M. Hettling: Volksgeschichten im Europa der Zwischenkriegszeit

Title
Volksgeschichten im Europa der Zwischenkriegszeit.


Editor(s)
Hettling, Manfred
Published
Göttingen 2003: Vandenhoeck & Ruprecht
Extent
372 S.
Price
€ 28,90
Rezensiert für 'Connections' und H-Soz-Kult von:
Matthias Middell, Zentrum für Höhere Studien, Universität Leipzig

War die deutsche Volksgeschichte eine Besonderheit, oder fügte sie sich in einen breiteren historiographischen Trend nach dem Ersten Weltkrieg ein? Die Frage hat in dem breiten Interesse, das der radikalisierten Ethnohistoriographie in den letzten Jahren gewidmet wurde, kaum eine Rolle gespielt. Zwar richtete sich die Aufmerksamkeit insoweit auf die internationalen Bezüge, als die Volksgeschichte mit dem Revisionismus des Versailler Vertragswerkes nach Westen wie nach Osten in enger Verbindung stand und auf den Kriegseinsatz der Geisteswissenschaftler nach 1939 vorbereitete, aber diese beziehungsgeschichtlichen Untersuchungen (etwa zu den irridentistischen Bewegungen von Belgien bis zum Baltikum) wurden nicht ergänzt durch einen Vergleich mit möglichen eigenständigen Entwicklungen in anderen europäischen Ländern.

Die von Manfred Hettling initiierte Sektion auf dem Hallenser Historikertag 2002 bot Gelegenheit, diese Lücke zu schließen, eingeladen waren mit Moshe Zimmermann, Christian Jansen, Lutz Raphael, Bo Strath, Anna Veronika Wendland, Jan Piskorski, Peter Haslinger, Holm Sundhaussen für die anschließende Publikation ausgewiesene Spezialisten der Historiographien des Zionismus, Italiens, Frankreichs, Schwedens, des Baltikums, Polens, der Tschechoslowakei und Serbiens in der Zwischenkriegszeit, deren Aufsätze eingerahmt werden von Überlegungen Jörg Fischs zur Entwicklung der Kategorie Volk in der europäischen Völkerrechtsdebatte am Ende des Ersten Weltkrieges, von Willi Oberkrome mit einem Überblick zu Varianten deutscher Volksgeschichte zwischen 1900 und 1960 sowie Reinhard Blänkners über den Beitrag Otto Brunners zu einer europäischen Sozialgeschichte.

Voraussetzung eines so konzipierten kontrastiven Vergleichs ist die Formulierung klarer Parameter, mit denen nach Spuren eines Idealtyps gefahndet werden kann. Dementsprechend versucht der Herausgeber zunächst diesen Idealtyp von der Aufladung mit den konkreten Erscheinungsformen der deutschen Volksgeschichte zu befreien. Volksgeschichte sei auf eine im Prinzip nicht genauer zu fassende Kategorie gegründet, in der die Idee der Zumutung einer (kulturell und/oder historisch, politisch, religiös, biologistisch, territorial) konstruierten Vergemeinschaftung liege, die sich besonders durch „affektuelle Gemeinsamkeit“ auszeichne. Erst von hier aus ließen sich die unterschiedlichen Varianten von Volksgeschichte diachron und synchron differenzieren. Der Volksbegriff kleidete eine sich ausdifferenzierende Gesellschaft in das Gewand der Gemeinschaft. In den deutschen Territorien versprach er zudem zu Beginn des 19. Jh. Kompensation für die noch nicht erreichte Nation, die in Frankreich seit der Revolution den Zusammenhalt repräsentierte. Da „Volk“ im Deutschen eine vorindividuelle und außerstaatliche Gemeinschaft bezeichnete, ließ sich der Begriff auf besondere Weise politisch mobilisieren.

An dieser Stelle seiner Einleitung verläßt der Herausgeber den Pfad des theorieambitionierten und an der jüngeren Nationalismusforschung ausgerichteten Vergleichs und widmet sich einer Beschreibung volksgeschichtlicher Historiographie im Deutschland der Weimarer Republik, für die er zu Recht darauf aufmerksam macht, daß sie eine größere Varianz ausgezeichnet habe, als die alleinige Verbindung mit Rassismus und der Idee ethnischer Homogenität es annehmen läßt. Dabei stellt sich heraus, daß die Privilegierung rassischer Argumenten nur von einem Teil der deutschen Volkshistoriker betrieben wurde, während die Verbindung von Volk und Raum ein weiter verbreitetes Thema war.

Im internationalen Vergleich zeigt sich dann, daß Volksgeschichten überall in Europa anzutreffen sind, aber die starke Betonung der Staatlichkeit (in den alten Nationalstaaten Nordwesteuropas ebenso wie im faschistischen Italien) eine Barriere gegen die Überbetonung von Rasse und Raum als Komplementärkategorien einer Volksgeschichte nach deutschen Muster bildeten. Dort, wo Territorium besonders interessierte, wie etwa im Baltikum, ergaben sich trotzdem Unterschiede zur deutschen Variante, weil nicht expansive Grenzrevision, sondern Bestandssicherung des gerade errungenen Raumes die Geschichtsschreibung, die auf ältere Staatstraditionen verwies, antrieb. Nicht die Volksgeschichte an sich bildet die Besonderheit der deutschen Historiographieentwicklung, sondern ihr Übergang von einer Aufladung mit territorialen Revisionsforderungen zu rassischen Begründungen, die dem Volk nicht nur eine irgendwie begründete Wesenheit zuschrieben, sondern seine biologistisch gedeutete Homogenität zur Voraussetzung des angestrebten Erfolges machten. Vor diesem Maßstab bleiben dann zahlreiche Volksgeschichten auch in Deutschland gewissermaßen im „europäischen Durchschnitt“ und nur einige, letztlich weder intellektuell noch institutionell besonders herausragende Autoren (für die Hettling immer wieder auf Adolf Helbok verweist), überschritten dieses Maß, hierin in Europa nur von der serbischen Volksgeschichte begleitet.

