D. Collet: Die doppelte Katastrophe

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Title
Die doppelte Katastrophe. Klima und Kultur in der europäischen Hungerkrise 1770–1772


Author(s)
Collet, Dominik
Series
Umwelt und Gesellschaft, Bd. 18
Published
Göttingen 2019: Vandenhoeck & Ruprecht
Extent
466 S.
Price
Rezensiert für 'Connections' und H-Soz-Kult von:
Ansgar Schanbacher, Institut für historische Landesforschung, Universität Göttingen

Anfang der 1770er Jahre bestimmten überaus lang anhaltende Niederschläge und ausgedehnte Winter die Wetterlage in großen Teilen Europas. In drei aufeinander folgenden Jahren kam es zu Missernten, denen starke Preissteigerungen für Lebensmittel, Hunger und Krankheiten folgten. Dem bisher häufig vorherrschenden Ansatz, wonach vormoderne Nahrungskrisen regional isoliert als ökonomische oder soziale Probleme behandelt wurden, stellt Dominik Collet in seiner Habilitationsschrift eine komplexe, vielseitige und transregionale Untersuchung der Hungerkrise von 1770–1772 gegenüber, die auf einer breiten Quellengrundlage einen wesentlichen Beitrag zum besseren Verständnis der Umbruchszeit des 18. Jahrhunderts bietet.

Collet zielt darauf ab, anhand der Hungerkrise eine Verflechtungsgeschichte von Mensch und Umwelt zu schreiben, die sich von den traditionellen starren Ursache-Wirkung-Verknüpfungen abwendet.1 Er betrachtet die Katastrophe als „Laboratorium religiöser und säkularer Vorstellungen sowie als Katalysator ökonomischen, sozialen und politischen Wandels“ (S. 30), wobei es in der offenen Situation einer Krise besonders gut möglich sei, ansonsten wenig auffällige Entwicklungen zu erkennen. Methodisch arbeitet die Studie auf der Grundlage des Konzepts der Vulnerabilität, das einen mehrgleisigen Zugang zu dieser Krise bietet, der sowohl ihre Vorgeschichte als auch die vielfältigen Interdependenzen zwischen naturalen und sozialen Faktoren berücksichtigt.

Die Arbeit setzt ein mit einem Überblick über die Klimaanomalie der 1770er Jahre, die vermutlich durch eine Störung der atmosphärischen Zirkulation ausgelöst wurde, sowie ihren Folgen für die europäische Landwirtschaft, Wirtschaft und Demographie. Dabei wird ein weiter Bogen von den steigenden Lebensmittelpreisen (hier wäre eine verdeutlichende Graphik passend gewesen) mit ihren negativen Folgen für das Gewerbe, dem Erlass von Ausfuhrverboten und der sozialen und regionalen Ungleichheit in der Krise bis hin zu welthistorischen Ereignissen wie der Boston Tea Party geschlagen.

Diesem einführenden Kapitel folgt der eigentliche Hauptteil der Arbeit, der sich in die Bereiche Deuten, Handeln und Bewältigen unterteilt und sich überwiegend mit Mitteleuropa beschäftigt. Auf der Deutungsebene stellt Collet eine Pluralisierung der Naturvorstellungen fest, die zunehmend in Konkurrenz zueinander traten und häufig instrumentalisiert wurden. So nutzten Theologen die Hungersnot, um die Zwecklosigkeit weltlicher ökonomischer und technischer Maßnahmen zu demonstrieren und die sündige Menschheit zur Umkehr aufzurufen. Ökonomen argumentierten auf der Grundlage physiokratischer Kreislaufmodelle für Freihandel und kritisierten die deutsche Kleinstaaterei. Einzelne politische Autoren machten Ausbeutung, Entrechtung und Ungleichheit für die Hungerkrise verantwortlich.

Im Bereich des Handelns, dem umfangreichsten Teil des Werks, unterscheidet Collet Praktiken von Obrigkeiten, Untertanen und Experten, wobei er kommunikativen Handlungen besonders große Bedeutung zuschreibt, die im Fall von sogenannten slow disasters die Krisen nicht nur begleiten und kommentieren sondern auch aktiv beeinflussen (S. 141).

Staatliches Handeln gestaltete sich in der Hungerkrise dabei besonders schwierig, da obrigkeitliche Maßnahmen wie die Ausgabe von verbilligtem Getreide, bei denen mit einem kleinen Verwaltungsapparat der Spagat zwischen der Beschränkung von Ausgaben und der von der Bevölkerung erwarteten Fürsorge gemacht werden musste, häufig nicht umgesetzt wurden oder wirkungslos waren. Fruchtsperren wurden in den meisten Territorien des Reichs errichtet. Einerseits verringerten sie dringend benötigte Zolleinnahmen und riskierten das Auseinanderbrechen von Staaten, andererseits fungierten sie als Machtinstrument gegenüber Nachbarterritorien und Privilegierten und konnten so zu einer sozialen Inklusion im Inneren beitragen. Trotz vielfältiger Maßnahmen und staatlichen Vorgaben konstatiert Collet zu recht eine zeitweilige Machtlosigkeit des Staats in der Krise. Kommunikative Interaktionen zwischen Untertanen und Obrigkeit, die teilweise dem rein symbolischen Handeln zugeordnet werden können, markierten jedoch Zuständigkeiten und führten überraschenderweise mittelfristig zu einer Stärkung der Zentralgewalten bei Schwächung der lokalen Obrigkeiten und kommunikativem Ausschluss der Kirchen. Das Agieren der betroffenen Bevölkerung umfasste Notmaßnahmen der Überlebensökonomie, die oft stigmatisierend wirkten oder illegal waren, bei deren Betrachtung der Autor detailliert auf Einzelfälle wie z.B. einen Hungertumult in Gotha 1771 oder die Notnahrung von Kindern in der Lausitz eingeht, ohne jedoch auf die langfristigen körperlichen Entwicklungsverzögerungen durch Hunger aufmerksam zu machen. Die Hungerkrise markierte gesellschaftliche Veränderungen mit langfristigen Wirkungen. Die Fernmigration nahm zu und die Drohung auszuwandern wurde teilweise als Druckmittel genutzt, um staatliche Hilfen zu erhalten. Hierbei etablierten sich bereits die Migrationswege des 19. Jahrhunderts. Im Rahmen einer Inklusion durch Exklusion nutzten Obrigkeiten und Untertanen zunehmend Juden als Sündenböcke, obwohl jüdischen Kaufleuten der Handel mit Lebensmitteln meist verboten war.

