M. Arndt: Tschernobylkinder

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Title
Tschernobylkinder. Die transnationale Geschichte einer nuklearen Katastrophe


Author(s)
Arndt, Melanie
Series
Umwelt und Gesellschaft 21
Published
Göttingen 2020: Vandenhoeck & Ruprecht
Extent
499 S.
Price
€ 65,00
Reviewed for Connections. A Journal for Historians and Area Specialists by
Anna Veronika Wendland, Herder-Institut für historische Ostmitteleuropaforschung, Marburg

Die Charakterisierung der Kernenergie als Leittechnologie der risikogesellschaftlichen Moderne wird häufig mit ihren gleichzeitig entgrenzten und entgrenzenden Wirkungen begründet. Entgrenzt erscheinen ihre ungeheuer energiedichten Prozesse und die unvorstellbar kurzen oder langen Zeiträume, welche in Kernreaktoren und nuklearen Endlagern zu beherrschen sind. Entgrenzend waren die Wirkungen der Kerntechnik immer dann, wenn sie sich als nicht beherrschbar erwies und die radioaktiven Emissionen solcher Versagensfälle den Instrumenten nationalstaatlicher Regulierung und Einhegung ihre Grenzen aufzeigten. Die Geschichte der Kernenergie ist also trotz ihrer Bedeutung für Konzepte nationaler Souveränität und Grandeur1 in wesentlichen Zügen transnational, ob wir nun die Entwicklungs- und Wissensgeschichte funktionierender kerntechnischer Ensembles betrachten oder die Geschichte kerntechnischer Unfälle. Die Kernschmelze von Three Mile Island-2 im US-Bundesstaat Pennsylvania 1979 stand trotz ihres glimpflichen Verlaufs für den Einbruch des Zweifels und des nuklearen Risikobewusstseins in die Fortschrittserzählungen des globalen Nordens.2 Der Reaktorunfall im sowjetukrainischen Tschernobyl zeigte 1986 der ganzen Welt schließlich auf, dass kerntechnische Unfälle mit großen radioaktiven Freisetzungen keine nationalen, sondern transnationale Katastrophen sind. Bisherige transnationale Forschungen zu Tschernobyl befassen sich vorwiegend mit Reaktionen verschiedener Nationalgesellschaften auf den Unfall, häufig im Spiegel medialer oder energiepolitischer Diskurse.3

Melanie Arndt, die Umwelt- und Wirtschaftsgeschichte in Freiburg lehrt, wagt mit ihrer Studie über die „Tschernobylkinder“ eine neue Sicht, indem sie einen akteurszentrierten Ansatz wählt. Im Mittelpunkt steht die bislang kaum erforschte grenz- und systemübergreifende humanitäre Bewegung rund um die Erholung und medizinische Versorgung der „Tschernobylkinder“ als schwächsten Leidtragenden in den Fallout-Gebieten. Diese Bewegung erfasste in ihren Hochzeiten Millionen Menschen verschiedener Generationen in der Sowjetunion und ihren Nachfolgestaaten, den USA, Deutschland, Italien, Spanien, Polen, Kuba und anderen Ländern. Arndts Untersuchung basiert größtenteils auf Fallstudienmaterial aus Belarus und den USA und umfasst den Zeitraum vom Evakuierungsgeschehen nach dem Reaktorunfall 1986 bis ins Jahr 2008, als der autoritär regierende belarusische Präsident Lukaschenka die internationalen Erholungsprogramme einstellen ließ.

Im ersten Teil der Untersuchung stellt Arndt ihre Fallstudien wohlbedacht in mehrere transnationale Kontexte und deren Forschungsliteratur: die Erfahrung des Kalten Krieges und „Atomzeitalters“, Kindheitsgeschichten und Kindheits-Konzepte im Zeitalter der Extreme sowie die Wahrnehmungsformen einer planetarischen, interdependenten Globalgesellschaft auf dem „Raumschiff Erde“ – allesamt Konzepte, auf die das historische Ereignis Tschernobyl rückwirkten und in denen die Tschernobylkinder einen Platz einnahmen.

