Die Forschung zur Dekolonisation Afrikas beschränkt sich immer weniger darauf, die Entwicklung einzelner Kolonien hin zu unabhängigen Nationalstaaten nachzuzeichnen. Stattdessen betrachten historische Arbeiten die Durchsetzung der Territorialstaatlichkeit nicht mehr als zwangsläufig und rücken alternative Zukunftsentwürfe wie regionale Föderationen oder panafrikanische Ideen ins Blickfeld, die in der frühen Phase der Dekolonisation rege diskutiert wurden.1 Damit einhergehend finden auch die transnationalen Netzwerke der Befreiungsbewegungen sowie deren Knotenpunkte verstärkt Beachtung.2
Zu dieser Debatte trägt auch die Dissertation von Philmon Ghirmai bei, die sich mit den Aktivitäten Ghanas und Ägyptens zur Förderung von Befreiungsbewegungen in Afrika befasst. Von der Mitte der 1950er-Jahre an förderten sowohl der ghanaische Premierminister (ab 1960 Präsident) Kwame Nkrumah als auch der ägyptische Präsident Gamal Abdel Nasser antikoloniale Netzwerke und richteten Konferenzen aus, an denen auch nichtstaatliche Akteure teilnahmen. Anders als in intergouvernementalen Organisationen wie den Vereinten Nationen kamen so auch Vertreter/innen der noch kolonisierten Territorien zu Wort. Auf diese Weise wurden transnationale Kontakträume geschaffen, in denen sonst aus internationalen Organisationen ausgeschlossene Akteure sich vernetzen und alternative Konzepte für die Neuordnung des Kontinents verhandeln konnten.
Die Geschichte dieser Vernetzung hat Ghirmai auf breiter Quellenbasis untersucht. Für seine Studie hat er nicht nur in Archiven in mehreren europäischen Städten, sondern auch in Accra und Kairo geforscht. Gerade die Erläuterungen zu den Recherchen in Kairo bieten interessante Einblicke in die nicht unbeträchtliche Arbeit, die mit der Erstellung der Monographie einherging. Darüber hinaus werden die Erinnerungen wichtiger antikolonialer Akteure herangezogen. Die Arbeit mit solchen Texten ist oftmals unerlässlich, will man in Forschung und Lehre afrikanische Perspektiven berücksichtigen. Gerade deswegen ist es bedauerlich, dass Ghirmai dieses Quellengenre nicht in der Einleitung diskutiert. Da er auch die verfügbaren Archivquellen gelesen hat, wäre es spannend gewesen, etwas über seine Einschätzung der zitierten Erinnerungen zu erfahren.
Die Monographie folgt der klassischen Gliederung deutscher Qualifizierungsarbeiten. Fünf thematische Kapitel sind in mehrere Unterkapitel geteilt, jedes Unterkapitel endet mit einer Zusammenfassung, jedes Hauptkapitel zudem mit einem Zwischenfazit. Die damit einhergehenden Wiederholungen werden auf manche Lesende ermüdend wirken. Studierende, die sich anhand des Buches erst in das Themenfeld einarbeiten, werden jedoch dankbar für diese Vorgehensweise sein. Für die Verwendung in der Lehre sprechen zudem der klare, sachliche Stil und die zur Orientierung hilfreichen Kurzbiographien wichtiger Personen, die das Werk abschließen.
Die Studie beginnt mit einer Rekonstruktion des globalpolitischen Kontexts nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs. Im Anschluss daran werden die antikolonialen Aktivitäten Ghanas in der Geschichte des Panafrikanismus verortet und die Entwicklung Accras zu einem antikolonialen Knotenpunkt untersucht. Kairos Aufstieg zu einem zentralen Treffpunkt und Rückzugsort für Befreiungsbewegungen hingegen wird nicht mit einer antikolonialen Tradition erklärt, sondern mit dem Streben Nassers, seine internationale Position nach der Suezkrise 1956 zu festigen.
Im Folgenden werden ausführlich die Konferenzen erörtert, auf denen sich die in Accra und Kairo entstandenen Netzwerke austauschten. Auf der von Ghana ausgerichteten All-African People’s Conference (1958) kamen Delegierte zusammen, die afrikanische Staaten, zivilgesellschaftliche Organisationen und Befreiungsbewegungen vertraten. Durch die Gründung der All-African People’s Conference Organisation (AAPCO), Folgekonferenzen in Tunis (1960) und Kairo (1961) sowie die Positive Action Conference for Peace and Security in Africa (1960) sollten die geknüpften Verbindungen gefestigt werden. Die Zusammenarbeit verlief allerdings nicht ohne Spannungen, insbesondere die von Nkrumah propagierte Gewaltfreiheit im Kampf gegen den Kolonialismus stieß auf Widerspruch in den Befreiungsbewegungen. Nkrumahs erfolgloses Streben, mit seiner panafrikanischen Strategie die Deutungshoheit auf den Konferenzen zu erlangen, und die Interessenkonflikte zwischen den antikolonialen Akteuren sollten schließlich zum Zerfall des Netzwerks führen.
