Steinberg: Saudi-Arabien

Title
Saudi-Arabien. Politik, Geschichte, Religion


Author(s)
Steinberg, Guido
Published
München 2014: C.H. Beck Verlag
Extent
Price
€ 16,95
Rezensiert für 'Connections' und H-Soz-Kult von:
Uwe Pfullmann, Gornsdorf

Von den 19 Attentätern des 11. September kamen 15 aus Saudi-Arabien – mit dieser Feststellung im Schmutztitel beginnt der Autor seinen geschichtlichen und sozio-ökonomischen Exkurs über das Land mit der heiligen Städten Mekka und Medina. Im Vorwort geht Guido Steinberg auf die dringendsten Probleme und Widersprüche Saudi-Arabiens ein und konstatiert trotz der Ausrichtung der Elite des Landes an einem modernen Stadtbild: “Dennoch hat sich eine Sozialstruktur erhalten, die an dem Ideal der traditionellen, patriarchalischen Großfamilie orientiert ist und in der der Stamm noch heute eine wichtige Rolle spielt. Nicht zuletzt herrscht die Familie Saud weiterhin in autokratischer Manier. Die in den letzten fünf Jahrzehnten entstandene Bürokratie kann über die personalisierte Form ihrer Herrschaftsausübung kaum hinwegtäuschen.” (S. 11)

In Kapitel I "Das Land und seine Bewohner" umreißt der Autor geografische Voraus-setzungen und die Vielfalt der verschiedenen Regionen. Im Abschnitt zur Geografie stellt er die fünf wesentlichen Regionen Saudi-Arabiens vor. Warum St. die englische Schreibung der Ortsnamen bevorzugt, hätte zumindest einer kurzen Erklärung bedurft. Zu Recht verweist er auf fehlende Anreize für die Festlegung anerkannter Grenzen in nomadischen Stammesgebieten und betont, dass mit der Entdeckung von Öl- und Gasfeldern „in um-strittenen und nicht demarkierten Gegenden“ (S. 14) die Bedeutung der Staatsgrenzen wuchs. Ein Großteil dieser Streitigkeiten, so der Autor, konnte inzwischen gelöst werden. Auf die einzelnen saudischen Regionen eingehend heißt es: „Aus der Region (Dir’iya) stammen die Familien Saud und auch der Reformer Muhammad b. Abdalwahhab.“ (S. 18) In einer Gesellschaft wie der saudischen weiß man dies genauer. So stammt die Familie Al Saud aus al-Hasa und wanderte im 15. Jahrhundert n.Chr. in den Nedschd ein, während der Reformer Abdalwahhab aus ’Uyaina stammte. In Kap. II präzisiert St. diese Angaben dann auch. Zur saudischen Ostprovinz hält er fest: „Al-Hasa war wichtigstes Migrationsziel der Bewohner des südlichen Najd“ (S. 18), aber auch aus al-Hasa wanderten im Gegenzug Familien nach dem Nedschd aus wie das Beispiel Al Saud belegt.

Im Unterkapitel „Klima und Wasserversorgung“ verdeutlicht Steinberg die Wasserproblematik an folgendem Beispiel besonders anschaulich: „Die Landwirtschaft ist mittlerweile der größte Wasserkonsument im Lande und für 90 % des Gesamtverbrauchs verantwortlich. Mit enormen staatlichen Subventionen wurden dort Großbetriebe aufgebaut, die Saudi-Arabien zu einem der größten Weizenexporteure weltweit gemacht haben. Dabei übersteigt der Herstellungspreis den Verkaufspreis um ein Mehrfaches, wobei die ökologischen Schäden für den Trinkwasserbestand noch nicht einmal eingerechnet sind.“ (S. 20) Zu Recht verweist er auf fehlende Anreize zum Wassersparen.

