C. Trautmann (Hg.): Quand Berlin pensait les peuples

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Title
Quand Berlin pensait les peuples (1850-1890).


Editor(s)
Trautmann, Céline
Published
Paris 2004: CNRS Éditions
Extent
216 S.
Price
€ 27,00
Reviewed for Connections. A Journal for Historians and Area Specialists by
Claus Deimel, Staatliche Ethnographische Sammlungen Sachsen; Universität Leipzig Email:

Seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts hatten sich in Berlin unter dem Begriff „Völkerpsychologie“ und „Volk“ zahlreiche Forschungsansätze versammelt, die seit den Arbeiten der Brüder Humboldt und der frühen Psychologen Weg weisend werden sollten für die spätere Ethnologie und Psychologie, ebenso wie für Medizin, Geographie und Literatur. Der vorliegende Band setzt sich speziell für die französische Rezeption mit dieser nicht nur für die deutsche Ethnologie Grund legenden Entwicklung auseinander, indem er sich mit der deutschen Romantik und ihren Auswirkungen in den Gründungsforen der Psychologie und Ethnologie befasst und die spezifisch deutsche Wissenschaftsgeschichte als entscheidende Basis späterer Kulturwissenschaften in Deutschland zwischen angelsächsischer, russischer und französischer Anthropologie auszuloten versucht.

Zunächst, wir haben wir es mit einer für den französischen Leser aufbereiteten Rezeptionsgeschichte zu tun, die zwangsläufig den großen Vergleich mit anderen Theoriengeschichten nur andeuten kann. Immer wieder steht der Begriff „Volk“, so wie er Ende des 19. Jahrhunderts im Wilhelminischen Deutschland definiert und emporgehoben wurde im Fokus des Buchs, auf jene Zeit also Bezug nehmend, als „die“ deutsche Diskussion angeblich noch nicht „total“ von „Konstruktionen basierend auf der Idee der Überlegenheit der arischen Rasse dominiert wurde“, schreibt die Herausgeberin etwas naiv, und sie transportiert damit zweifellos auch ein Klischee. Nein, so einfach war es m. E. nicht ganz! Die Diskussionen im damaligen Berlin um die Begriffe „Volk“, „Volksgeist“ und „Völkerpsychologie“ vor dem Hintergrund des Kolonialismus, des Nationalismus, der Reminiszenzen an den Idealismus und eines entstehenden Empirismus mit ihren Auswirkungen auf die spätere Anthropologie bzw. Ethnologie sind die universell doch viel wichtigeren Exportleistungen der Begründer der modernen Anthropologie und Ethnologie: Theodor Waitz, Rudolf Virchow, Adolf Bastian, Franz Boas, Robert Hartmann, Georg Simmel, Hermann Cohen, H. Steinthal, Carl Ritter, Wilhelm Wundt, Karl von den Steinen, Wilhelm Dilthey, Moritz Lazarus. Dass aus der Ordnungsweise der Herausgeberin in der Diskussion ums Sujet so manches anders angepackt wird als in gewohnter deutscher Perspektive ist einer der Vorteile dieses, vor allem an französische Leser gerichteten Buches, macht es aber ebenso für deutsche Leser interessant. Es wird im Nebeneffekt deutlich, wie wenig die deutsche Ethnologie bisher in Frankreich bekannt ist, sicherlich noch in anderer Weise als in umgekehrter Reihenfolge, - schon deshalb ist dieser Band ein nötiger Beitrag zu einer europäischen Theoriegeschichte der Ethnologie.

Hans Voges beschreibt das Berliner Völkerkundemuseum als eine institutionelle Gestalt („configuracion“) nicht allein von seinen Sammlungen her, sondern vor allem von der damaligen kolonialen Stimmung im Wilhelminischen Deutschland und seinem spezifischen Kulturpluralismus ausgehend, von den großen Völkerschauen, den Kolonialpanoramen und den kleinen und großen Dioramen mit versucht genauen Nachstellungen von Natur und Kultur her, den Selbstdarstellungen der kolonialen Gesellschaft und der Theorie einer völkerkundlichen Bildungsidee nach Adolf Bastian, der „Elementargedanken“ und „Völkergedanken“ miteinander assoziierte, um die Seele eines Volks zu „bestimmen“ – heute ein gewichtiges Anliegen von Literatur, und in der Regel nicht der Ethnologie. Die politische Rolle in diesem Zusammenhang spielt natürlich sehr prononciert die Berliner Gesellschaft für Anthropologie, Ethnologie und Urgeschichte, deren Beziehungen zur damaligen Berliner wissenschaftlichen Landschaft und ihrem Anteil bei den Gründungen verschiedener Universitätsinstitute Annette Lewerentz darstellt. Die Mediziner Adolf Bastian und Rudolf Hartmann gründeten 1869 die Zeitschrift für Ethnologie (ZFE), später zusammen mit Rudolf Virchow als Mitherausgeber, und verfassten Texte, die für einen übergeordneten Ansatz der Ethnologie und „ihrer Hilfswissenschaften“ standen als Zusammensicht von anthropologischen, paläontologischen, linguistischen, psychologischen, zoologischen, botanischen und geographischen Ansätzen, die als Hilfswissenschaften dem großen Unterfangen dienen sollten, Rasse und Herkunft zu bestimmen – ein Irrtum, später ins Unwissenschaftliche abgleitender Wahn, denn es kann doch m. E. nur um Beziehungen zueinander gehen!