Wir gewinnen mit diesem komparatistischen Band, der im wesentlichen Negativbefunde gegenüber der Ausgangsfrage präsentiert, vor allem ein differenziertes Verständnis von Volksgeschichte, oder anders gesagt: der Terminus bezeichnet so verschiedene Varianten, daß sein rein pejorativer Gebrauch nicht mehr angemessen erscheint, wenn man etwa Christians Jansens Hinweis auf die faschismuskritische Zeitschrift Popoli und die dort vertretene Volksgeschichte folgt.

Hettling weist auch darauf hin, daß die Volksgeschichte nach 1945 in weit geringerem Umfang jene Sprengkraft aufwies, die sie nach 1918 gewonnen hatte: weil die Verbindung zum Rassismus delegitimiert war, weil Forderungen nach Grenzrevision kaum mehr eine Rolle spielten und weil die Zwangsmigrationen der Zwischenkriegszeit und die neue Lage des Kalten Krieges die Spannungen verringert hatten, auf die sich eine politisch instrumentalisierbare Volksgeschichte berief.
Der Vergleich erbringt eine nach Zeit und Ort genauer bestimmte und in ihrer Vielfalt typologisch aufgefächerte „Volksgeschichte“, aber die genaueren Gründe, warum eine auf Rasse und räumliche Expansion fixierte Geschichtsschreibung in Deutschland besonders verheerend wirkte, sind damit noch nicht aufgedeckt. Dies hat m.E. mit zwei grundsätzlicheren methodischen Problemen zu tun.

Der Band beschränkt sich darauf, Historiographie ins Verhältnis zur Entwicklung eines Landes bzw. eines „Volkes“ zu setzen, so als reflektierten Historiker ausschließlich in geistesgeschichtlicher Weise die allgemeinen Verhältnisse ihrer Nation. Vom Kampf um Ressourcen, vom Versuch, Einfluß auf politische Entscheidungen und die öffentliche Meinung zu gewinnen, von Bündnissen mit Vertretern anderer Fächer für die Erhöhung des eigenen Prestiges ist kaum die Rede – so als stünden Historiker zwar zuweilen in Gefahr, durch Denkfehler auf falsche Ideen zu kommen, aber seien sonst nur wenig verflochten mit den politischen Strukturen ihres Landes und ihre alltäglichen kleinen Kämpfe um Geltung hätten mit den Gedankengebäuden nichts zu tun.

Das zweite Problem, daß nämlich die Durchsetzung eines Phänomens erst vor dem Hintergrund möglicher Alternativen verständlich wird, scheint am deutlichsten in Raphaels Beitrag auf: Immunisierung gegen die fatalen Schlußfolgerungen, die aus den Schriften der radikalisierten Volkshistoriker (auch von diesen selbst!) gezogen wurden, hatte in Frankreich auch mit der 150 Jahre zurückliegenden Revolution zu tun, vor allem aber mit der Tatsache, daß die Annales die prestigeträchtige Innovationsbehauptung auf einen ganz anderen Typ von Sozialgeschichte gründeten und dafür heftig kämpften, auch und gerade gegen die Deutungsansprüche ihrer völkisch orientierten Kollegen in Deutschland. Gerade jener Pfad einer international vergleichenden Sozialgeschichte, der sich der Konstruiertheit der verwendeten Kategorien bewußt war, hatte jedoch im deutschen Methodenstreit vor 1900 und in den Kontroversen über das Verhältnis von Soziologie und Geschichte im Jahrzehnt vor dem Ersten Weltkrieg eine Niederlage erlitten und war marginalisiert worden. Dies, und der Kriegseinsatz deutscher Historiker 1915-17 hatten den Weg frei gemacht für die seit dem Historikertag 1924 von Frankfurt/ Main energisch aufstrebenden Ethnohistoriker, denen auch Liberale wie Walter Goetz kaum entgegentraten, um statt dessen an den Würden, die für die Erforschung des Auslandsdeutschtums zu gewinnen waren, gern zu partizipieren. Nicht jeder, der über Grenzlanddeutsche dozierte und „Volk“ als Kategorie benutzte, gehörte zu den radikalisierten Ethnohistorikern, darin ist dem Band uneingeschränkt zuzustimmen, aber die geringe Zahl derjenigen, die die Stimme offen gegen alle völkischen Erklärungsmuster erhoben, blieb im Vergleich geringer als in anderen Ländern. Gerade um diesen Punkt aber hat sich die Debatte um die Kontinuitäten der Volksgeschichte nach 1945 gedreht – ihre platte Fortsetzung war nach dem Krieg ausgeschlossen, die energischen Verurteilungen aber blieben in der Bundesrepublik leise, so daß sensible Beobachter im Ausland den Verdacht hegten, ganz sei das völkische Gedankengut nicht ausgerottet.

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21.09.2004
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Diese Rezension entstand im Rahmen des Fachforums 'Connections'. http://www.connections.clio-online.net/
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