A. Robarts: Migration and Disease in the Black Sea Region

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Title
Migration and Disease in the Black Sea Region. Ottoman-Russian Relations in the Late Eighteenth and Early Nineteenth Centuries


Author(s)
Robarts, Andrew
Published
London 2017: Bloomsbury
Extent
Price
€ 50,59
Rezensiert für 'Connections' und H-Soz-Kult von:
Stefan Rohdewald, Historisches Institut, Justus-Liebig-Universität Gießen

Andrew Robarts legt mit diesem Band eine Pionierstudie konkreter Aspekte der Schwarzmeerregion vor, definiert als ein in Krieg und Frieden hergestellter Interaktionsraum. Die Region wird hier konstituiert durch Netzwerke und Verbindungen, ganz im Sinne relationaler sozialer Räume (Bourdieu), aber auch bereits von der Ökologie ausgehender Überlegungen hier genannter Schwarzmeer-Umwelthistoriker des 19. Jh. und dann insbesondere im Sinne von Eyüp Özverens 1. Mit der Definition des Osmanischen und des Russländischen Reiches als insgesamt heterogen und dem Hinweis auf die große Differenz zwischen politischen und regionalgesellschaftlichen Handlungsräumen richtet er sein Hauptinteresse auf Migrationsregime der beiden Reiche. Robarts charakterisiert die transimperialen oder transnationalen Verbindungen dabei als Herausforderung für die Souveränität der betroffenen Staaten (S. 2 f.). Durch Migration hervorgerufene Regionalität sowie die Verbindung von Staat und Migration sind Kernaspekte seiner Untersuchung. Mit dem Fokus auf das Osmanische und das Russische Reich in der kontingenten Wechselbeziehung und transimperialen Verflechtung soll auch der vorherrschende, auf die Beziehung mit Westeuropa zentrierte Zugang zu beiden Reichen ausgehebelt werden (S. 6). Neben osmanischen, russischen, ukrainischen und bulgarischen Archivalien werden mehrfach westliche Reiseberichte hinzugezogen, wodurch diese Ausklammerung der westeuropäischen Kontextualisierung letztlich in Frage gestellt wird. Die Einbettung erfolgt hingegen auch mit weiträumigen, nach Asien ausgreifenden Kontextualisierungen, die durchaus noch konsequenter herausgearbeitet hätten werden können.

Ein Überblick über die Schwarzmeerregion um 1800 betont in diesem Sinne etwa die vermittelnde Rolle muslimischer Pilger bei der Verbreitung der zuerst in Indien ausgebrochenen Cholera in den 1820ern und 1830ern (S. 19). Als Beispiele für Gruppen mit wechselnden oder mehrfachen Loyalitäten werden ehemals Zaporoger, nun unter osmanischer Hoheit stehende Kosaken genannt (S. 24-26). Für den andauernden osmanischen Einfluss steht der Gebrauch der osmanischen Währung auch an der nördlichen Schwarzmeerküste bis in die 1820er Jahre (S. 31). Es folgt im zweiten Kapitel eine Fallstudie zur bulgarischen Migration zwischen den Reichen. Besondere Aufmerksamkeit lenkt Robarts hier auf die bisher weniger untersuchte bulgarische Rückmigration aus dem Russischen Reich ins Osmanische Reich. Die vorweg angekündigte Verbindung dieser Migration zur Verbreitung von Krankheiten bleibt hinwegen zunächst etwa im wichtigen mikrohistorischen Versuch, einzelne Familien als Beispiele herauszuarbeiten (S. 50-52), nur knapp angesprochen.

Kapitel drei und vier betrachten russländische, dann osmanische Grenzregionen und dort entwickelte Migrationsregime. Die ausgewogene Berücksichtigung staatlicher wie auch privater Akteurskreise läßt die Durchsetzung der Regierungsvorgaben angesichts der Umgehung der eingerichteten Quarantänezonen durch die Migrationsströme als wenig erfolgreich erscheinen (S. 81). Im frühen 19. Jahrhundert diente bulgarische Migration und Siedlung in Südrussland deutlicher als zuvor wirtschaftlichen Interessen und der Festigung der regionalen Sicherheit des Reichs (S. 85). Während das politologische Konzept der Versicherheitlichung (Securitization) für die frühe Neuzeit selten unmittelbar einsetzbar ist, hätte sich eine explizite Adaption dieses Zugangs insbesondere in diesen Kapiteln sehr gut angeboten: Die Wahrnehmung der über die wenig effektiv geschützte Grenze Zugewanderten als Bedrohung führte in dieser Interpretation zu spezifischen politischen Praktiken wie der Einführung des russländischen und des osmanischen Quarantäneregimes.

