Was bedeutet Europa? Wann und wie war Europa überhaupt je einig? Bereits seit dem späten Mittelalter bestimmt die Dialektik von Einheit und Vielheit das Schema aller Europa-Ideen. Alle Europa-Begriffe, die über die klare geografische Bestimmung hinausreichten, beinhalteten schon damals die Disharmonie und die Auflösung universaler Ordnungen. Frei nach Friedrich Nietzsches Erkenntnis, was eine Geschichte habe, könne nicht einfach definiert werden, stellen auch die Herausgeber des vorliegenden Sammelbandes bereits in ihrer Einführung klar, dass der Begriff „Europa“ nicht einfach zu deuten ist. Die Metamorphose der Bedeutung Europas seit der Aufklärung wurde von den Autoren in einem Forschungsprojekt über „The Cultural Construction of Community in Modernization Processes in Comparison“ am Europäischen Universitäts-Institut in Florenz und an der Humboldt Universität zu Berlin untersucht. Anliegen war es nachzuvollziehen, welche Rolle und Funktion die Europa-Ideen für die Entwicklung des Nationalstaats gespielt haben. Die Ergebnisse der Untersuchungen werden schließlich in Kapiteln zu Griechenland, Italien, Spanien, Großbritannien, Schweden, Finnland, Russland, Polen, Tschechien, Deutschland und Frankreich festgehalten. Auch wenn allen nationalen Schauplätzen die politische Prägnanz des Begriffs Europa gemein ist, so variiert doch die durchaus umstrittene Konzeptualisierung Europas innerhalb und unter den Nationen.
Europa hat im Laufe der Jahrhunderte seine Vielfalt in Systeme gegliedert. Als Antwort auf die europäische Einheits-Vielheits-Problematik wurde im Gefolge der Französischen Revolution die politische Form der Nation entwickelt. Hegel nannte sie einst das „besondere Allgemeine“ und umschrieb damit folgenden Zusammenhang: Nationen kann es nur neben anderen geben, auch wenn ihre Struktur der Idee nach überall dieselbe ist. In den letzten fünfzig Jahren sind die nationalen Ungleichheiten in Europa stark zurückgegangen, und die materielle Kultur, ebenso wie die geistigen Impulse haben sich einander angepasst. Parallel dazu hat sich so etwas wie ein europäisches Solidaritätsbewusstsein gebildet.
Entwicklungen, die unter anderem der Errungenschaften der Europäischen Union zu verdanken sind und dank derer es für das Individuum nicht mehr möglich ist, sich ausschließlich national zu orientieren. Nationale Identitäten sind aber gewiss nicht verloren gegangen, während der Bedeutungsverlust der traditionellen Nationalstaaten zugleich die Autonomie der Regionen gestärkt hat. Dennoch wird Europa immer mehr als politische und kulturelle Handlungseinheit aufgefasst. Das Europaverständnis hat sich enorm verändert, seitdem es europäische Institutionen und eine Europapolitik gibt. Seit den 1950er Jahren vollzieht sich eine Europäisierung der Nationen; eine Europäisierung, die im Kalten Krieg durch das Verständnis einer westeuropäischen Öffentlichkeit geprägt wurde, seit 1989 aber offener wurde. „Offener“ bedeutete aber auch, dass die Europa-Konzepte ihre Bestimmtheit verloren.
Die Europa-Konzepte innerhalb und zwischen den Nationen variieren. Geht man allerdings von der aktuellen Situation aus, so lässt sich feststellen, dass Europa in einigen Fällen als integraler Bestandteil der nationalen Identität aufgefasst wird, wie in Griechenland, Italien, Spanien, den Baltischen Staaten, Tschechien, Polen, Deutschland und Frankreich. In Österreich lässt sich von einem Konkurrenzkampf zwischen Nation und Europa sprechen, wie Gilbert Weiss ausführt. Nicht Kriterien wie Souveränität, Demokratie und Modernität, sondern ökonomische Vorteile des Europa-Konzepts bildeten die Basis für diesen Konkurrenzkampf. In Großbritannien, Schweden und Russland wird die Europa-Idee beinahe als Bedrohung für den Nationalstaat gehandelt, wobei sich die europhoben Haltungen langsam in neutrale oder gar Europa zugewandte Einstellungen zu wandeln scheinen. Häufig hat die Europa-Idee eine Loslösung von religiösen Glaubensvorstellungen zur Folge. Hier lassen sich wiederum Griechenland, Italien, Spanien, Schweden und Frankreich in einer Gruppe unterbringen. Unter dem Aspekt der Dezentralisierung von makro-regionalen Identitäten können Finnland, Polen, Tschechien und die Baltischen Staaten auf einen Nenner gebracht werden. Als Beispiel für die umstrittene Konzeptualisierung Europas innerhalb einer Nation soll hier Spanien aufgeführt werden. Pablo Jáuregui kristallisiert besonders zwei Haltungen unter den Spaniern heraus. Zum einen benennt Jáuregui die Fraktion, die Europa als „inspirierendes Anderes“ begreift, als ein Modell, dass imitiert werden sollte, um die Nation durch Modernisierung zu sichern. Ihr entgegen steht die Fraktion, die Europa als „bedrohliches Anderes“ versteht, als eine schreckliche Gefahr, die gemieden werden sollte, um die Reinheit der nationalen katholischen Seele zu bewahren. Letztendlich ist jedoch die Aussicht auf ein „europäisches Spanien“, welches ein modernes, demokratisches, tolerantes und pluralistisches Spanien bedeuten würde, weitaus schwerwiegender.
