R. Musil: Wien in der Weltwirtschaft

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Title
Wien in der Weltwirtschaft. Die Positionsbestimmung der Stadtregion Wien in der internationalen Städtehierarchie


Author(s)
Musil, Robert
Series
Beiträge zur europäischen Stadt- und Regionalforschung 4
Published
Münster 2013: LIT Verlag
Extent
243 S.
Price
€ 24.90
Rezensiert für 'Connections' und H-Soz-Kult von:
Felix Butschek, Wien

Es gilt eine interessante und innovative Arbeit über „Wien in der Weltwirtschaft“ anzuzeigen. Gewiss wurde die Stadt bisher sowohl aus wirtschaftshistorischer als auch regionalökonomischer Perspektive mehrfach untersucht. Das ergab sich schon aus dem Umstand, dass sich ihre Position im Verlauf durch exogene politische wie ökonomische Determinanten wiederholt grundlegend änderte. Robert Musil geht in seiner Studie aber über diese Ansätze hinaus, indem er die Einbindung Wiens in das gesamte internationale Städtenetzwerk untersucht, und zwar nicht nur für die Gegenwart oder jüngere Vergangenheit, sondern auch für die fernere, mit dem Argument, dass Wien nunmehr wieder seine sozusagen klassische regionalökonomische Funktion übernommen hätte.

Seine theoretischen Überlegungen gehen im Wesentlichen von Sassens „Global City Ansatz“ aus, der annimmt, dass das Netzwerk dieser Städte auf Kapital- und Kontrollverflechtungen multinationaler Konzerne beruht und damit die räumliche Struktur der Weltwirtschaft determiniert. Die Studie zielt aber nicht auf die Verflechtungen des einzelnen Unternehmens ab, sondern auf die aggregierten von Städten. Zu einer „Global City“ wird aber die Stadt nicht allein durch die Produktion, sondern auch durch das Vorhandensein des spezifischen Wissens darüber, wie man weltweite Verflechtungen gestaltet und kontrolliert. Musil ergänzt den Ansatz von Sassen durch Friedmanns „World City Hypothesis“, die die Hierarchie globaler Kontrollverflechtungen multinationaler Konzerne für die Struktur des Städtesystems als maßgeblich betrachtet, welche sich am Kapitalfluss ablesen lässt. Während also der „Global City“ Ansatz die Zentralität in den Mittelpunkt seiner Überlegungen stellt, übernimmt die Hierarchie diese Funktion für die „World City Hypothesis“.

In der Folge erläutert der Autor umfassend die theoretische Entwicklung der Regionalökonomie sowie die Rolle der Städtenetze darin, die Funktion des Geldes und den Zusammenhang von unternehmerischer Kontrolle und räumlichen Hierarchien. Sodann präsentiert er seinen methodischen Ansatz, nämlich der ausländische Direktinvestitionen als Indikator regionaler Kontrollverflechtungen.

Den empirischen Ergebnissen geht eine Darstellung der vielfältigen ökonomischen Entwicklung Wiens voran. Er geht von dessen Funktion als Zentrums der k.u.k. Monarchie aus, also eines Großstaates mit 52 Millionen Einwohnern, aber sehr unterschiedlicher Wirtschaftsstruktur. Diese Funktion bewirkte eine dynamische Wirtschaftsentwicklung, in deren Rahmen sich die Stadt als Finanzzentrum der Region etablierte. Einen dramatischen Einbruch erfuhr sie mit dem Zerfall der Habsburger Monarchie, als sie sich als Kapitale eines Kleinstaates mit restringierten Außenhandels - und Finanzierungsmöglichkeiten - wiederfand. Die Anpassung an die neuen Gegebenheiten, insbesondere des Bankensektors, misslang, was in der Weltwirtschaftskrise zum Zusammenbruch der größten österreichischen Bank, der Credit Anstalt, mit Konsequenzen für gesamte europäische Wirtschaft führte.

Nach Überwindung der Folgen des 2. Weltkriegs erlebte die österreichische Wirtschaft einen stürmischen Aufschwung, an dem Wien nur beschränkt teilnahm, da die traditionellen Bande zu Osteuropa kaum mehr existierten. Zwar zählte Österreich zu den führenden Akteuren des „Osthandels“, doch entfiel auf diesen nur ein Bruchteil des Außenhandels.

Eine neuerliche dramatische Veränderung vollzog sich mit dem politischen und ökonomischen Wandel der ostmitteleuropäischen Staaten. Musil meint, dass sich in dieser Phase die „nachholende Internationalisierung der österreichischen Wirtschaft“ vollzogen habe, abzulesen an der kräftig expandierenden Exportquote sowie den steil ansteigenden Direktinvestitionen im Ausland – letztere freilich überwiegend in Osteuropa. Hier seien Österreich die historischen Beziehungen zu diesen Ländern zu Gute gekommen; die österreichischen Unternehmen hätten sich rascher und zielstrebiger zu Recht gefunden als westlichen Staaten.