Danach schildert der Autor das Zusammenleben von urbaner oder sesshafter Bevölkerung und Beduinen als eine „prekäre Symbiose“ und erläutert anschaulich die Vielfalt dieser wirtschaftlichen Beziehungen und Abhängigkeitsverhältnisse. „Es war vor allem die lebensfeindliche Umwelt Zentralarabiens, die seine Einwohner zwang, kommerziellen Tätigkeiten nachzugehen.“ (S. 24) Am Ende dieses Kapitels - nach einem Exkurs über Kamele und Datteln – ist bilanziert: „Die jahrtausendealte Symbiose von Städtern und Beduinen besteht nicht mehr. Die Urbanisierung des Landes ist mit 70 % weit fortgeschritten, und auch die ehemaligen Nomaden haben sich in ihrer überwiegenden Mehrheit in den Städten angesiedelt.“ (S. 25)

Im Abschnitt unter der Überschrift „Ein fragmentiertes Land“ kommt Steinberg zu dem Schluss, dass „Saudi-Arabien ein zutiefst gespaltenes Land geblieben (ist). … Da es nicht gelang, einen staatlichen Integrationsprozess in Gang zu setzen, haben sich bis heute Ressentiments zwischen Najdis und den Bewohnern der eroberten Provinzen erhalten.” (S. 26) Der Autor skizziert insbesondere die Abneigung der Bewohner des Hedschas gegen die saudische Herrschaft. Besonders prekär für die saudische Herrschaft in der Provinz al-Hasa waren die Schiiten, „die den Wahhabiten besonders verhasst sind. … Erst nach 1979, als deren Opposition zu einer ernsthaften Bedrohung für den saudischen Staat wurde, beschloss die Regierung, auch die Lebensverhält-nisse der Schiiten zu verbessern.“ (S. 27 f.) Weiter führt St. Gründe für den Widerstand der Asiris gegen die saudische Herrschaft an, wie die massive Einschränkung der Rolle der Frau im öffentlichen Leben und den Kampf gegen die in Asir weitverbreitete Praxis der Schälbeschneidung bei den Männern. Anschließend verdeutlicht der Autor einen fundamentalen Charakterzug der saudischen Gesellschaft: „Am Beispiel von Asir zeigt sich ein wichtiges Chakteristikum der saudi-arabischen Gesellschaft, nämlich die eigentümliche Verbindung eines ausgeprägten Regionalismus mit einer Ideologie tribaler Distinktion.“ (S. 29) Schlüssig weist St. nach, wie in der saudischen Gesellschaft die erweiterte Familie den einstigen Platz des Stammes ausfüllt.

Kapitel II "Geschichte im Überblick" behandelt die Geschichte vom ersten saudischen Staat 1744 bis zum Beginn der Ära König Fahds (1988). Unter der Überschrift "Religiöse Vision und politische Macht" schildert der Autor die religiösen Wurzeln der Wahhabiya und ihr Wirken als staatstragende Ideologie anhand des ersten saudischen Staates.
Neben der Ablehnung aller sog. Neuerungen, des Gräberkultes etc. konnte den Wahhabiten jeder Muslim, „der sich nicht den wahhabitischen Auffassungen anschloss, nicht als solcher Gelten.“ (S. 35) Der mühsame Konsolidierungsprozess der saudischen Macht war ein Erfolgs-modell gegenüber der Vielzahl anderer Oasenstädte und deren nicht weniger ambitionierten Machthabern. „Das einigende Band einer gemeinsamen Ideologie und das Versprechen von zentralstaatlicher Kontrolle und Sicherheit verhalten dem wahhabitschen Modell jedoch zu jener Anziehungskraft, die allen Konkurrenten fehlte.“ (S. 37) Bei der Schilderung der Vernichtung des ersten saudischen Staates ist dem Autor ein Lapsus unterlaufen. Der ägyptische Pascha Muhammad Ali entsandte 1811 seinen Sohn Tusun in den Hedschas, nicht 1911. Für den zweiten saudischen Staat (1824-1891) zeigt St. Veränderungen und Bruchlinien „zwischen Herrscher und Gelehrten, die ab Ende des 19. Jahrhunderts vermehrt auftreten sollten.“ (S. 41) Der Autor schildert den Bürgerkrieg zwischen Abdallah und Saud und konstatiert: „Die Uneinigkeit zunächst innerhalb der Herrscherfamilie, danach auch unter den Gelehrten hatte zum Zusammenbruch des saudisch-wahhabitischen Staates geführt. Folglich mussten sie jede Zwiestigkeit fortan vermeiden, wollten sie den saudischen Staat und die Wahhabiya bewahren.“ (S. 43)