In der ZFE stellten Virchow, Bastian und Hartmann Gegentheorien zum Evolutionismus zur Diskussion, mit Klassifikationsmodellen für die Ordnung der Ethnien. Annemarie Fiedermutz-Laun rekurriert auf Vielseitigkeit und Interdisziplinarität der damaligen Wissenschaftsszene, die aber der Bestimmung von „Hohem“ und „Niederem“ dienen sollte und der Opposition zum Evolutionismus, vielmehr ginge es um Grundlagen (deren theoretischer Charakter ja nie auszuschließen ist), nämlich um Begründung von empirischer Anthropologie, Ethnologie und Prähistorie.

Sibylle Benninghoff-Lühl gelingt es, die Poesie der Kontemplation über das Skelett zu zitieren, anfangend bei den Betrachtungen Goethes über den Schädel des toten Schiller, bis zur vom purem theoretischen Empirismus überwucherten Craneo-Sammlung des für diese Leistung im Wilhelminischen Deutschland monumentalisierten Rudolf Virchow. Es gelingt Sibylle Benninghoff-Lühl, den „esprit“ mit dem alles dies geschah im Sinne eines geforderten Symbols (das jetzt mit der gentechnischen Verwertung des Knochen-Materials eine andere Ebene erreicht), aus dem theoretischen Bestreben nach einer Ordnung der Knochen Beweise über Herkunft und Sein abzuleiten. Der preußische Sammlungsansatz (der ja jetzt in der ganzen Welt angewandt wird) wurde von Virchow am Beispiel seiner riesigen Schädelsammlung konsequent zu empirischer Fülle gebracht und sollte u.a. dem „Beweis“ dienen, dass die wenigen dolichocéphalen Typen die Begründer der europäische Zivilisation gewesen sein sollen, während die brachycéphalen Typen zwar weit in der Mehrheit sind, aber eigentlich nicht „kulturschaffend“ sein konnten. Hinter all diesem Ansinnen mit einer aus heutiger Sicht sich selbst in die Sackgasse führenden Theorie stand eine Idee von Superiorität, ein Ansinnen nach Überlegenheit (aus einem hypertrophen nationalen Gefühl ableitbar). Und dann Goethe, wie er aus der taktilen Erfahrung mit Schillers Schädel nicht These oder Theorie, aber tiefe unzitierbare Spiritualität gewinnt, indem er, natürlich göttergleich wie es sich für Goethe ja wohl gehört, den Schädel, das geheime Gefäß des Freundes, in Händen hält und dazu bemerkt: „Wie bin ich werth, dich in der Hand zu halten?“ (in heutiger Sicht müsste man die Frage sicherlich verneinen). Dem französischen Leser kommt der Text von Sibylle Benninghoff-Lühl mit ihrer literarischen Textform entgegen; sie entwickelt hervorragend die Unheimlichkeit des Geschehens.

„Zwischen Volksgeist“ und „Gesamtgeist“ zeigt Céline Trautmann-Waller die Auseinandersetzung beginnend bei Steinthal zwischen einem „Reich des Intelligiblen“ und einem „Reich von Intelligiblen“, während Pierre Pénisson das Zeichen in der Psychologie der Völker bei Steinthal unter seiner religiösen Autorität entwickelt. Olivier Agard beschreibt aus dem „Anfang einer unvollendeten Selbstdarstellung“ von Georg Simmel, von kantischer Epistomologie zu einer soziologistischen Geschichtsschreibung, die Einflüsse Simmels auf den Begriff „Völkerpsychologie“. Den kritischen rapport Diltheys über Lazarus’ und Steinthals Begriff von „Völkerpsychologie“ definiert Hans-Ulrich Lessing ausführlich, während Ulrich Sieg speziell auf die neokantianische Interpretation Hermann Cohens eingeht. Über Berlin hinaus folgt auf diesen Text die Darstellung eines interessanten Sonderfalls, der sich absetzt von der spezifisch Berliner Diskussion: Michel Espagne diskutiert den „Fall Leipzig“, das „Leipziger Moment“ in der Diskussion, Frage: Ist der Raum vor der (menschlichen) Perzeption nicht die Form a priori?

Den „enormen Einfluss“ der „Anthropologie der Naturvölker“ von Theodor Waitz bis auf die Vision einer rassenlosen Anthropologie diskutiert Carole Maigné, während Egon Renner zum Abschluss dieses Bandes den Transfer damaliger Anthropologie aus Deutschland in die Vereinigten Staaten am Beispiel von Franz Boas beschreibt als tief greifende Verwurzelung eines weit verbreiteten politischen Antisemitismus.

Ein sowohl für französische als auch für deutsche Leser sehr wichtiger Band, den Céline Trautmann-Waller hier dankenswerter Weise vorlegt; abschließend mit einer kursorischen Chronologie zu Entwicklung der Anthropologie, Ethnologie und Psychologie im Berlin des 19. Jahrhunderts.

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30.09.2004
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