P. Rassek: Für ein freies Polen

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Title
Für ein freies Polen und ein liberales Preußen: Czartoryskis Deutschlandpolitik am Vorabend der Revolution von 1848. Ein Beitrag zur polnisch-deutschen Beziehungsgeschichte


Author(s)
Rassek, Peter
Series
Die Deutschen und das östliche Europa. Studien und Quellen. Band 13
Published
Frankfurt Main 2016: Peter Lang/Frankfurt am Main
Extent
706 S.
Price
€ 99,95
Rezensiert für 'Connections' und H-Soz-Kult von:
Jens Boysen, Warschau

In seiner 2012 als Dissertation an der Oldenburger Carl-von-Ossietzky-Universität eingereichten Arbeit will der Autor nachweisen, dass es auch nach dem Abflauen der deutschen Polenbegeisterung der 1830er Jahre seitens des „Hôtel Lambert“, der von Fürst Adam Jerzy Czartoryski geführten konservativen Fraktion des polnischen Exils in Paris, politische Kontakte nach Deutschland und insbesondere eine „propreußische Orientierung“ gegeben habe. Hierzu rekonstruiert er mit Schwerpunkt auf den Jahren 1840-48 die Bemühungen eines von Czartoryski in Europa aufgespannten Nachrichtennetzwerks um Kontakte mit den Westmächten, aber insbesondere mit Preußen, da dieses als schwächstes Glied der Ostmächte sowie als Heimat eines starken liberalen Bürgertums als möglicher Schauplatz einer zur Unterminierung der Wiener Ordnung geeigneten Entwicklung erschien. Als Basis diente dem Fürsten der Ansatz einer „Diplomatie ohne Akkreditierung“ (S. 29), d.h. die Wahrnehmung einer quasi-diplomatischen Tätigkeit, die wegen des Fehlens eines polnischen Staates vor allem auf seinen Kontakten und seiner Reputation beruhen musste.

Die Struktur des Bandes umfasst neben der Einleitung einen kürzeren monographischen Teil (S. 21-223) und einen längeren Quellenteil (S. 226-661), aus dem im ersten Teil umfänglich zitiert wird. Er enthält 87 vom Autor aus dem Bestand der Krakauer Czartoryski-Bibliothek ausgewählte und edierte Texte, in erster Linie polnisch- sowie teilweise französischsprachige Briefe, die der Fürst an seine Mitarbeiter („Emissäre“) und andere Zielpersonen in Preußen schrieb bzw. von diesen erhielt, sowie Auszüge aus Artikeln in den Eigenpublikationen des „Hotel Lambert“. Diese beiden Quellentypen spiegeln die neben mündlichen Mitteilungen wichtigsten damaligen Kommunikationsformen wider. Zwar kann der Rezensent die Auswahl der Quellen – die zeitlich vom August 1838 bis zum März 1848 reichen – nicht verifizieren, aber die vorliegende Zusammenstellung zeigt gut die Genese der politischen Ideen, Motive und Planungen der polnischen Akteure.

Die Texte werden zweisprachig polnisch-deutsch (bzw. französisch-deutsch) präsentiert, was für die potenziellen – sprachkundigen – Rezipienten des Bandes den Vorteil besitzt, die Originaltexte auf sie interessierende Details prüfen zu können. Neben der sorgfältigen textkritischen Edition auf Basis der handschriftlichen Quellen, einschließlich der Markierung unklarer Stellen, hat der Autor jede Quelle mit einer Art Regest am Anfang sowie mit Anmerkungen zu im Text erwähnten Personen und Sachangaben (bzw. entsprechenden Fehlanzeigen) versehen, die potenzielle weiterführende Untersuchungen erleichtern dürften.

