K. Clark: Moscow, the Fourth Rome

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Title
Moscow, the Fourth Rome. Stalinism, Cosmopolitism, and the Evolution of Soviet Culture, 1931-1941


Author(s)
Clark, Katerina
Published
Extent
420 S.
Price
£ 25.95
Reviewed for Connections. A Journal for Historians and Area Specialists by
Karl Schlögel, Kulturwissenschaftliche Fakultät, Europa-Universität Viadrina Frankfurt (Oder)

Die Erfahrung von der späten Sowjetunion, diesem nur sehr umständlich zugänglichen und hinter einem Eisernen Vorhang verschanzten Imperium, hat eine Vorstellung produziert, dass dies immer schon so gewesen sein muss: Moskau, die abgeschlossene Hauptstadt, verbarrikadiert, außerhalb der Welt. Nach dem Ende des östlichen Blocks ist zwar wieder ins allgemeine Bewusstsein getreten, dass Moskau einmal ein Referenzpunkt, eine Anlaufstelle der europäischen Denk- und Vorstellungswelt war, aber diese aufscheinende Einsicht ist schnell kassiert oder in den Hintergrund gedrängt worden durch eine immer genauere Kenntnis des durchdringenden Horrors staatlicher Gewalt, der die Sowjetunion in den 1930er-Jahren heimgesucht hat. So ist der Blick auf Moskau in zweierlei Weise präformiert – durch ein Herausfallen aus dem europäischen Horizont in den Zeiten des Kalten Krieges und durch die Katarakte der Gewalt, unter denen die Stadt selbst zu verschwinden drohte. Diese Sichtweise wird von Katerina Clarks Buch über Moskau als Viertem Rom einer Revision unterzogen. Sie spricht von nichts geringerem als dem Kosmopolitismus und von der kulturellen Hegemonie Moskaus in den 1930er-Jahren, die gemeinhin doch als die Jahre der Durchsetzung von Stalins Herrschaft geläufig sind.

Katerina Clark, die aus der Literaturwissenschaft kommt, geht ihre eigenen Wege bei der Erschließung der sowjetischen Welt. Das hat wie immer den Erkenntnisvorteil, den Neben- und Abwege bieten: man sieht von der Seite, geht nicht gleich auf das Zentrum, oder was man dafür hält, los. Das ist keine Garantie dafür, dass man alles sieht oder gar überblickt, wohl aber, dass man anderes sieht als das schon Vertraute und worum sich der Mainstream der Stalinismus-Forschung der letzten Jahre drehte: um Terror, Schauprozesse, schrankenlos entfesselte Gewalt. Sie geht einen anderen Weg ins Herz der Finsternis, und man bekommt vieles zu sehen, was einem zuvor vielleicht entgangen ist – was kann man sich mehr wünschen von der Lektüre eines Buches als einen Zuwachs an Kenntnis und Einsichten, die das Koordinatensystem für das Studium des Stalinismus insgesamt tangieren, möglicherweise in Frage stellen. Was man bei der Lektüre dieses über viele Jahre gewachsenen Buches lernen kann, ist, dass Moskau zwar nicht zum „Vierten Rom“ geworden ist, aber dass es auch nicht marginal, peripher oder bedeutungslose Provinz war, sondern ein Zentrum von großer Faszination und Anziehungskraft in einer „Welt am Abgrund“. Schon allein für diese Rekonstruktion der wirklichen Zug- und Attraktionsverhältnisse muss man ihr dankbar sein. Was sie schreibt, verlegt den Weg in allzu simple Vorstellungen von der alleinigen Herrschaft des Terrors und der wohlfeilen Entlarvung der „Großen Illusion“.