In wenigen, präzisen Sätzen vermag Steinberg die Unterschiede zwischen den Emiren von Riad und Hail, der nach 1865 erstarkenden Macht auf der Halbinsel, aufzuzeigen: „Die Wahhabiya hatte die tribale Struktur politischer Beziehungen in Zentralarabien immer scharf kritisiert, wenn auch nicht konsequent bekämpft. Zudem war das saudische Konzept aufgrund seiner religiösen Orientierung stark durch die Abgrenzung von nichtwahhabitischen Muslimen geprägt. Im Gegensatz dazu kooperierten die Herrscher offen mit Osmanen und Schiiten, wenn es ihren Interessen entgegenkam. Diesen unterschiedlichen Vorstellungen entsprach die voneinander abweichende religiöse Praxis der Bewohner des südlichen Najd und derjenigen des Jabal Shammar.“ (S. 44) Dezidiert geht der Autor auf den Gründungsmythos des dritten saudischen Staates und die Rückeroberung Riads durch Ibn Saud (1902) ein. Desweiteren schildert Steinberg wesentliche Etappen der saudischen Geschichte wie die Gründung der Ikhwan (Brüder) in den Jahren 1911/12, aber auch Gründe für die Auflösung der Ikhwan 1929/30. Teile der Ikhwan und wahhabitische Gelehrte „teilten vor allem das Konzept eines stetig expandierenden islamischen Idealgesellschaft. ... Ihre Ziele mussten über kurz oder lang mit denen eines an Stabilität orientierten Zentralstaates kollidieren.“ (S. 49) Im weiteren Verlauf wird die Konsolidierung des saudischen Staates, der Bruderstreit zwischen König Saud und Faisal, das Auftauchen der „Freien Prinzen“ und die Herrschaft König Faisals (1964-1975) skizziert. Welchen Einfluss wahhabiische Gelehrte wie der spätere saudische Großmufti Abdalaziz b. Baz auf die Innenpolitik des Königreichs ausübten, zeigen die Besetzung der Kaaba oder – wie St. sie nennt – der Aufstand der Ikhwan 1979.

Kapitel III behandelt "Politik und politisches System" mit den Schwerpunkten Staat und Opposition seit 1990/91, innenpolitische Reformen 1992/93, Thronfolgefragen und die regionalpolitische Neuorientierung seit 1995. In Kapitel IV gibt Guido Steinberg einen Überblick über die Erdölwirtschaft, die Ölpolitik des Landes, soziale Problemfelder und bewertet die vorhandenen Privatisierungsansätze genauso wie die Frauenfrage. Kapitel V erläutert das Thema Religion und Recht, stellt die Religionspolizei vor, umreist Unterschiede zwischen Wahhabiya und Salafiya und stellt die Wohlfahrtsorganisationen sowie die Pilgerfahrt vor. Man kann Guido Steinberg in seinem Ausblick zu Saudi-Arabien im 21. Jahrhundert nur zustimmen, wenn er schreibt: „Das Königreich steht in den kommenden Jahren vor großen Herausforderungen. Insbesondere der Widerspruch zwischen seiner nach wie vor starken sicherheitspolitischen Bindung an den Westen und seiner streng islamischen Innenpolitik, die weiterhin auf der Legitimierung der Herrschaft der Familie Saud durch die wahhabitische Gesellschaft beruht, wird für heftige Zereißproben sorgen.“ (S. 176) Der Anschlag des IS (arab.: ad-daula al-islamiya) vor wenigen Wochen auf die schiitische Ali-ibn-Abi-Talib-Moschee in Qudaih in der Ostprovinz Saudi-Arabiens mag hier wie ein Menetekel erscheinen.

Alles in allem ein prägnantes, gut verständliches Buch, dass die komplexen Macht-strukturen Saudi-Arabiens erklärt.

Editors Information
Published on
03.07.2015
Contributor
Edited by
Cooperation
Diese Rezension entstand im Rahmen des Fachforums 'Connections'. http://www.connections.clio-online.net/
Classification
Temporal Classification
Regional Classification
Book Services
Contents and Reviews
Availability
Additional Informations
Language of publication
Country
Language of review