Die am Anfang stehenden Abrisse der allgemeinen deutsch-polnischen Beziehungen nach 1815 bzw. 1830 sowie über die allgemeine Tätigkeit der polnischen Emigration liefern zwar wenig Neues, bieten aber einen guten Überblick. Ein bedeutender Mehrwert der Arbeit liegt dagegen in der fundierten Behandlung der (vor-)parlamentarischen Entwicklung in Preußen unter Friedrich Wilhelm III. und Friedrich Wilhelm IV., mit besonderem Augenmerk auf der Rolle der Provinziallandtage, die ab 1823 anstelle der verweigerten gesamtstaatlichen Volks- bzw. Ständevertretung tätig wurden. Hierzu und zum preußisch-(deutsch-)polnischen Verhältnis innerhalb dieser Gremien gibt es bisher nur wenige Arbeiten.1 Nach dem gescheiterten polnischen Aufstandsversuch von 1846 war es ein wesentliches Anliegen des „Hôtel Lambert“, sich als gemäßigte und berechenbare Alternative zur radikalen „Polnischen Demokratischen Gesellschaft“ (Towarzystwo Demokratyczne Polskie) zu präsentieren. Für den preußischen Fall wird gezeigt, wie sich der Fokus dieser Aktivitäten allmählich vom König und der Idee eines transnationalen aristokratischen Konsenses auf die liberale Opposition verlagerte.

Damit und besonders mit dem Polenprozess von 1846 und der Genese des Vereinten Landtags 1847 verknüpft der Autor die Schilderung der polnischen Bemühungen um Einflussnahme sowohl auf deutsche liberale Abgeordnete als auch – in disziplinierender Absicht – auf die polnischen Abgeordneten aus der Provinz (Großherzogtum) Posen. Die Quintessenz des erhofften politischen Handels bestand in der Wiedererschaffung eines polnischen Staates mit preußischer Hilfe und eines preußisch-polnischen Bündnisses gegen Russland. Aus der Sicht der polnischen Akteure erhält man so einen prägnanten Überblick über die Phase des Vormärz und die Möglichkeiten bzw. Grenzen jener „Diplomatie ohne Akkreditierung“. Das Interessante liegt dabei vor allem in der Erarbeitung der (oft nur scheinbaren) Optionen; denn nach der Märzrevolution 1848 brach die ganze Konzeption schnell in sich zusammen.

In der Summe liegt eine gut ausgearbeitete, materialreiche und gut lesbare Studie vor, die einen wenig bekannten Aspekt der mitteleuropäischen Situation jener Zeit nachzeichnet und eine wertvolle Ergänzung zur Kulturgeschichte der Politik des 19. Jahrhunderts darstellt. Ein angesichts der insgesamt sehr sorgfältigen Edition des Bandes auffälliger Makel sind eine Reihe (wenn auch kleinerer) Schreibfehler und überzählige Satzzeichen im Quellenteil sowie im Personenverzeichnis. Bei den Anmerkungen zu einigen Quellen scheint es, als seien sie von keinem deutschen Muttersprachler verfasst worden. Diese Ungenauigkeiten behindern zwar nicht die Benutzung des Bandes, hinterlassen aber einen störenden Eindruck.

In der Sache lässt sich diskutieren, ob durch die hier präsentierten Funde eine nennenswerte Änderung des Geschichtsbildes erfolgen kann. Denn nicht nur blieb das Ganze letztlich Episode, sondern der Autor scheint die beschriebene Politik etwas zu affirmativ zu bewerten. Bei Lichte besehen ist die Formulierung „propreußische Orientierung“ irreführend; denn für die sich als Verfechter eines polnischen Nationalinteresses verstehenden Akteure waren der preußische Staat, seine Regierung und seine Bewohner bloße Spielfiguren, deren eigene Interessen allenfalls taktische Beachtung fanden und die sie mit bemerkenswerter Nonchalance zu instrumentalisieren suchten.