Die Entwicklung des letzteren wird zusammen mit großen Migrationsbewegungen in das Osmanische Reich seit dem 17. Jh. unter einem Titel zusammengefasst (S. 83), der vorgibt, sich auf das 19. Jh. zu konzentrieren: Mit einer besser nachvollziehbaren expliziten Berücksichtigung der longue durée von Migration oder – ggf. besser bzw. breiter und hier kaum thematisiert – Mobilität hätte der historische Zusammenhang der Schwarzmeerregion über das enge Zeitfenster der Studie hinaus plausibel gemacht werden können. Der Überblick der Siedlungsgeschichte der Tataren bzw. Kumanen etwa beginnt im späten 14. Jh. (S. 88) und erwähnt nicht die grundlegende Rolle, die diese Migration für die Entstehung der Fürstentümer Walachei und Moldau, aber auch des Zweiten Bulgarischen Reichs gespielt hatte, deren Dynastien bzw. Eliten (Bojaren) sich zu weiten Teilen aus diesen Gruppen rekrutierte 1. Migration war nicht nur Objekt oder Effekt von staatlicher Politik, sondern konstituierte Herrschaft. Die lange Periode der doppelten Herrschaft Polen-Litauens und des Osmanischen Reiches über die Moldau und die Walachei wäre bei der ja ohnehin erfolgten Ausweitung des zeitlichen Rahmens gleichfalls erwähnenswert und könnte die neue, russländisch-osmanische Wechselseitigkeit mit Gewinn weiter kontextualisieren. Insbesondere aber die Imagination eines wiederzuerrichtenden, angeblich "rein" slavischen Bulgarien oder einer slavischen bulgarischen Identität erscheint vor diesem, gerade in den Kernzusammenhang der vorliegenden Studie zählenden Hintergrund, umso mehr als ein Produkt der im 19. Jh. erfolgten Festigung ganz weitgehend neuer, sprachlich, religiös und ethnisch definierter kollektiver Identitätsentwürfe.

Die Flucht von Muslimen bzw. Tataren aus Russland nach der Einverleibung des Khanats der Krim und der Nordküste des Schwarzen Meeres führte gleichfalls unter diesem breiter gefassten Blickwinkel zu das gesamte Osmanische Reich betreffenden Veränderungen, die weit über den hier ins Zentrum gerückten Rand des Reiches hinausgingen – wie auch das dem Kapitel vorangestellte Zitat von Lajos Kossuth sich auf die politische Fluchtmigration aus dem östlichen Mitteleuropa unmittelbar nach Konstantinopel bezieht. Sowohl das Russländische als auch insbesondere das Osmanische Reich waren nicht nur in den Randregionen sprachlich und religiös heterogen, sondern im gesamten Reichsterritorium, sodass Migration zwischen den Reichen auch als Binnenbewegung transimperialer, über Reichsgrenzen hinweg kohärenter Gruppen nicht nur mit dem Beispiel armenischer Kaufleute innerhalb einer größeren, transosmanischen Region betrachtet werden kann.

Kapitel fünf und sechs argumentieren übergreifend und behandeln Quarantäne- und Migrationsmanagment sowie epidemische Krankheiten und Grenzkontrollen der beiden Reiche in der Synthese, auch unter Berücksichtigung ihrer modernen Staatlichkeit in der Region konstituierenden Rollen. Zunächst wird sehr gelungen in Veränderungen der Quarantäne- und Migrationsregime des Osmanischen Reiches in den 1830er und 1840er Jahren eingeführt, die – aus einer Versicherheitlichungsperspektive gedeutet – transimperialen und regionalen Bedrohungen mit neuen Politiken entgegentraten. Mit der Betrachtung von Quarantänevorschriften für Istanbul trägt Robarts sodann das bisher beinahe ausschließlich im Grenzraum behandelte Thema zurück in das imperiale Zentrum (S. 117-120, 122-124) sowie in vom Schwarzen Meer weiter entfernte Städte wie Smyrna (S. 124-128). Eine noch stärkere Ausweitung der Fragestellung über die Analyse von Krankheits-, Quarantäne- und Migrationsregimes in Grenzregionen hin zu einer integralen Deutung der beiden involvierten Reiche wäre hingegen wünschenswert gewesen. Eine systematische, über eine Würdigung in einer Fußnote hinausgehende Referenz auf den entsprechenden Forschungsstand hätte womöglich hierzu ausgereicht. 2 Wertvoll sind Verweise auf parallele Entwicklungen an der osmanisch-serbischen bzw. der osmanisch-griechischen Grenze (S. 128).