In Konflikt mit makro-regionalen Identitäten tritt die Europa-Idee in Finnland, wie Henrik Meinander in seinem Aufsatz erklärt. Finnlands geografische Lage gesteht ihm eine Rolle zu, die der Vermittlung zwischen östlichen und westlichen Kulturen dient. Damit entstehen zwei verschiedene Konzepte des Verhältnisses zu Europa. Das eine betont die einheimische finnische Kultur und betrachtet Finnland als ein kooperatives Grenzland zwischen dem Westen und Russland. Das zweite Konzept sieht eine enge Integration mit westlichen und europäischen Kulturen vor.
Dagegen resultiert die eher europhobe Haltung Schwedens wiederum aus einem Glaubenskonflikt. Bo Stråth sieht in der Zugehörigkeit zum Protestantismus den Hauptgrund für die schwedische Abneigung gegenüber Europa, das mit dem Katholizismus gleichgesetzt wurde; das schwedische Bild von einem konservativen und katholischen Europa konstituierte sich bereits im 19. Jahrhundert, verfestigte sich aber erst in den 1930er Jahren. Gleichzeitig lasse Schweden aber auch eine europhile Wandlung in der Akzeptanz des Europa-Konzepts erkennen. Schon vor dem Zeitalter des Totalitarismus in Europa konnten sich schwedische Intellektuelle durchaus mit Europa identifizieren. Das war vor allem unter den Sozialdemokraten in den 1920er Jahren der Fall, die auf Internationalität und eine europäische Einheit im Rahmen des Völkerbundes setzten.
Allen europhilen Ländern gemein ist die Assoziation von Europa mit Modernität, Demokratie und Wohlstand. Das gilt auch für die früheren sogenannten „Ostblockländer“, die mit den Folgen der Sowjetära, nämlich ökonomischer Rückschrittlichkeit, Stagnation und Armut, konfrontiert sind.
Im vorliegenden Band steht nicht die Idee einer europäischen Einheit per se im Mittelpunkt der Betrachtungen, sondern die differenzierten Bedeutungen eines Europa-Konzepts auf den verschiedenen nationalen Schauplätzen. Das Europa-Konzept sollte, nach Meinung der Herausgeber, als ein Diskurs und ideologisches bzw. politisches Programm betrachtet werden. Europa nimmt hier Proportionen eines unerreichbaren Ideals an. Die verschiedenen Kapitel des Buches stellen die Komplexität und die Widersprüche des Europa-Konzepts dar, indem sie es einerseits historisieren, auf der anderen Seite aber auch den Bezug zur aktuellen Lage herstellen. Durch die Veranschaulichung von Komplexität und Widersprüchen werden neue Möglichkeiten erwogen. Auch vor Risiken des Europa-Konzepts wird bisweilen gewarnt. Somit versteht sich das Buch nicht a priori als Geschichte, sondern als ein Instrument, um die Gegenwart zu interpretieren.
Besonders hervorzuheben ist die Verbindung zwischen den östlichen und westlichen, sowie nördlichen und südlichen Ländern. Finnland, Schweden, die baltischen Staaten, Griechenland bleiben in europäischen Monographien unberücksichtigt. Durch die gleichzeitige und aufeinander bezogene Problematisierung von Nationalisierung und Europäisierung wird tatsächlich eine neue Qualität in der Analyse dessen, was „Europa“ für verschiedene Gruppen in Europa meint, erreicht.