V. Kivelson u.a.: Russia's Empires

Cover
Titel
Russia's Empires.


Autor(en)
Kivelson, Valerie A.; Suny, Ronald Grigor
Erschienen
Anzahl Seiten
XVII, 420 S.
Preis
€ 24,49
Rezensiert für Connections. A Journal for Historians and Area Specialists von
Martin Aust, Institut für Geschichtswissenschaft, Rheinische Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn

Valerie Kivelson und Ronald Grigor Suny haben aus gemeinsamen Lehrveranstaltungen an der University of Michigan in Ann Arbor eine Überblicksdarstellung der Imperiengeschichte Russlands entwickelt. Ihr wichtigstes Anliegen ist es, vom Mittelalter bis in die Gegenwart eine Varianz imperialer Formationen in der Geschichte Russlands aufzuzeigen. Ihre Darstellung schließt die mittelalterliche Kiever Rus‘ ein. Kivelson und Suny sind sich bewusst, dass Russland, die Ukraine, Belarus und Litauen um das Erbe der Kiever Rus‘ konkurrieren, eine Darstellung der Geschichte Russlands von der Kiever Rus‘ an somit nicht selbsterklärend ist. Überzeugend legen sie dar, wie das Moskauer Russland auch von Anleihen bei der Kiever Rus‘ etwa in der Herrschertitulatur (Großfürst), Kirche und Religion geprägt ist, so dass die Einbeziehung der Kiever Rus‘ in diese Geschichte Russlands plausibel ist, ohne damit eine Schiedsrichterrolle im Erbschaftsstreit um die mittelalterliche Kiever Rus‘ anzustreben.

Die Struktur ihrer transepochalen Darstellung finden Kivelson und Suny darin, ein Instrumentarium imperialer Herrschaftspraxis auf die unterschiedlichen Phasen der Geschichte Russlands anzuwenden. Kivelson und Suny fragen, welche Praktiken imperiale Zentren verfolgten, um den riesigen und soziokulturell heterogenen Raum eines großen Reiches nach Möglichkeit langfristig stabil zu beherrschen. Dabei arbeiten sie aus ihrer einführenden Diskussion der Imperienforschung vier Praktiken im Umgang mit Differenz heraus, nach deren Manifestationen sie in der Geschichte Russlands fragen: (1) Assimilation und Akkulturation, (2) Management von Differenz (anders als in Nationalstaaten werden Gruppen und Regionen nicht gleich, sondern unterschiedlich behandelt), (3) Delegation von Macht an regionale Eliten und (4) Deportationen und Massenmorde (S. 4).

Die Geschichten des Moskauer und Petersburger Russlands wie auch der Sowjetunion zeigen in jeweils spezifischen Ausprägungen alle vier Praktiken in der Ausübung imperialer Macht. Für das Zarenreich sticht dabei das Management von Differenz als wichtigste Praxis der Zentrale hervor. Einem exklusiven Fokus auf die Geschichte der Macht im imperialen Zentrum beugen Kivelson und Suny vor, indem sie transepochal Wechselseitigkeit und Gegenseitigkeit (reciprocity) zwischen Herrschern und Beherrschten untersuchen. Selbst im autokratischen Zarenreich wie auch in der Diktatur der Kommunistischen Partei in der Sowjetunion beruhte Herrschaft nicht allein in der Durchsetzung der Macht von oben nach unten. Die Macht gewann ihre Akzeptanz ferner auch daraus, epochenspezifisch Forderungen der Beherrschten in je unterschiedlichem Maß zu erfüllen.

Die Stärken des Buches liegen in einer in der Lehre gereiften und sprachlich gelungenen Darstellung imperialer Herrschaftspraktiken. Die Darstellung gewinnt durch die Einbeziehung visueller Quellen, die die Argumentation unterfüttern. Auch die Ausführungen über Forschungskontroversen zählen zu den Vorzügen des Buches. Kivelson und Suny thematisieren ihre Auseinandersetzungen mit den Positionen anderen Historiker:innen und lassen damit die Diskursivität von Geschichtswissenschaft erkennen, wobei die Diskussion ganz überwiegend mit der englischsprachigen Forschungsliteratur stattfindet. Das mag einem englischsprachigen Lesepublikum und zumal der Zielgruppe von Studierenden in den USA und Großbritannien entgegenkommen, bildet jedoch nicht die Internationalität der Forschungen zu Russland und der Sowjetunion als Imperien ab.

Kivelson und Suny ist zuzustimmen, dass die Geschichte Russlands und der Sowjetunion über die Jahrhunderte hinweg als Konfrontation und Verschränkung von Imperium und Nationen zu lesen ist. Das gilt für die Verhältnisse sowohl zwischen dem russländischen Imperium und der russischen Nation als auch dem imperialen Zentrum und den zahlreichen Nationen und Nationsbildungen in den Regionen des Reiches. Es wäre jedoch interessant gewesen, in die Diskussion politischer Konzepte neben Imperium und Nation auch die Föderation stärker einzubeziehen. Kivelson und Suny berücksichtigen föderative Aspekte punktuell, diskutieren sie aber nicht grundsätzlich als Kategorie der Imperiengeschichte Russlands. Die Revolutionen 1905 und 1917, die frühe sowjetische Nationalitätenpolitik, Gorbatschows Projekt eines neuen Unionsvertrags und die nominelle Bezeichnung Russlands als Föderation in der Verfassung von 1993 bieten Anknüpfungspunkte, um zumindest das föderative Potential der Imperiengeschichte Russlands auszuleuchten.