Den Begriff „Tschernobylkinder“ setzt Arndt dabei bewusst in Anführungszeichen, um zu signalisieren, dass die Zuordnung zu dieser Gruppe ihrerseits Ergebnis von diskursiven Operationen, Machtkämpfen und Zuschreibungen war (S. 335–351). Ob jemand „berechtigt“ war, als „Tschernobylkind“ klassifiziert zu werden und so das Recht auf einen Platz in der Auslandserholung zu beanspruchen, entschied sich im Überschneidungsbereich von radiologischer Evidenz (Kontaminationspegel des Herkunftsortes), teilweise umstrittenem und politisch instrumentalisiertem medizinischen Wissen (Wirkungen von inkorporierten Radionukliden im kindlichen Organismus), Körpermerkmalen (Behinderungen und Erkrankungen) und kulturellen Zuschreibungen (das Kind als Symbol der Verletzlichkeit, als Hoffnungsträger für eine ungewisse Zukunft, als Objekt erwachsenen Handelns). Diese Wissensbestände begründeten Hierarchien von Bedürftigkeit und begannen mit den Tschernobylkindern und den Aktionen der Hilfsorganisationen global zu wandern.

Arndt korreliert diese Aushandlungsprozesse mit ähnlich gelagerten Deutungskämpfen, etwa dem zwischen atomindustrie-naher Forschung, internationalen Organisationen und Anti-Atom-NGOs um das Ausmaß der Katastrophe im Spiegel zählbarer „Strahlenopfer“. In diesem umstrittenen Feld lässt die Autorin ihre mit der Materie nicht gut vertrauten Leser/innen leider etwas im Unklaren über die Einordnung der Positionen und das konkrete Zustandekommen der ihnen zugrundeliegenden Forschungserträge. Methodisch kontrollierte, referierte internationale Langzeitstudien stehen unkommentiert als gleichwertige Position neben alarmistischen NGO-Quellen und nicht referierten Quellen. Dasselbe gilt für den Deutungskonflikt um die sogenannte „Radiophobie“, das heißt somatischer Erkrankungen im Umfeld der Katastrophe, die nicht als direktes Resultat von Strahlenwirkungen, wohl aber als Symptome posttraumatischer Belastungsstörungen eingeordnet werden können. Bei den Angaben zu Kontaminations- und Dosismessungen deckt die Erläuterung im Glossar nicht alle Angaben ab, auch werden an manchen Stellen Kontaminationswerte pro Quadratmeter offenbar mit jenen pro Quadratkilometer verwechselt.

Die Rollen und Motivlagen, die Arndt in ihren Fallstudien untersucht, waren hoch differenziert und häufig ambivalent: zunächst die osteuropäischen Organisatoren und Graswurzel-Akteure, die mit ihrem sozial-humanitären Engagement gleichzeitig auch einen Emanzipationsprozess durchliefen, der sie zum eigenständigen Handeln gegenüber den überforderten staatlichen Institutionen befähigte – häufig auch anstelle derselben. Tatsächlich übernahmen die Tschernobyl-NGOs in den 1990er-Jahren angesichts des ökonomischen Zusammenbruchs fast die gesamte Rehabilitationsarbeit in den Nachfolgestaaten der Sowjetunion und wurden von den Behörden auch in ihrem Anliegen unterstützt, internationale Spenden dafür zu mobilisieren. Arndt exemplifiziert das anhand hervorragend dokumentierter, durch Interviews flankierter Mikrostudien mit einem Schwerpunkt auf der Organisation „Den Kindern von Tschernobyl“ (S. 227–279) und der Minsker Kinder-Onkologin Olga Alejnikova, die mit Pragmatismus eine internationale Unterstützungsstruktur für ihre Klinik aufbaute, also bewusst auch auf Lösungsansätze im eigenen Land baute (S. 301).

Die belarusischen Aktivisten trafen auf westliche Partner, die neben dem humanitären Motiv, Kindern eine Erholungszeit in nichtkontaminierter Umgebung zu gewähren, auch von anderen Ideen und Interessen geleitet wurden, etwa religiöser Überzeugung bis hin zu evangelikalen Missionsabsichten, aber auch politischer Selbstverortung in der Friedens- und Anti-Atom-Bewegung. Die Ost-West-Begegnungen wurden von den Beteiligten als Erweiterung ihrer jeweils eigenen Handlungsmöglichkeiten und kulturellen Horizonte wahrgenommen, bei vielen westlichen Aktivisten auch als Selbstfindungsprozess. Die Fähigkeiten beider Seiten wirkten dabei komplementär, etwa wenn belarusische Intellektuelle ihren Enthusiasmus und ihre rigoristische Selbstentäußerung mit den in der US-charity geschulten Spendenakquise-Fähigkeiten ihrer Partner zusammenspannten.

