B. Unfried u.a. (Hgg.): Labour and New Social Movements

Titel
Labour and New Social Movements in a Globalising World-System.


Herausgeber
Unfried, Berthold; van der Linden, Marcel
Reihe
ITH-Tagungsberichte 38
Erschienen
Anzahl Seiten
253 S.
Preis
€ 25,00
Rezensiert für 'Connections' und H-Soz-Kult von:
Matthias Middell, Zentrum für Höhere Studien, Universität Leipzig

Arbeitergesichte hat in den letzten anderthalb Jahrzehnten erheblich an Gewicht in der Geschichtswissenschaft verloren. Der Zusammenhang zum Legitimationsverlust des Marxismus und dem Zusammenbruch des Realsozialismus, der sein Gesellschaftsbild auf eine bestimmte Arbeitertradition stützte ist dafür ebenso der Hintergrund wie die Transformation der Arbeitswelten in den Industrieländern, aus denen immer mehr Arbeitsplätze jener Branchen, die die erste und zweite Industrielle Revolution geschaffen hatte, verschwinden. Es war aber nur eine Frage der Zeit, eine neue Generation von Historikern den Horizont der Arbeitergesichte so erweitert, dass nicht Verschwinden, sondern Verlagerungen in den Blick kommt. Die internationale Tagung der HistorikerInnen, der Arbeiter- und anderen sozialen Bewegungen, die im jährlichen Rhythmus Experten aus verschiedenen europäischen Ländern und diesmal auch aus den USA, Argentinien, China zusammenführen, hat ihre 39. Veranstaltung 2003 den Bewegungen in einem sich globalisierenden Weltsystem gewidmet. Mitherausgeber Marcel van der Linden, zugleich Forschungsdirektor am Internationalen Institut für Sozialgesichte in Amsterdam, hat an anderer Stelle die vielfältigen Möglichkeiten einer so erneuerten globalisierten Arbeitergesichte, die nicht allein Arbeiterbewegungsgesichte ist, skizziert und widmet seinen Linzer Konferenzbeitrag den Entwicklungschancen internationaler Gewerkschaften, die in den Industrieländern in den letzten Jahren in eine Defensivposition geraten sind.

Eine Reihe von Beiträgen dieser Konferenz sind nach wie vor der Perspektive der entwickelten Industriestaaten zuzuordnen. So ziehen Günther Benzer und Jochen Homann, die in der DDR als Spezialisten für die Gesichte der Arbeiterbewegung und der Bürgerlichen Gesellschaft des 19. Jahrhunderts tätig waren, einen Vergleich zwischen der ersten Welle der Globalisierung 1850-1880 mit der ersten Internationale als Antwort der Arbeiterbewegung und dem aktuellen Aufschwung globaler Marktbeziehungen, bleiben dabei aber im Wesentlichen beschränkt auf die Organisationsformen, die sich in Westeuropa und Nordamerika herausgebildet haben. Die Autoren des Bandes beurteilen insgesamt den Stellenwert von Globalisierung uneinheitlich: die Einen deuten sie als eine schillernde diskursive Konstruktion, die der Untergrabung staatlicher Einhegungen des Kapitalismus mit dramatischen Folgen für die sozialen Errungenschaften der Beschäftigten dienen soll, dies nicht nur im Norden, sondern auch in Ländern wie Argentinien und China. Andere sehen sie als Kontext, auch eines neuen Aufschwungs der sozialen Bewegungen, die nicht mehr nur aus der Widerständigkeit traditioneller Industriearbeiter gegen die Ausdehnung von Ausbeutung besteht, sondern ein sozial und kulturell viel heterogeneres Spektrum von Bewegungen einschließt.

Beverly J. Silver gibt eine Interpretation der langen Dauer für Auf- und Abschwünge der Arbeiterbewegung anhand eines Indexes von Streikbewegungen und sozialen Erhebungen und sieht im Rahmen ihres Weltsystemansatzes einen engen Zusammenhang zu den großen Kriegen des späten 19. und der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts (mit einer wachsenden Verhandlungsmacht der Arbeiter) und dem Abflauen der Konflikte in der zweiten Hälfte des Jahrhunderts, während sie mit dem 11. September 2001 eine neue Internationalisierung der Konflikte und eine korrespondiere Bewegung gegen die Zentralisierung privater Profite für eine weltweite militärische Konfrontation sieht, die an die Verhandlungsmacht der Oppositionen im frühen 20. Jahrhundert anknüpfen könnte (S. 38).

Marcel van der Linden fragt, wie bereits erwähnt, nach dem Gesicht, das die internationale Gewerkschaftsbewegung nach der seit den 1960er Jahren zu beobachtenden Transitionen zeigen wird: weniger an den alten Proletariatsstrukturen des atlantischen Raumes ausgerichtet, sondern auf die ambivalenten Arbeitsverhältnisse in Afrika, Asien und Lateinamerika fixiert; statt des klassischen Doppelspiels von nationaler Organisation und internationalem Verbund eine transnationale Mischstruktur zur Stärkung der Verhandlungsmacht gegenüber ebenfalls transnational organisierten Konzernen; unbürokratischer und demokratischer dafür an den konkreten Aktionsformen der Mitglieder ausgerichtet (S. 122ff.).

Andrew Herod fügt die Ergebnisse seiner Feldforschung über osteuropäische Gewerkschaften nach dem sowjetischen Modell und der Privatisierungswelle der 1990er Jahre hinzu. Nimmt man schließlich die Beiträge von Minjie Zhang über Chinas Arbeitsmigration und von Ricardo Arondskind über den Zusammenprall von Globalem und Lokalem in der lateinamerikanischen Arbeiterbewegung hinzu, wird deutlich, dass eine global ausgerichtete Arbeitergeschichte nicht als Extrapolation bisheriger Narrative auf neue Weltgegenden geschrieben werden kann, sondern der sorgfältigen empirischen Arbeit und ihrer Diskussion anhand einer gemeinsamen Agenda bedarf. Ein Anfang ist gemacht, man kann sich nun fragen, wann die neue Arbeitergeschichte auch hierzulande das Interesse der Forschungsförderer findet.

Redaktion
Veröffentlicht am
22.09.2006
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Diese Rezension entstand im Rahmen des Fachforums 'Connections'. http://www.connections.clio-online.net/
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