Die Darstellung der Verschärfung der Quarantänepolitiken im Russländischen Reich beginnt mit neuen Rückblicken ins 17. und 18. Jh., die eleganter in eigene Kapitel exportiert und ausgeweitet hätten werden können. Auch hier wird erstmals das Zentrum des (Russischen) Reichs thematisiert, wo Maßnahmen gegen Krankheiten im frühneuzeitlichen Moskau und auf der Insel Seskar im Finnischen Meerbusen erwähnt werden (S. 140-144). Auch für Russland werden Rückkopplungseffekte zwischen dem Zentrum und den Randregimes erkennbar, wenn Krankheitsausbrüche in Moskau 1770-1772 relevant für eine Verstärkung des Grenzregimes erscheinen (S. 141). Relevant für diesen Zusammenhang könnten Hinweise auf die Entwicklung von Reinheitsvorstellungen generell im Kontakt mit dem "Ausland" sein, wie sie etwa Gabriele Scheidegger bis ins 17. Jh. untersucht hat 3. Die Passagen zum militärischen Bereich würden (trotz der Fokussierung auf russisch-osmanische Verflechtungsdynamiken) eine zumindest partielle Kontextualisierung im gesamteuropäischen Zusammenhang erfordern, waren doch – wie auch die im Text zitierten Beispiele zeigen – die russländischen Offiziere damals bekanntlich sehr interimperialen Charakters und verweisen die Schlüsselbegriffe (cordon sanitaire) auf überregionale Diskurse.

Abschließend werden Konfrontation und Zusammenarbeit im Umgang der Reiche mit Migration und Epidemien auch mit einem ausführlicheren Blick auf die Diplomatie zwischen den Imperien untersucht. Weiterführend sind hier Hinweise auf Kooperation von Behörden der beiden Reiche etwa in Očakov/Özi und Kinburun/Kılburun (S. 170) oder die Übernahme relevanter Begrifflichkeit ins Osmanische (für cordon sanitaire: hudud-i sıhhiye, S. 177).

Die hier erneut mit Charles King charakterisierte Schwarzmeerregion zeichnet sich gerade durch überaus weiträumige Scharniereffekte aus, die nicht nur die Küstengebiete der Anrainerstaaten betrafen. Auch unter einer solchen, noch weiteren geographischen Ausweitung des Analyserahmens hätte die am Ende beschworene Gefahr, lokale Dynamiken gegenüber einer eurozentrischen Betrachtung aus dem Blick zu verlieren, gezielt gebannt werden können (S. 178). Alternativ oder zusätzlich wäre es für eine Regionalgeschichte wichtig, zumindest die Osthälfte der Schwarzmeerregion bzw. des Kaukasus und auch des Kaspischen Meeres als Regionen transimperialer Verflechtungen mit zu berücksichtigen. Zufällige Verweise auf die Ähnlichkeit/ Vergleichbarkeit dieser Gegenden in den zitierten Quellentexten wie die Nennung baktrischer Kamele, die im Bucak als Pflug- und Lasttiere eingesetzt wurden, oder auf kalmückische Soldaten, die in einer Kamelkaravane organisiert Gesänge wie in Astrachan sangen (S. 13), könnten dann – womöglich in einem transosmanischen Kontext 4 – beleuchtet systematisiert werden. Andererseits wären knappe Verweise auf den Forschungsstand zu teilweise parallelen, aber auch divergenten bzw. stärker militärisch ausgerichteten Entwicklungen in den habsburgisch-osmanischen Grenzräumen wünschenswert.5

Die Studie ist durch das Anliegen, wo immer möglich die Akteure zum Sprechen zu bringen, mit dem regionalhistorischen Zugang und der – auch unter einem solchem Blickwinkel – seltenen Berücksichtigung sowohl des russischen als auch des türkischen sowie des bulgarischen und des internationalen Forschungsstandes auf absehbare Zeit auch für andere transimperiale Kommunikationsräume ein innovatives und grundlegendes Standardwerk.

Anmerkungen.
1 Eyüp Özveren, A Framework for the Study of the Black Sea World, 1789–1915, in: Review: A Journal of the Fernand Braudel Center for Study of Economies, Historical Systems, and Civilisations 20 (1997) 1, S. 77–113.
2 Birsen Bulmuş: Plague, Quarantines, and Geo-Politics in the Ottoman Empire, Edinburgh 2012; Nüxhet Varlik, Plague and Empire in the Early Modern Mediterranean World, Cambridge 2015.
2 István Vásáry, Cumans and Tatars. Oriental Military in the Pre-Ottoman Balkans, 1185–1365, Cambridge 2005.
3 Gabriele Scheidegger, Perverses Abendland, barbarisches Russland. Begegnungen des 16. und 17. Jahrhunderts im Schatten kultureller Missverständnisse, Zürich 1993.
4 SPP 1981: Transottomanica: Osteuropäisch-osmanisch-persische Mobilitätsdynamiken www.transottomanica.de
5 Michael R. Hickok, Ottoman Military Administation in Eighteenth-Century Bosnia, Leiden 1997; nur in der Bibliographie genannt: Dávid, Géza, Pál Fodor (Hrsg.): Ottomans, Hungarians, and Habsburgs in Central Europe. The Military Confines in the Era of Ottoman Conquest, Leiden 2000.

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17.11.2018
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Diese Rezension entstand im Rahmen des Fachforums 'Connections'. http://www.connections.clio-online.net/
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