D. Feest u.a. (Hrsg.): Die Zukunft der Rückständigkeit

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Title
Die Zukunft der Rückständigkeit. Chancen - Formen - Mehrwert


Editor(s)
Feest, David; Häfner, Lutz
Published
Köln 2016: Böhlau Verlag
Extent
608 S.
Price
€ 69,90
Rezensiert für 'Connections' und H-Soz-Kult von:
Dirk van Laak, Historisches Seminar, Universität Leipzig

In Bezug auf die Geschichte Russlands sprach der Osteuropahistoriker Manfred Hildermeier Mitte der 1980er-Jahre von einem „Privileg der Rückständigkeit“. Damit prägte er eine Denkfigur, die auf den ersten Blick paradox erscheint. Denn worin könnte der Vorteil liegen, in historischen Entwicklungsprozessen hinterdrein zu laufen? War die Geschichte zumindest der Sowjetunion nicht vielmehr davon geprägt, auch dort als historische Vorhut zu erscheinen, wo die Fakten dagegen sprachen? Hildermeier stellte eine These in den Diskursraum und kam selbst immer wieder darauf zurück, zuletzt in seiner „Geschichte Russlands“ von 2013.

Seit der Prägung des Theorems ist freilich viel passiert. Postkoloniale, subalterne und kulturwissenschaftliche Studien haben darauf hingewiesen, wie vorurteilsbehaftet die meisten wertenden Vergleiche zwischen gesellschaftlichen Entwicklungsstadien sind. Aus einer zentralen Warte erschienen „periphere“ Regionen und Gesellschaften in Afrika, im Orient, auf dem Balkan oder im Osten stets unterhalb ihrer Potentiale geblieben zu sein. Das half dem Selbstbild des Westens auf die Sprünge und rechtfertigte Interventionen, um diese Gebiete zu „modernisieren“. Ein „Privileg“ wurde allenfalls dort konstatiert, wo autochthone Entwicklungen einer vermeintlich destruktiven „Europäisierung“ gegenübergestellt und gefeiert wurden.

Zum 65. Geburtstag Hildermeiers haben sich 2013 eine Reihe von Autoren zusammengefunden, um Chancen, Formen und den Mehrwert der Rede von der „Rückständigkeit“ zu diskutieren. Um wen es sich dabei handelt, muss man freilich ergoogeln. Der Band selbst, dem immerhin ausführliche Indizes beigefügt wurden, gibt über die AutorInnen und deren Verhältnis zum Jubilar keine Auskunft. Im Folgenden sei kurz wiedergegeben, worum es in den Beiträgen geht.

Jürgen Kocka zeigt sich eingangs von der Infragestellung der Kategorie „Rückständigkeit“ etwas irritiert. Er argumentiert mit Autoritäten seit Augustinus, dass es bei einem reflektierten und selbstkritischen Umgang sehr wohl möglich sei, historische Bewegungsrichtungen als „prozessual relativ fortgeschritten oder relativ rückständig“ (S. 35) zu beurteilen. Horst Möller weist auf die normativen Dimensionen der Rückständigkeits-Diagnosen seit der Aufklärung hin. Die Vertreter des „deutschen Sonderwegs“ hätten sich daher zu Richtern über die Vergangenheit aufgeschwungen. Möllers von prägenden Theoretikern seiner Studienzeit flankierte Attacke gilt freilich einer Leiche.

Maria Rhode verweist darauf, dass die Kategorie der „Rückständigkeit“ von Alexander Gerschenkron als eine Normabweichung im Bereich einer modernisierungsfixierten Wirtschaftsgeschichte eingeführt wurde. In Russland und Polen sei dies nicht nur eine Fremdwahrnehmung gewesen, sondern habe auch der Selbstverständigung gedient. Der vorurteilsbehaftete Begriff verstelle aber den Blick auf ein facettenreiches Osteuropa. Lutz Häfner weist nach, dass „Rückständigkeit“ seit der Wende ins 20. Jahrhundert und bis in die Werbesprache hinein ein häufig verwendeter Quellenbegriff war. Für wertneutrale Vergleiche erfülle er weiterhin seinen Zweck. Hartmut Kaelble sieht in der aktuellen Debatte um einen vermeintlich unterentwickelten Süden Europas eine zugespitzte und zugerichtete Interpretation der Wirklichkeit. Tatsächlich wären die heutigen Disparitäten innerhalb der Europäischen Union vergleichsweise milde. Der Begriff der „Rückständigkeit“ verweise vor allem auf Umverteilungskonflikte.

Maureen Perrie kommt zu dem Schluss, dass die unter Peter dem Großen kodifizierte Leibeigenschaft einer wirtschaftlichen und militärischen Entwicklung durchaus zuträglich war. Politisch sei sie aber regressiv gewesen und habe im 19. Jahrhundert die weitere Modernisierung Russlands gehemmt. Malte Griesse spürt den wechselnden Bewertungen von Revolten und Revolutionen zwischen Absolutismus und Aufklärung nach. Sie seien erst vom aufgeklärten Staat als reaktionär, dann sei der Staat selbst als „rückständig“ gewertet worden. Die Bolschewiken versuchten beiden Wertungen zu entkommen, indem sie die revolutionäre Staatspartei zum Träger des historischen Fortschritts deklarierten.

