Rebekah Lee hat sich mit ihrem Buch „Health, Healing and Illness in African History“ Großes vorgenommen. Sie widmet sich den Themenkomplexen des Titels quer über den Kontinent hinweg vom 19. Jahrhundert bis in die Gegenwart, wobei sie interdisziplinäre Perspektiven verspricht. Es überrascht daher sehr, wenn man dieses Buch in den Händen hält und bemerkt, dass es gerade einmal 230 Seiten umfasst. Ebenso überraschend ist dann die Feststellung am Ende des Buches, dass man einem solchen Vorhaben in diesem Umfang derart gerecht werden kann. Lee bietet hier eine enorm gehaltvolle, umsichtige und eloquente Einführung zu einem Thema, welches in der Fachwelt wie in der allgemeinen Öffentlichkeit oft beachtet und besprochen wird, jedoch noch immer von zahlreichen Stigmata, Verklärungen und Wissenslücken heimgesucht wird.1 Dabei wendet sie sich dem afrikanischen Kontinent, dem bis heute Stereotypen von Armut und Krankheit anhaften, vorrangig als Historikerin zu. Die Bandbreite der besprochenen Quellen und der von ihr behandelten Beispiele reichen jedoch immer wieder über disziplinäre Grenzen hinaus. Sie zeigt sich medizinisch ebenso informiert wie anthropologisch und politikwissenschaftlich.
Das Buch ist inhaltlich in zwei Teile gegliedert. Der erste, „Historical Dynamics“, zeichnet ein historisches Portrait afrikanischer Systeme von Heilung sowie Vorstellungen von Gesundheit. Beginnend bei dem verfügbaren Wissen über präkoloniale Gesellschaften etwa ab dem Jahr 1800, über die Zeit europäischer Kolonisation bis hin zu gegenwärtigen postkolonialen Staaten ergeben sich drei Kapitel. Diese weisen allesamt ein strukturelles Vorgehen auf, welches Lee konsequent durch das gesamte Werk verfolgt: Eine einleitende Diskussion der akquirierten Quellen. Die Autorin vergegenwärtigt, wie jegliche Darstellung von und Interaktion mit afrikanischen Gesellschaften durch externe Akteure eingebettet in einen Kontext kultureller Selbstkonstitution und komplexen Othering-Prozessen untersucht werden muss, um Verzerrungen und Projektionen erkennen und problematisieren zu können. Lees Buch bietet jedoch deutlich mehr als „nur“ einen weiteren Beitrag zu postkolonialer Geschichtsschreibung, welche nach dem Eigenen im Anderen fragt, nach verschwiegenem und zum Schweigen gebrachtem Wissen. Sie öffnet ihre Untersuchung mit Schilderungen und Reiseberichten europäischer Akteure, bezieht darüber hinaus, besonders für das Kapitel zu präkolonialen Heilungsregimen, auch archäologische, linguistische und juristische Quellen ein, jeweils mit einer Reflexion über die Kapazitäten und Limitationen des Materials. Somit schwingt auch stets eine Auseinandersetzung mit anderen epistemischen Traditionen mit, in welchen beispielsweise mündliche Überlieferungen wesentlicher Teil kultureller Wissensproduktion sind. Sie unterstreicht Verflechtungen von Heiler:innen und den sie umgebenden sozialen, kulturellen und politischen Kontexten und fordert die Lesenden heraus, über jene Kontexte in ihren spezifischen Konfigurationen über europäische Konzeptionen von Macht und Staatlichkeit, Körperlichkeit und Gesundheit hinaus nachzudenken.
Ein wichtiges Anliegen ist ihr eine tiefgreifende Untersuchung medizinischen Pluralismus. Dabei hebt sie hervor, dass sie darunter nicht nur das parallele Existieren verschiedener therapeutischer Praktiken versteht, sondern einen aktiven Anerkennungs- und Interaktionsprozess. So gelingt es ihr, das auch in gegenwärtigen sozialen wie professionellen Integrationsdebatten vielbemühte Schlagwort „Pluralismus“ anhand von historischen Beispielen in eben jener Prozesshaftigkeit bedeutsam werden zu lassen. Lee verdeutlicht damit, dass afrikanische Gesellschaften keineswegs den primitiven und statischen Zuschreibungen entsprechen, welche man in den inkludierten kolonialen Reise- und Verwaltungsberichten findet. Therapeutische und medizinische Praktiken ebenso wie damit verwobenen Vorstellungen von Körperlichkeit und Kosmologie – innerhalb Afrikas sowie innerhalb des Kontaktes mit islamischen und europäischen, indischen und ostasiatischen Akteuren – standen vielmehr in regem Austausch miteinander. Allerdings wird ein freier und egalitärer Austausch, dessen ist sich Lee bewusst, von bestehenden soziopolitischen Strukturen und Ungleichheiten innerhalb des globalen Machtverhältnisses begrenzt.