Katerina Clark ist wie nur wenige mit den literarischen und kulturellen Diskursen im postrevolutionären Russland vertraut – siehe ihre klassische Arbeit „History as Ritual. The Soviet Novel“ (1981), ihre Studien über Bachtin (1984) und „Petersburg. Crucible of Revolution“ (1995).1 Auch im vorliegenden Buch geht es um Geschichte, aber gefasst in literarischer Produktion, in Filmen und Bauwerken, als Rekonstruktion von Weltbildern, ästhetischen Programmen und Positionen. Diskursgemeinschaften und intellektuelle Netzwerke, kulturelle Referenzsysteme und Traditionslinien sagen nicht weniger über kulturelle Formationen und ihre Metamorphosen aus als Entscheidungen eines Zentralkomitees. Das „Vierte Rom“ ist der symbolische Ort, unter dem Katerina Clark die Ambitionen der Sowjetunion der 1930er-Jahre zusammenfasst, der Fluchtpunkt für eine aus den Fugen geratene Welt. Es gibt von offizieller Seite – sei es Lenin, Trotzki oder Stalin – keinen expliziten Bezug auf das „Dritte Rom“ des Pskower Mönches Filofei aus dem späten 15. Jahrhundert, in dem der Führungsanspruch Moskaus nach dem Fall Roms und Konstantinopels artikuliert wurde. Die Revolutionäre betonten eher den Bruch mit dieser Genealogie (seltsamerweise wird der Verweis der Smena-Wech-Ideologen auf die III. Internationale als Reinkarnation des Dritten Rom von Clark nicht erwähnt). „Viertes Rom“ steht bei Clark nicht nur für einen kulturellen und politischen Führungsanspruch, sondern für den Prozess der Herausbildung einer Zivilisation aus eigener Kraft, ohne die sich die wenigstens zeitweilige Faszination und Strahlkraft Moskaus noch in den 1930er-Jahren nicht erklären lässt oder als pures Missverständnis entlarvt werden müsste. Als Kronzeugen für die Wirksamkeit einer hegemonialen sowjetischen Kultur treten in ihrer Analyse führende westliche Schriftsteller, Künstler und Intellektuelle und ihre sowjetischen Partner auf. Sie kehren immer wieder: Sergei Tretjakow, der Freund Brechts und Benjamins, Sergei Eisenstein, der Gesprächspartner von Samuel Beckett und James Joyce, Michail Kolzow, der Autor des Spanischen Tagebuchs und vielsprachige Diskutant auf den Kongressen zur Verteidigung der Kultur – einige dieser Repräsentanten des kulturellen und intellektuellen Lebens werden in den Folterkellern des NKWD verschwinden – , oder Ilja Ehrenburg, der Dauergast in den Cafés am Montparnasse, Freund Picassos und Louis Aragons, oder Georg Lukács, der eminente philosophische Kopf und Literaturtheoretiker, der sich nach seinen Stationen in Budapest, Heidelberg, Wien und Berlin nach Moskau gerettet hatte und dort in der Falle saß. Was in diesem Personal in verschiedenen Konstellationen aufscheint, ist die Existenz eines pan-europäischen Netzwerkes, das zum Teil – wie bei Ehrenburg – schon vor dem Ersten Weltkrieg geknüpft wurde, das in der internationalen Bewegung der Avantgarde der 1920er-Jahre – vor allem zwischen Moskau und Berlin – Routine geworden war und das im Kampf gegen den Nazismus und Faschismus – vor allem im Spanischen Bürgerkrieg – gleichsam seine Feuertaufe erfahren hatte.

Gestützt auf dieses Netzwerk arbeitet Clark die Diskurse heraus, in denen das Sowjetische selbstverständlicher Teil einer gesamteuropäischen Suchbewegung im Zeichen der Verteidigung des Humanismus und Universalismus gegen die Barbarei wurde: glänzend die Analyse Moskaus in Eisensteins Film „Iwan der Schreckliche“, aber auch in „Alexander Newski“ und in dem nie abgeschlossenen Moskau-Projekt (1937 und 1947). Hier zeigt sich, was eine „transnationale Perspektive“ avant la lettre leistet: sie holt Moskau zurück in den Horizont der europäischen Renaissance, die Epoche von Erasmus von Rotterdam und Machiavelli, und verliert alle exotische Färbung. Clarks stupende Kenntnis des literarischen Betriebs, der Verlagstätigkeit, der Übersetzungskonjunkturen, zeichnet ein Bild intensiver Vermittlung, Aneignung und – nach einer Epoche des Ikonoklasmus und kulturrevolutionärer Traditionsverachtung – eine Rückkehr zur „Klassik“ – von Homer, Platon, Vergil über Shakespeare, Cervantes und Molière bis zu den Modernen Proust und Joyce. Moskau erscheint mit einem Mal als Zentrum einer aktiven Aneignung der gesamten Weltkultur – das Gegenteil von provinzieller Abschottung. Die sowjetische Kultur vermochte sich so als Vorkämpfer eines Kosmopolitismus und Universalismus in Szene zu setzen in einer Zeit, die von Partikularismus, Nationalismus und Rassismus gekennzeichnet war.