Besonders große Wirksamkeit spricht Collet der Hungerkrise als Katalysator im Bereich der Wissensgeschichte zu. Experten verstanden es im Umfeld der Not, die Grundlage für neue Wissensfelder wie Ökonomie, Statistik und Meteorologie zu legen und die Etablierung des studierten Arztes als Ansprechpartner für kranke Hungernde durchzusetzen, während erste praktische Anwendungen wie z.B. die erfolgreiche Therapie von Kranken oder das Freihandels-Experiment in der am Rhein gelegenen Grafschaft Neuwied noch gescheitert waren. Diese Institutionalisierung neuer Wissensfelder gelang im Wesentlichen durch eine gekonnte publizistische Kommunikation von modernen Ansätzen, die wie im Fall der ärztlichen Versorgung die Obrigkeiten von Verantwortung entlasteten. Außerdem war Zeit ein wichtiger Faktor: „Angesichts der Klagen ihrer Untertanen zählte die plausible Suggestion einer Lösung mehr als überprüfbare Resultate“ (S. 296).

Anhand dreier sozionaturaler Schauplätze untersucht Collet anschließend konkret Deutungen und Praktiken vor Ort. Regensburg als bikonfessionelle Reichsstadt nahm durch seine Lage an der Donau und umgeben von kurbayerischem Territorium sowie als Sitz des Reichstags und vielfältiger autonomer Institutionen eine Sonderrolle unter den Städten des Reichs ein. Bayerische Fruchtsperren führten zu Mangel und unterschiedlichen Reaktionen der konfessionellen Gruppen sowie zu einer in der bisherigen Forschung vernachlässigten aktiven Rolle des Reichstags. Diesem gelang es angesichts der eigenen Betroffenheit, zwischen Regensburg und Bayern zu vermitteln und einen Freihandelsbeschluss für das ganze Reich zu erlassen. Im sächsischen Erzgebirge, einem der am stärksten von der Hungersnot getroffenen Gebiete, vollzieht Collet die Entwicklung von der offenen zu einer geschlossenen Armenfürsorge nach, die über private Hungerzeitschriften sowie bürgerliches Engagement zustande kam und zur Beibehaltung der sozialen Verhältnisse, aber auch zur Ausbreitung von Krankheiten beitrug und gleichzeitig die Grundlage für die Einführung der gesetzlichen Schulpflicht in Sachsen 1773 legte. Zuletzt wird die bisher vernachlässigte Rolle der Hungerkrise bei der ersten Teilung Polens 1772 untersucht, die es dem preußischen König Friedrich II. erlaubte, sich mithilfe des geraubten polnischen Getreides als „Brodvater“ zu inszenieren (S. 361).

Collets hochkonzentrierte Studie schließt mit der Bewältigung der Hungersnot von 1770–1772 in längerfristiger Perspektive. Dabei betrachtet er Aspekte des Vergessens, die Konflikte und Strukturen der Bewältigung der Krise widerspiegeln und verschiedene Formen der Erinnerung wie öffentliche Monumente, Gedenkmünzen und informelle Gedenkorte (Orts- und Flurnamen), die ein schnelles Überwinden der Katastrophe hinterfragen, jedoch nur selten die Hungeropfer selbst thematisierten.

Insgesamt behandelt Dominik Collet die Thematik umfassend, stringent und logisch und verknüpft seine Erkenntnisse überzeugend mit Forschungsdebatten zur Geschichte der Frühen Neuzeit sowie der Umweltgeschichte. Kurze internationale Vergleiche und regelmäßige Gegenwartsbezüge, z.B. zu Klimawandel und Migration, erleichtern die Orientierung und machen die Studie nicht nur zu einem wichtigen Referenzwerk für Historiker, sondern auch für aktuelle Problemlagen interessant.

Anmerkungen:
1 Der in der Einleitung postulierten generellen Marginalisierung der naturalen Umwelt in der historischen Forschung ist so jedoch nicht zuzustimmen, vgl. z.B. Jürgen Osterhammel, Die Verwandlung der Welt. Eine Geschichte des 19. Jahrhunderts, Bonn 2010, S. 268-314.

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19.04.2019
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Diese Rezension entstand im Rahmen des Fachforums 'Connections'. http://www.connections.clio-online.net/
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