Die drei Kapitel des zweiten Teils, „Case Studies over Time and Space“, gehen auf derartige Fragen nach Verbindungen zwischen Macht und Ungleichheit einerseits und Gesundheit und Krankheit andererseits ein. Dabei korrespondieren sie stark mit den vorangestellten historischen Analysen. Sie führt innerhalb dieser Fallbeispiele die Themenkomplexe HIV/AIDS, psychische Krankheiten sowie durch Umwelt- und Arbeitsbelastung hervorgerufene Lungenkrankheiten an. Jedes dieser Fallbeispiele weist lokale und transnationale Konzeptionen, Strategien und Diskursräume auf, welche „traditionelle“, koloniale und postkoloniale Elemente beinhalten. Wie eingangs erwähnt verdeutlicht Lee, dass eine kulturell-symbolische und auch körperlich-räumliche Abgrenzung während der Kolonialzeit ebenso wie während der Schaffung globaler Gesundheitsinstitutionen Normen von „gesund“ und „krank“ schaffte, welche einen konzeptionell anderen, schwachen, unhygienischen und gefährlichen afrikanischen Körper entwarfen. Waren die kolonialen Narrative offensichtlich gewaltsam, so zeigen sich die Programme zur Entwicklungshilfe der WHO zwar humanistisch, tragen jedoch weiterhin das koloniale Erbe von Bevormundung und Selbstüberhöhung in sich. Bezüglich der kolonialen Gesundheitspolitik beschäftigt sich Lee besonders mit den Auswirkungen rassistischer Ideologien in ihrem Kapitel zu psychischen Krankheiten. „The African Mind“ wird hier zu einer Figur, die den gesamten Kolonialdiskurs zu bündeln scheint. Zum einen zeichnet sich dabei, wie wissenschaftliche Diskurse des 19. und 20. Jahrhunderts zur Rechtfertigung des Kolonialismus beitrugen und afrikanische Körper pathologisierten. Die herangezogenen Quellen zeigen zudem, wie verschieden die ontischen und medizinischen Konzeptionen von Psyche, Seele und Beziehungen zwischen Körper und Geist in „traditionellen“ afrikanischen Gesellschaften waren und sind.
Jedoch eröffnet sich hier eine Verschiedenheit, welche zwar immer wieder genannt wird, das gesamte Buch hinweg jedoch recht vage bleibt. An dieser Stelle wäre es interessant gewesen, die ontische „Offenheit“ vieler erwähnter afrikanischer Gesellschaften gegenüber körperlosen, spirituellen Agenten innerhalb von Diagnose und Therapie zu beschreiben. Im Allgemeinen hätten die spezifischen ontischen Dimensionen schärfer herausgearbeitet werden können. Lee betont zwar immer wieder, wie integriert Konzeptionen von Gesundheit und Heilung in die sozialen Realitäten sind, macht jedoch nicht deutlich, welches Verständnis von Menschsein, Gesellschaftlichkeit und den Beziehungen zur materiellen und immateriellen Umwelt diesen genau zu Grunde liegt. So bleibt etwa unterbeleuchtet, warum die Standardisierung, Kommerzialisierung und Regulierung „Traditioneller Medizin“ durch die WHO und postkolonialen Regierungen eine tiefgreifende Konfrontation mit den ontischen Realitäten der betroffenen Heiler:innen und ihren Gemeinschaften bedeuteten, oder aus welchen Quellen sich Widerstand über ökonomische Beweggründe hinaus manifestierte. Man kann Lee dies nur bedingt vorwerfen, da sie sich an den betreffenden Stellen vordergründig mit den politischen Dynamiken transnationaler Kooperation im Gesundheitswesen widmet. Dabei kommt sie sehr wohl zu dem Ergebnis, dass diese Kooperation von eurozentrischen und paternalistischen Herangehensweisen geprägt ist, vernachlässigt jedoch zahlreiche Implikationen des transnationalen Austauschs für nicht messbare Dimensionen afrikanischer Gesellschaften. Auch wenn mir diese Punkte persönlich als Kulturwissenschaftler fehlen, so muss ich eine Antwort auf die Frage schuldig bleiben, wie man eine derartige ontologische Untersuchung ohne die Gefahr von Romantisierung oder potentieller Fehlinterpretation im Rahmen dieses Buchprojekts hätte umsetzen können. Das Buch liefert nichtsdestotrotz einen exzellenten historischen Überblick und schafft es zudem auch ohne diese Ausführungen, auf Kontinuitäten kolonialer Herrschaft sowie auf (fort-)bestehende Ungleichheiten in der gegenwärtigen globalen Gesundheitskooperation hinzuweisen.
Im letzten Kapitel zu den Folgen von Minenarbeit und Umweltbelastung kommen die vielschichtigen Ebenen von Gesundheitspolitik, Kulturgeschichte und Kolonialismus noch einmal zusammen und gehen im Kontext neoliberaler Wirtschaftspolitik auf. Lee gelingt es zu zeigen, dass nicht nur bezüglich der Aufarbeitung kulturell-symbolischer Ungleichheit Handlungsbedarf besteht, sondern dass auch der Zustand staatlicher Institutionen strukturelle Benachteiligung erkennen lässt, die entlang ethnischer Linien verlaufen und keinesfalls rein meritokratisch erklärbar sind. Demographische und medizinische Studien zur ökonomischen und sozialen Lage verschiedener Bevölkerungsgruppen und dem Auftreten bestimmter Krankheiten illustrieren dies eindrucksvoll. Im Zuge zunehmender Privatisierung und der Externalisierung staatlicher Verantwortung wird deutlich, wie auf marktwirtschaftlicher Ebene historische Dynamiken von Ungleichheit fortgeführt werden. So bietet Lee spannende Impulse und Hintergrundinformationen, um über aktuelle Fragen von Verantwortlichkeit, Anerkennbarkeit und Verwundbarkeit unterschiedlicher Bevölkerungsgruppen zu diskutieren. An vielen Stellen des rundum gelungenen Buches möchte man immer wieder innehalten und sich fragen, wie sich unsere brennenden sozialen Diskussionen über koloniales Erbe, neokoloniale Geopolitik und zukünftige interkulturelle Kooperation gestalten würden, wäre das inhaltliche Fachwissen und die methodische Kompetenz dieses Buches allgemeiner Standard.
Anmerkung:
1 Siehe hierzu: Steven Feiermann / John M. Janzen, The Social Basis of Health and Healing in Africa, Berkeley 1992; Nancy Rose Hunt, Suturing New Medical Histories of Africa, Münster 2013.