M. Beck: Friedensprozess im Nahen Osten

Title
Friedensprozess im Nahen Osten. Rationalität, Kooperation und politische Rente im Vorderen Orient


Author(s)
Martin, Beck
Extent
436 S.
Price
37,90 €
Rezensiert für 'Connections' und H-Soz-Kult von:
Peter Ullrich ullrich@uni-leipzig.de

Wer ein Buch über den Nahostkonflikt veröffentlicht, muss das angesichts der Unmengen von Literatur zum Thema schon sehr gut begründen. Die überarbeitete Tübinger Habil-Schrift von Martin Beck hat einen gewichtigen Grund vorzuweisen. Sie fügt den vielen v.a. historischen und populärwissenschaftlichen Arbeiten den Versuch einer streng theoriegeleiteten Untersuchung hinzu, die sich nicht mit dem „Alles hängt mit allem zusammen“ zufrieden geben will und für die Verfahrenheit der Situation im Konflikt zwischen Israel und den PalästinenserInnen einfach ein buntes Gemisch aus den Faktoren Kalter Krieg, Religion, Wasser, Öl, Holocaust und islamistischer Terror anbietet. Sicherlich sind diese Faktoren alle im Spiel, doch die These des Buches lautet, dass die innere Struktur des Konfliktes zu bestimmten Zeitpunkten (modelliert als Dilemma- bzw. Koordinationsspiele) und der Rentenzufluss an die Konfliktparteien (insbesondere die palästinensische Seite) die entscheidenden Ursachen sowohl für die Jahrzehnte währende unkooperative Austragung und für den Wechsel zur kooperativen Konfliktbearbeitung als auch für den ökonomischen Niedergang der besetzten Gebiete und ihre unliberale Entwicklung darstellen. Die theoretische Grundlage des Buches ist eine Variante des so genannten „situationsstrukturellen Ansatzes“, einer politikwissenschaftlichen Spielart der Spieltheorie, die mit Hilfe mathematischer Explikationen Positionsdifferenzen zwischen Akteuren über bestimmte Gegenstände untersucht und so zu Schlussfolgerungen über mögliche Strategiewahlen der Beteiligten kommt. Drei Fragen will das Buch beantworten: 1) Welche sind die Voraussetzungen für die kooperative Bearbeitung des palästinensischen Konfliktes im Nahen Osten? 2) Was sind die Ursachen für die katastrophale Entwicklung der Autonomiegebiete, die durch eine schwere wirtschaftliche Krise und die Herausbildung eines autoritären Regimes gekennzeichnet sind? 3) Worin liegt die zweischneidige, sowohl durch Krisen als auch durch Kontinuität geprägte Entwicklung des Friedensprozesses begründet?
Nach einer ausführlichen Erläuterung der theoretischen Grundlagen (Kap. 2) und einem historischen Abriss des Nahostkonfliktes (Kap. 3) folgen die empirischen Hauptkapitel.
Kapitel 4 beantwortet die erste Frage: Ein Zusammenspiel aus dem Wandel der Präferenzstrukturen der beteiligten Akteure und den Rahmenbedingungen ihrer Finanzierung (im Fall der PLO durch Renten) war die Voraussetzung für die gegenseitige Anerkennung Israels und der PLO und somit den Beginn von Verhandlungen. Die kooperationsausschließende Deadlocksituation der frühen Konfliktphase wandelte sich durch geänderte arabische Politiken und das Aufkommen neuer Akteure (der PLO) mit anderen Präferenzen zunehmend in Richtung einer prinzipiell kooperationsermöglichenden iterierten Dilemmasituation. Das Wegbrechen der PLO-Finanzquellen (staatliche und MigrantInnenrenten aus der Golfregion) im Zuge ihrer Irak-freundlichen Haltung im zweiten Golfkrieg und das Angebot westlicher Staaten im Gegenzug für eine kooperative Haltung der PLO in der Nahostkonflikt-Frage in diese Bresche zu springen, waren dann der entscheidende (Renten-) Anstoß für eine PLO, die ihr Überleben sichern wollte.
Die zweite Frage erklärt sich im Wesentlichen durch Effekte von Rentenzahlungen (Kap. 5). Typisch für Rentierstaaten, wie den palästinensischen Protostaat, sind die relative Unabhängigkeit des Staates von der Gesellschaft (sowohl Zivilgesellschaft als auch Wirtschaft). Zusätzlich schwächte die israelische Besatzungspolitik den gesellschaftlichen Sektor, indem durch ihre Eingriffe in die besetzten Gebiete, z.B. die Politik der Absperrungen, hauptsächlich der Privatsektor und die „kleinen Leute“ getroffen wurden, weniger jedoch die palästinensische Nomenklatura. Weil das vorrangige Interesse der westlichen Geldgeber der PLO in der