Doch mussten, so weist Arndt nach, auch Konflikte und Übersetzungsprobleme bewältigt werden, so etwa bei konfligierenden Rollenvorstellungen zwischen dominanzgewohnten US-Amerikanern und selbstbewusst gewordenen Osteuropäern. Die in West und Ost erlernten unterschiedlichen Kommunikationsmuster der Cold-War-Gesellschaften – „Geradlinigkeit“ vs. indirektes Sprechen – konnten zu Missverständnissen und Verstimmungen führen. Charismatische Organisationsgründer in Belarus folgten bei der Bewertung und Auswahl ihrer sozialen Beziehungen einem in Dissidentenzeiten erlernten Freund-Feind-Schema und forderten unbedingte Gefolgschaft, was westliche Partner vor den Kopf stieß. Überdies traten Konflikte mit staatlichen Akteuren hinzu, sobald diese sich autoritär konsolidierten, wie es in Belarus seit dem Regierungsantritt Aljaksandr Lukaschenkas der Fall war. Diese Konfrontation eskalierte schließlich im Verbot der als unpatriotisch diffamierten Kindererholung im Ausland, was die beteiligten Organisationen vor die Wahl stellte, ihre Arbeit einzustellen oder inländische Institutionen zu unterstützen.

Die „Tschernobyl-Kinder“ selbst spielten zunächst eine passive Rolle im Geschehen, wie es bei Kinderverschickungen üblich war, die Arndt klug in einen breiteren historischen Kontext von Kinderholung und -verschickung in der Sowjetunion und im Westen stellt. Doch als Heranwachsende begannen sie, eigene Sichtweisen und Aktionsformen zu entwickeln, etwa in Form einer positiven Integration der Auslandserfahrung in die eigene Biografie, einer bewussten Aufarbeitung des Tschernobyl-Schicksals oder auch in Form der Emigrationsentscheidung ins ehemalige Gastland.

Schlägt man den Bogen von Arndts Monografie und ihren kleinen Helden in das Belarus der Jetztzeit, so kann gemeinsam mit der Autorin konstatiert werden, dass wir eigentlich nicht mehr nur von „Tschernobylkindern“ sprechen können, sondern von einer ganzen Generation Tschernobyl, die nicht nur die ins Ausland verschickten Kinder umfasst, sondern alle, die mit ihnen gemeinsam das Schweigen um Tschernobyl allmählich aufbrachen. Die Erfahrungen von Staatsversagen und massenhaftem Leid, aber auch massenhafter Selbstermächtigung und selbst erkämpfter Weltöffnung werden heute gegen staatliche Versuche der Abschließung des Landes sowie der „Normalisierung“ und Verharmlosung der Tschernobyl-Folgen gesetzt. Das muss übrigens nicht zwangsläufig in dieselben politischen Schlussfolgerungen einmünden wie in Deutschland, wie Arndt mit Blick auf die mehrheitlich vorsichtig-positive Grundhaltung dieser Generation zur Kernenergienutzung zeigt. Doch sicherlich war die Selbstbehauptungs- und Selbstorganisationserfahrung im Schatten von Tschernobyl auch einer der Faktoren bei der im Westen mit großem Erstaunen wahrgenommenen Emergenz einer belarusischen Zivilgesellschaft nach der Präsidentschaftswahlfälschung vom August 2020. Dass es die Tschernobylkinder-Generation ist, die mit dem bleiernen postsowjetischen Quietismus der Lukaschenka-Epoche brach und heute auf den Straßen von Minsk und Homel demonstriert, ist kein Zufall.

Anmerkungen:
1 Gabrielle Hecht, The Radiance of France. Nuclear Power and National Identity after World War II, Cambridge 1998.
2 Frank Bösch, Umbrüche in die Gegenwart. Globale Ereignisse und Krisenreaktionen um 1979, in: Zeithistorische Forschungen/Studies in Contemporary History 9 (2012), S. 8–32, https://zeithistorische-forschungen.de/1-2012/4421 (02.01.2021).
3 Katrin Jordan, Ausgestrahlt. Die mediale Debatte um „Tschernobyl“ in der Bundesrepublik und in Frankreich 1986/87, Göttingen 2018; Karena Kalmbach, The Meanings of a Disaster. Chernobyl and Its Afterlives in Britain and France, New York 2020.

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05.01.2021
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