel endet mit dem Vorschlag Formen grenzüberschreitenden Aktivismus in die Untersuchungen transnationaler Migration einzubeziehen.

Der letzte Teil des Bandes versammelt Spiel- und Dokumentarfilme, die die in den vorherigen Kapiteln angeführten Migrationsaspekte behandeln und als innovatives Lehrmaterial dienen können.

Auch wenn die Autorinnen auf bestimmte Aspekte und theoretische Begründungen scheinbar immer wieder zurückkommen, dient diese Wiederholung doch der stringenten Organisation der Abhandlung, die bei einem so mehrdimensionalen Gegenstand eine anspruchsvolle Aufgabe darstellt. Hervorgehoben sei auch der gelungene Versuch, nicht nur die migrationsbezogene Terminologie zu systematisieren, sondern auch eine Revision der vorhandenen Begriffsapparate vorzuschlagen.

Die Publikation liefert einen wichtigen Beitrag zur integrativen Erfassung ökonomischer, sozialer, symbolischer und kultureller Migrationsaspekte und lädt dazu ein, eine geschlechtersensible Betrachtungsweise in künftige Forschungen stärker einzubeziehen.

Redaktion
Veröffentlicht am
05.06.2020
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Diese Rezension entstand im Rahmen des Fachforums 'Connections'. http://www.connections.clio-online.net/
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