Unterstützung/Aufrechterhaltung des Friedensprozesses bestand, was eine Stabilisierung der PLO gegenüber ihren Kontrahenten, der Ablehnungsfront aus Hamas, islamischer Dschihad, aber auch PFLP und DFLP, implizierte, konnte diese ihre Rentenzahlungen nicht in Hinblick auf Rechtsstaatlichkeit oder effiziente Wirtschaftsstrukturen konditionalisieren. Ebenso konnte die Rentenzahlungen an Israel schlecht konditionalisiert werden, da dem sozietale Widerstände beim Hauptrentengeber USA entgegenstehen, außerdem die Abhängigkeit Israels von Rentenzahlungen nicht so weit ausgeprägt ist, wie die der palästinensischen Autonomiebehörde.
Der dritten Frage widmet sich Kapitel 6: „Beide Seiten, so hat eine Kosten-Nutzen-Analyse ergeben, würden sich trotz der zu erbringenden Opfer insgesamt besser stellen, wenn sie den Friedensprozess zu einem erfolgreichen Ende führten“ (394) Doch wurden bei den Osloer Verhandlungen die heißen Eisen (Jerusalem und die Flüchtlingsfrage) ausgespart und keine Vorkehrungen für den Fall des Bruchs der erzielten Vereinbarungen getroffen, der somit zum Dauerzustand wurde. Zum prinzipiellen Dilemma des Konfliktes treten hier außerdem noch Vertrauens- und Verteilungsprobleme, sowie starke sozietale Widerstände, die insbesondere auf der israelischen Seite (gut organisierte Siedlerbewegung) nicht leicht zu überwinden sind. In Anbetracht der immensen Machungleichheit ist dies auch durch internationale Konditionalisierung (die sich wie erwähnt v.a. an den schwächeren „Friedenspartner“ richten kann) nicht auszugleichen.
Die abschliessenden Kapitel widmen sich der Zusammenfassung (Kap. 7) und dem aktuellen Niedergang des Friedensprozesses (Kap. 8). Schade ist dabei, dass das Buch im Sommer 2001 fertiggestellt wurde, also im Frühstadium der zweiten Intifada, einer entscheidenden Wende im „Friedensprozess“, die entgegen der vagen und zweifelnden Hoffnung des Autors sein derzeitiges komplettes Scheitern incl. der bisher größten Eskalation der Gewalt manifestiert hat und welche mit dem Bau der von manchen „Apartheid-Wall“ und von Israel „Sicherheitszaun“ genannten Mauer und der Wiederbesetzung großer Teile der Westbank den Prozess auf lange Sicht wieder zum Erliegen gebracht hat.
Das insgesamt schätzenswerte Unterfangen Martin Becks ist jedoch auch mit weiteren Schwachstellen behaftet. Insbesondere die für die spieltheoretische Modellierung unerlässliche Darstellung der (erwarteten) Nutzen in ganz konkreten Auszahlungen erscheint oft ad hoc gewählt. Auch das Tautologieproblem, welches in der Erklärung von Konfliktverhalten durch Präferenzen, die aus demselben abgeleitet wurden, liegt, ist nur z.T. befriedigend gelöst, die Bestimmung der Präferenzen aus offiziellen Verlautbarungen ist eher wacklig.
Einige weitere Schwächen des Buches sind eher formaler Natur, aber deswegen keine Nebensache. Das Druckbild erinnert mehr an mittelmäßige Kopien als an ein Buch. Ein gutes Lektorat hätte wohl noch einige der vielen Rechtschreib-, Grammatik- und sonstigen Flüchtigkeitsfehler aufgespürt. Dem elfseitigen Inhaltsverzeichnis hätte eine Kapitelübersicht gut zur Seite gestanden. Auch die Untergliederung des Textes bis zur siebenten Ebene erhöht nicht unbedingt die Übersichtlichkeit und Lesefreundlichkeit. Die Tabellen und Schaubilder scheint der Autor im Texteditor entworfen zu haben; einen Grafiker, der gewisse, auch das Verständnis erleichternde Gestaltungselemente eingefügt hätte, haben sie jedenfalls nicht zu Gesicht bekommen. So ist auch das Literaturverzeichnis nur schwer zu handhaben, weil die einzelnen Titel eingerückt, anstatt wie üblich, mit hängendem Einzug angeordnet sind. Gerade für die Darstellung der Zusammenhänge der verschiedenen Theorieelemente wären einige Schaubilder eine immense Erleichterung. So ist das Lesen etwas trocken und anstrengender als nötig. Die sollte aber nicht vom Lesen abhalten.

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18.10.2004
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Diese Rezension entstand im Rahmen des Fachforums 'Connections'. http://www.connections.clio-online.net/
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