Ob man damit auch gewagte Thesen Katerina Clarks teilen muss – etwa dass der sowjetische Universalismus sich sprachlich in der Literatur behauptet habe, während sich die Blut-und-Boden-Ideologie des NS-Regimes der Skulptur und Bildhauerei bedienen musste – stehe dahin. Überhaupt müssen nicht alle literaturgeschichtlichen Ab- und Herleitungen und geschichtsphilosophischen Ausführungen der Autorin geteilt werden, um von den luziden Analysen und „dichten Lektüren“ zu profitieren. Großartig sind ihre Beobachtungen in dem Abschnitt „Face and Mask: Theatricality and Identity in the Era of the Show Trials“, wo eine Beziehung hergestellt wird zwischen dem System Stanislawski und der medialen Inszenierung der Schauprozesse, zwischen Ringen um Authentizität des Schauspielers und Entlarvung der Angeklagten im Prozess. Großartig ist auch ihre Analyse des Zusammenhangs zwischen Todesbereitschaft und erotischer Passion in Gestalten des Spanischen Bürgerkriegs – der überhaupt Moskau im Zenit seiner hegemonialen Rolle zeigt – zwei Jahre vor dem definitiven Ende aller moralischen Autorität durch den Abschluss des Molotow-Ribbentrop-Vertrags im August 1939. Auch die Studie über „The Imperial Sublime“ – über die prometheischen Gestalten von Polfliegern, die Stilisierung von gewöhnlichen Arbeitern zu Heldengestalten, die Vorführung der Weiten und der Größe des Imperiums in Malerei und Filmen – ist ein weiteres Meisterstück von „cultural studies“. Man nimmt deshalb auch in Kauf, dass man vieles schon an anderer Stelle gelesen hat und dass mancher Schluss – etwa die These, dass das Erhabene zur „Naturalisierung der politischen Ordnung“, also zu ihrer Apologie, beigetragen habe – nicht gänzlich stringent ausgeführt ist. Eine subtile Studie ist auch die Darstellung des Kampfes um die Genres, um die Rehabilitierung des historischen Romans – etwa Walter Scott und Heinrich Manns „Henry Quatre“, Romain Rollands „Jean-Christophe“, aber auch die Rehabilitierung des Lyrischen in Gestalt der Byron-Renaissance in den 1930er-Jahren.

Nicht alles ist hier bewiesen, und es häufen sich die Vokabeln wie „Spekulation“, „es könnte sein“ usw. Und trotzdem bleibt: Man lernt in diesem Buch, wie unendlich durchwachsen die Szene war und dass es wohl ein wirkliches, auch geistiges Leben – wenngleich nicht jenseits von Gewalt und Politik –aus eigener Kraft gegeben hat, und dass Interessengruppen und Lobbys auch in Zeiten der „Gleichschaltung“ und des niedersausenden Terrors existierten. Der Prozess der Zerstörung der paneuropäischen kulturellen Netzwerke und Diskurse ist mithin nicht verharmlost und entschärft, sondern im Gegenteil in seiner Dramatik verschärft, das Personal ist in ein Zwielicht getaucht, in dem sich die einfachen Schwarz-Weiß-Oppositionen auflösen. Die Tragödie Europas wird jetzt erst komplett: auf den Sieg des Faschismus und Nationalsozialismus folgt die Kapitulation des „Vierten Rom“ – folgenreich nicht nur für die Kultur in Sowjetrussland, sondern in ganz Europa. 1941 folgt im Überlebenskampf gegen Hitler-Deutschland zwar ein neues Kapitel, der Wiedereintritt in den paneuropäischen Orbit erfolgte aber erst, als der Diktator stirbt. Ehrenburg und Picasso nehmen wieder Kontakt auf – über den Gräbern derer, die das Ende des Diktators nicht mehr erlebt haben.

Anmerkung:
1 Katerina Clark, The Soviet Novel: History As Ritual. Chicago 1981; dies.with Michael Holquist, Mikhail Bakhtin, Cambridge/Mass. 1984; dies., Petersburg, Crucible of Cultural Revolution, Cambridge/Mass. 1995.

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26.06.2012
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