Schließlich wirft die Lektüre des Buches die Frage auf, ob der imperiengeschichtliche Zugang nicht eine Möglichkeit bietet, die Chronologie der Geschichte Russlands neu zu denken. Kivelson und Suny übernehmen drei chronologische Gliederungsdimensionen, die aus der klassischen Politikgeschichte bekannt sind: (1) die Großepochen des Moskauer und Petersburger Russlands werden (2) nach Jahrhunderten unterschieden und schließlich so wie auch die Geschichte der Sowjetunion (3) nach den obersten Herrscherfiguren in die Regierungszeiten von Zaren und Generalsekretären unterteilt. Hier könnte gerade der Blick auf imperiale Formationen andere Zäsuren setzen. Beispielsweise löst gerade der imperiengeschichtliche Blick auf Russland und die Ukraine die Einheit des 17. Jahrhunderts in ein Vorher und Nachher des Abkommens von Perejaslav 1654 auf. Zielte die Moskauer Politik bis zur Mitte des 17. Jahrhunderts nach den Verwerfungen der Zeit der Wirren (1598–1613) auf die Konservierung des status quo, so eröffnete das Abkommen von Perejaslav 1654 mit den Zaporoher Kosaken eine neue Phase der territorialen Expansion und der Präsenz ukrainischer Eliten im Reichszentrum bis 1764, als Katharina die Große das ukrainische Kosakenhetmanat auflöste. Hier scheinen ganz andere Zäsuren als in der herkömmlichen Politikgeschichte auf.

Insgesamt erweist sich der weit gefasste zeitliche Rahmen der Darstellung als Vorteil. Während die Forschung in den USA und Europa lange Zeit das 19. Jahrhundert und die Sowjetunion präferiert hat, zeigen Kivelson und Suny, wie gewinnbringend der Blick sowohl auf das Moskauer Russland und das 18. Jahrhundert wie auch die allerjüngste Zeitgeschichte Russlands für die Imperienforschung ist. Kivelson stellt die These auf, dass die Moskauer Herrscher des 16. und 17. Jahrhunderts bewusst mit Differenz umgingen und in ihrer Inszenierung ihre Herrschaft über distinkte Regionen betonten. Damit beschreibt Kivelson das Moskauer Russland nicht allein ex post mit Hilfe geschichtswissenschaftlicher Kategorien als Imperium, sondern veranschlagt auch die Moskauer Szenarien der Macht als Ausdruck eines imperialen Bewusstseins. Hier zeigt sich, welch spannende Kontroversen die Forschung zur Vormoderne verspricht. So hat soeben Ricarda Vulpius das 18. Jahrhundert als jenen Zeitraum ausgewiesen, in dem sich ihrer Auffassung nach die Differenz zwischen der Selbstbeschreibung der Zeitgenossen und den Kategorien der Imperiengeschichtsschreibung aufhebt.1 Am anderen Ende des chronologischen Spektrums wird deutlich, welche Aufschlusskraft die Frage nach dem Umgang mit dem imperialen Erbe für die Zeitgeschichte Russlands besitzt.

Schließlich verdeutlich das Buch, wie groß die Herausforderung ist, eine Gesamtdarstellung der Geschichte Russlands zu schreiben. Die Ausdifferenzierung der Geschichtsschreibung befördert einen Trend zu sektoral-thematisch gebundenen Überblicksdarstellungen. Wer eine Geschichte des Imperiums sucht, die die Herrschaftspraktiken des imperialen Zentrums kulturgeschichtlich informiert in den Mittelpunkt rückt, wird mit Gewinn zum Buch von Kivelson und Suny greifen. Wer hingegen chronologisch durchgängig grundlegende Informationen über alle Regionen, Religionsgemeinschaften, die Ökonomie und die multiethnische Reichselite im Imperium sucht, sei eher Andreas Kappelers Klassiker und die von Alexey Miller herausgegebenen Reihe über die Grenzregionen empfohlen.2 Ein konziser Überblick über die Sozial- und Alltagsgeschichte der russischen Kernregionen des Reiches wiederum findet sich in Carsten Goehrkes Alltags- und Boris Mironovs Sozialgeschichte Russlands.3

Anmerkungen:
1 Ricarda Vulpius, Die Geburt des Russländischen Imperiums. Herrschaftskonzepte und -praktiken im 18. Jahrhundert, Köln 2020.
2 Andres Kappeler, Russland als Vielvölkerreich. Entstehung, Geschichte, Zerfall 1552–1917, München 1992 (und viele folgende Auflagen). In der von Alexey Miller herausgegebenen Reihe Okrainy Rossijskoj Imperii sind bislang erschienen: Zapadnye okrainy Rossijskoj Imperii, Moskau 2006; Sibir‘ v sostave Rossijksoj Imperii, Moskau 2007; Severnyj Kavkaz v sostave Rossijskoj Imperii, Moskau 2007; Central’naja Azija v sostave Rossijskoj Imperii, Moskau 2008; Bessarabija v sostave Rossijskoj Imperii: 1812–1917, Moskau 2012.
3 Carsten Goehrke, Russischer Alltag. Eine Geschichte in neun Zeitbildern. Band 1: Die Vormoderne. Band 2: Auf dem Weg in die Moderne. Band 3: Sowjetische Moderne und Umbruch, Zürich 2003/05; Boris Mironov, Social’naja istorija Rossii perioda imperii (XVIII – načalo XX vv.) genezis ličnosti, demokratičeskoj sem'i, graždanskogo obščestva i pravovogo gosudarstva, 2 Bände, St. Petersburg 1999.

Redaktion
Veröffentlicht am
19.04.2021
Autor(en)
Beiträger
Redaktionell betreut durch