Ulrike von Hirschhausen wendet das Theorem auf die Habsburgermonarchie an und relativiert es dabei. Die Interpretationsfigur der wirtschaftlichen Rückständigkeit missachte die sozial und ethnisch integrativen Kräfte einer durchaus modernen Arbeitsteilung. Der inzwischen verstorbene Rudolf von Thadden zeichnet ein differenziertes Bild von Pommern als der vermeintlich „rückständigen“ Provinz Preußens. Verena Dohrn thematisiert Paradoxien der russischen Altgläubigen und sieht in ihrem dynamischen Verhältnis von Tradition und Moderne letztlich „die Denkfigur der Geschichte als Fortschritt ins Leere“ (S. 217) laufen.

David Feest weist auf die Bedeutung neuer Formen hin, mit denen standardisiertes Wissen über russische Bauern oder eine „modere“ Bürokratie generiert wurde. Erst hierdurch seien faktenbasierte Vergleiche mit westlichen Gesellschaften ermöglicht worden. Daraus wurde im Zarenreich aber der Schluss gezogen, Bauerngemeinden eher zu isolieren, als von Seiten des Staates dort zu intervenieren. Lutz Häfner erinnert an den liberalen Nationalökonomen Aleksandr A. Kaufman. Einige seiner weithin vergessenen Werke drehten sich um die Frage der kolonisatorischen Betätigung (pereselenie) russischer Bauern im Ancien Régime. Gegen die herrschende Meinung sah er in der Intensivierung der Landwirtschaft einen Ausweg aus der Krise.

Björn M. Felder vermisst ausgewählte Felder der Wissenschaft und der Medizin in der Absicht, die fortgesetzten Spannungen zwischen politisierten und professionell-positivistischen Ansätzen in Russland zu diskutieren. Zu Irrtümern mit entsprechenden Konsequenzen führten aber beide Denkstile, wofür bis heute der Name Trofim Lysenko steht. Alexander M. Martin dokumentiert die von Katharina II. angestoßenen Bemühungen, Moskau zu einer modernen Stadt umzugestalten. Bis zum Ende des 19. Jahrhunderts wurde zwar infrastrukturell vieles auf den Weg gebracht. Der Abstand zu den noch dynamischeren Metropolen Westeuropas konnte aber kaum verringert werden.

Ernst Wawra analysiert die politische Plakatkunst der frühen Sowjetunion, in der die Bolschewiki für eine überwiegend illiterate Bevölkerung fortgesetzt das Neue gegen das Alte ausspielten. Katja Bruisch zeigt, wie russische Agrarexperten sich am Vorbild der USA abarbeiteten. Dietmar Neutatz skizziert den Gang der automobilen Entwicklung in der Sowjetunion und Kirsten Böhnker schließlich die Rolle des Fernsehens. Trotz der fortgesetzten Rede vom „neuen Menschen“ stellte sich heraus, dass der „Sowjetmensch“ sich in seinem Freizeitverhalten kaum vom westlichen Bourgeois unterschied.

Beim Gang durch die Beiträge fällt auf, dass viele der Älteren fröhlich theoretisieren, während die jüngeren Autoren eher konkrete und quellennahe Geschichten beisteuern. Auch scheint der wissenschaftliche Nachwuchs empfänglicher für die kulturellen Widersprüche dieses relativen Konzepts zu sein. Von dem Begriff wirklich verabschieden möchte sich aber nur Maria Rhode. Alle anderen halten ihn auf die eine oder andere Art weiterhin für tauglich, Zustände und Relationen zu beschreiben, vielleicht sogar zu werten.

Etwas unterbelichtet bleiben politik-, sozial- oder wissenschaftsstrategische Facetten der Rede von vermeintlicher „Rückständigkeit“, auf die schon vor geraumer Zeit etwa Bernd A. Rusinek hingewiesen hatte. Hier ist sie eher ein Maßstab, der mögliche Abgründe prognostiziert, als einer, der tatsächlich davongestürmten Konkurrenten hinterherblickt. Das wussten nicht nur die russischen Eliten, welche spätestens im 19. Jahrhundert damit begannen, die Lage ihres Landes als defizitär zu beschreiben. Politisch gewendet, vermag die Diagnose bis heute zu mobilisieren und politische Gestaltung zu begründen.

Insgesamt hat man es mit einer sehr nützlichen Sammlung von Beiträgen zur russischen und osteuropäischen Geschichte des 17. bis 21. Jahrhunderts zu tun. Sie argumentiert zwar nicht durchweg auf dem Stand der internationalen Debatten um kulturelle Beschreibungs- und Analysekonzepte. Der Jubilar dürfte dennoch zufrieden sein, schon in seiner Göttinger Antrittsvorlesung einen gewichtigen Emeritierungsband angeregt zu haben.

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10.11.2017
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Diese Rezension entstand im Rahmen des Fachforums 'Connections'. http://www.connections.clio-online.net/
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