Auch die Entwicklung der in Kairo gegründeten Afro-Asian Peoples’ Solidarity Organisation (AAPSO) verlief nicht konfliktfrei, wobei für dieses Netzwerk vor allem Spannungen zwischen staatlichen und nichtstaatlichen Akteuren charakteristisch waren. Anders als in Accra dominierten auf der ersten Afro-Asian Peoples’ Solidarity Conference (1957/58) die arabischen und asiatischen Staaten die Agenda, die Delegierten aus den unabhängigen afrikanischen Staaten und den noch unter der Kolonialherrschaft stehenden Territorien konnten sich dagegen nur begrenzt mit ihren Anliegen Gehör verschaffen. Auf der Folgekonferenz in Guinea (1960) sollten dann afrikanische Delegationen die Mehrheit stellen, sodass die Unterstützung des antikolonialen Kampfes in Afrika zu einem wichtigen Anliegen avancierte. Angesichts der zunehmenden Anzahl unabhängiger afrikanischer Staaten sollte kurz darauf wieder die Zusammenarbeit zwischen Regierungen die oberste Priorität der Organisation bilden.
Im Mittelpunkt von Ghirmais Untersuchung stehen diese Konferenzen sowie die Geschichte der AAPCO und der AAPSO. Deren Bedeutung für die zunehmende Vernetzung zwischen den antikolonialen Akteuren wird zwar betont, auf die daraus folgenden Kontakte und Aktivitäten wird aber nur beispielhaft verwiesen. Ebenso wird das Zusammenspiel von antikolonialen Konferenzen und zwischenstaatlichen Beziehungen in Afrika nur am Rande thematisiert. Normalerweise wird auf solche Lücken in Rezensionen bedauernd hingewiesen. Mit Blick auf die konstant wachsende Forschung zum Themenfeld handelt es sich jedoch um eine glückliche Schwerpunktsetzung. Wer etwa mehr über Ghanas panafrikanische Tätigkeiten sowie die damit einhergehenden Konflikte zwischen Ghana und anderen afrikanischen Staaten erfahren möchte, wird in der 2018 veröffentlichten Monographie von Matteo Grilli fündig.3
Die Fokussierung auf die Konferenzen bringt es mit sich, dass die Studie teilweise zu anderen Thesen und Periodisierungen kommt als die schon vorliegenden Arbeiten. Während etwa Jeffrey S. Ahlman eine schon im Frühjahr 1960 beginnende, graduelle Hinwendung zur Unterstützung gewaltsamer Widerstandsaktivitäten durch Ghana beobachtet4, betont Ghirmai das Festhalten Nkrumahs am Prinzip der Gewaltfreiheit und sieht in den Konflikten um diese Frage einen Grund für die Auflösung des in Accra geschaffenen Netzwerks.
Auch Ghirmais Entscheidung, seine Darstellung mit dem Zerfall der AAPCO und der Neuorientierung der AAPSO 1960/61 zu beenden, steht im Widerspruch zu Studien, die die Kontinuitäten der ghanaischen und ägyptischen Unterstützung von Befreiungsbewegungen bis in die Mitte der 1960er-Jahre nachzeichnen.5 Trotz des Bedeutungsverlustes der AAPCO und der AAPSO blieben Accra und Kairo noch für einige Jahre antikoloniale Zentren während gleichzeitig neue transnationale Knotenpunkte entstanden, an denen sich Befreiungsbewegungen vernetzen konnten. Die 1963 geschaffene Organisation of African Unity gründete das Liberation Committee in Dar es Salaam und erkannte ausgewählte Befreiungsbewegungen als Vertreter der Bevölkerung in den noch kolonisierten Territorien an. Infolge der Dekolonisation um 1960 war eine Ordnung entstanden, in der auch Befreiungsbewegungen völkerrechtliche Legitimität für sich beanspruchen konnten. So erscheint es vielversprechend, die Geschichte der von Ghirmai untersuchten Netzwerke und Ordnungsvorstellungen auch über die Frühphase der Dekolonisation hinaus zu verfolgen.
Die Reihe der offenen Fragen spricht für die Bedeutung der besprochenen Monographie. Ghirmai hat mit seiner archivgestützten Rekonstruktion der untersuchten Konferenzreihen einen wichtigen Beitrag zur Geschichte der Dekolonisation Afrikas geleistet. Seine Thesen sollten von der Forschung aufgegriffen und diskutiert werden.
Anmerkungen:
1 Für einen wichtigen Anstoß zu dieser Debatte vgl. Frederick Cooper, Possibility and Constraint. African Independence in Historical Perspective, in: The Journal of African History 49 (2008), S. 167–196.
2 Vgl. etwa Jeffrey James Byrne, Mecca of Revolution. Algeria, Decolonization, and the Third World Order, Oxford 2016; Eric Burton, Hubs of Decolonization. African Liberation Movements and Eastern Connections in Cairo, Accra and Dar es Salaam, in: Lena Dallywater / Helder A. Fonseca / Chris Saunders (Hrsg.), Southern African Liberation Movements and the Global Cold War ‚East‘. Transnational Activism 1960–1990, Berlin 2019, S. 25–56.
3 Matteo Grilli, Nkrumaism and African Nationalism. Ghana’s Pan-African Foreign Policy in the Age of Decolonization, Cham 2018.
4 Vgl. Jeffrey S. Ahlman, The Algerian Question in Nkrumah’s Ghana, 1958–1960. Debating „Violence“ and „Nonviolence“ in African Decolonization, in: Africa Today 57 (2010), S. 66–84; Ders., Road to Ghana. Nkrumah, Southern Africa and the Eclipse of a Decolonizing Africa, in: Kronos 37 (2011), S. 23–40, hier S. 32.
5 James R. Brennan, Radio Cairo and the Decolonization of East Africa, 1953–1964, in: Christopher J. Lee (Hrsg.), Making a World after Empire. The Bandung Moment and Its Political Afterlives, Athens 2010, S. 173–195, hier S. 187; Ahlman, Road to Ghana, S. 40; Grilli, Nkrumaism.