Diese Gegebenheiten schlugen sich in einem höheren Exportanteil der Oststaaten nieder (wenngleich er noch immer weit hinter dem der Vorkriegszeit zurückblieb). Als interessant jedoch erweist sich das geänderte Investitionsverhalten, insbesondere von Wiener Unternehmungen. Spielten bis dahin österreichische Direktinvestitionen im Ausland praktisch keine Rolle, stiegen sie nun sprunghaft an und aktivierten die Bilanz. Die überwiegende Zahl dieser Investitionen ging von Wien aus, vor allem von den Großbanken sowie den ehemals verstaatlichten Betrieben, wie der OMV oder der Telekom sowie von Handelsketten. Die Aktivierung der Bilanz erfolgte, wiewohl sich auch die Zahl passiven Direktinvestitionen als Folge der Ostöffnung in Wien beträchtlich erhöht hatten.

Diese Analyse konnte nur realisiert werden, weil Musil, in Zusammenarbeit mit der Österreichischen Nationalbank, einen Datensatz über ausländische Direktinvestitionen konstruierte, der von 1989 bis 2005 reichte. Mit Hilfe dieser Daten sollte auch geprüft werden, ob sich die Position Wiens im internationalen Städtenetzwerk verändert hatte.
Wien zählt nach der Analyse von Sassen nicht zu den höherrangigen Städten, sondern zu den „semiperipheren Zentren“. Seine Verflechtungen bleiben vorwiegend auf Europa konzentriert, nur wenige Verbindungen existieren zu außereuropäischen Städten, vor allem höherrangiger Natur, wie etwa New York. Auch in Europa konzentrieren sich die Verbindungen auf wenige Städte Nordwest- und Zentraleuropas, wie etwa London, München oder Zürich. Die Kapitalbilanz gestaltet sich zu diesen überwiegend passiv – Wien ist also vorwiegend Empfänger ausländischer Direktinvestitionen.

Im Untersuchungszeitraum hat die internationale Verflechtung Wiens generell zugenommen, als entscheidend erwies sich aber die neue Verbindung mit Ostmitteleuropa, insbesondere mit Städten wie Prag, Budapest oder Bratislava. Damit vollzog sich nicht nur eine regionale Verschiebung der Kapitalverflechtung, sondern änderte sich auch die Kapitalbilanz. Dieser Wandel vollzog sich sowohl durch direkte als auch indirekte Investitionen, letztgenannte, durch Wiener Niederlassungen ausländischer Konzerne. Darin sieht der Autor eine Wiederkehr der historischen Funktion der Stadt, nämlich als Drehscheibe zwischen den westeuropäischen und den ostmitteleuropäischen Volkswirtschaften. Diese neue Entwicklung habe allerdings zu keinem Aufstieg Wiens im „Global City Netzwerk“ geführt.

Die Arbeit Musils enthält eine Fülle weiterer Untersuchungen, wie etwa über den Einfluss der räumlichen Distanz oder des Wohlstandsgefälles auf die Kapitalverflechtung.

Einige kritische Bemerkungen: Wiens historische Funktion beschränkte sich keineswegs auf die einer Residenzstadt. Wien sowie sein Umland repräsentierten das größte industrielle Zentrum der Monarchie in den frühen Phasen der Industrialisierung.1 Noch nach 1945 verfügte Wien über einen relativ hohen Industrieanteil. Die deutschen Investitionen während des Krieges stellen keinesfalls eine „nachholende Industrialisierung“ dar. Das heutige österreichische Bundesgebiet zählte zu den europäischen Industriestaaten mit einem seit 1913 ähnlichen Einkommensniveau wie in Deutschland. Die Investitionen brachten einen kräftigen Wachstumsimpuls, insbesondere für Westösterreich. Auch sollte die Bedeutung des „Osthandels“ vor 1989 nicht überschätzt werden, sein Anteil an den Exporten ging stetig zurück und lag 1990 bei 10,4%. Die Formulierung von der „nachholenden Internationalisierung“ Österreichs durch die Ostöffnung ist zu akzentuiert. Denn Westösterreich blieb die ganze Zeit nach 1945 intensiv in den westeuropäischen Handel eingebunden, ebenso expandierte die Exportquote, wenngleich etwas schwächer.

Mit der Weiterentwicklung der osteuropäischen EU Staaten scheint es fraglich, ob Wien seine wiedergewonnene historische Drehscheibenfunktion im vollen Ausmaß beibehält. Auch Robert Musil sieht darin eine offene Frage. Es wird vielfach angenommen, dass das Engagement in Osteuropa der österreichischen Wirtschaft beträchtliche Wachstumsimpulse gebracht habe. Zugleich scheint es, dass die gegenwärtige Stagnation mit den großen Schwierigkeiten der Wiener Banken in dieser Region zusammenhängt, ebenso wie jene der Handelsketten, welche durch die repressive Gesetzgebung des Orban Regimes entstanden sind. Hier eröffnet sich der Forschung ein Neuer Bereich.

Alles in allem handelt es sich um eine äußerst verdienstvolle innovative Arbeit, deren Lektüre zu empfehlen ist.

Anmerkung:
1 Felix Butschek, Wien als Motor der österreichischen Wirtschaftsentwicklung, in: Wiener Geschichtsblätter, Nr. 1/2011, S. 1-23.

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03.07.2015
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Diese Rezension entstand im Rahmen des Fachforums 'Connections'. http://www.connections.clio-online.net/
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