Letztlich hatte Czartoryski seinen deutsch-preußischen Gesprächspartnern nichts zu bieten außer der Unterstützung für einen Krieg gegen Russland, der allein den – vermeintlichen – polnischen Interessen gedient hätte. Strategische Sicherheit besaß Preußen schon seit 1815. Auch kann kein Zweifel daran bestehen, dass die in der Wiener Kongressakte festgehaltenen „nationalen Rechte“ der Polen als Element der Stabilisierung jener Neuordnung gedacht waren und somit keinesfalls für revisionistische Pläne für eine staatliche Wiederherstellung Polens in Anspruch genommen werden konnten.
Wenn im Gegenzug die preußischen Liberalen Czartoryskis Leute als de facto-Vertreter Polens anerkannten und mit ihnen über die „deutsch-polnischen Beziehungen“ zu verhandeln bereit waren, dann waren diese Kontakte letztlich ein illoyaler Akt gegenüber dem eigenen Staat, umso mehr, wenn dabei die Aufgabe Posens erörtert worden sein soll. Die Nachzeichnung der Meinungsäußerungen seitens liberaler Vertreter zeigt das Nebulöse und in seiner Motivation Changierende der von ihnen – nicht zuletzt infolge der Aktivität von Czartoryskis Agenten – geäußerten „polnischen Sympathien“.

Jenseits der nach 1830 in Wellen wiederkehrenden antirussischen Haltung, auf die die Polen 1847/48 vor allem setzten – bis hin zur versuchten Anstachelung eines deutsch-russischen Krieges –, wird nicht recht deutlich, welchen Nutzen die Liberalen in einer Verbindung mit der polnischen Emigration erblickt haben sollen. Dies ist keine Kritik am Autor, der diesen Umstand selbst benennt (S. 218), sondern zeigt vielmehr das Unreif-Spekulative in den Positionen der damaligen liberalen Politiker. Als Grund hierfür lässt sich neben ihrer im vorkonstitutionellen Staat kaum zu erlangenden Praxiserfahrung eine Neigung zu einer universalistischen Ethik unter Hintanstellung der unmittelbaren eigenen Interessen beobachten.

Dem entsprach die polnische Suggestion, Preußen bzw. Deutschland brauche Polen, um sich zu einer modernen konstitutionellen Gesellschaft zu entwickeln. Substantielle Belege für diese Ansicht wurden niemals geliefert, was schon deshalb nicht verwunderlich ist, als Polen mangels eines eigenen Bürgertums die bürgerlich-liberalen Bewegungen des Westens mehr imitierte als substantiell mitgestaltete. Zudem sollten die Ereignisse von 1846, 1848 und später die Politik des unabhängigen Polen nach 1918 zeigen, dass keine deutsch-polnische Interessengemeinschaft, sondern ein Konkurrenzverhältnis bestand. Hinzu kam die polnische Weigerung, trotz der Berufung auf die „heiligen Rechte“ von 1815 die Gleichberechtigung der anderen Ethnien in einem zukünftigen polnischen Staat bindend anzuerkennen – eine assimilatorische Position, die lange vor der preußischen Polenpolitik nach 1871 eine ähnlich intolerante Haltung offenbarte.

So sehr also die organisatorischen, strategischen und nicht zuletzt literarischen Talente Czartoryskis und seines Kreises zu beeindrucken vermögen, so wenig lässt sich in ihren Aktivitäten eine ernsthafte Perspektive für ‚alternative‘ deutsch-polnische Beziehungen erblicken, jedenfalls nicht, sofern damit eine ehrliche Kooperation zum beiderseitigen Nutzen gemeint ist.

Anmerkung:
1 Vgl. Karsten Holste, In der Arena der preußischen Verfassungsdebatte. Adlige Gutsbesitzer der Mark und Provinz Brandenburg 1806‒1847 (= Elitenwandel in der Moderne 14), Berlin 2013.

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26.01.2019
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Diese Rezension entstand im Rahmen des Fachforums 'Connections'. http://www.connections.clio-online.net/
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