K. Engelbrekt: Security Policy Reorientation in Peripheral Europe

Title
Security Policy Reorientation in Peripheral Europe. A Comparative-Perspectivist Approach


Author(s)
Engelbrekt, Kjell
Published
Aldershot 2002: Ashgate
Extent
300 S.
Price
Rezensiert für 'Connections' und H-Soz-Kult von:
Ulrich Schuster, Zentrum für Höhere Studien der Universität Leipzig

Das Angebot an Theorien innerhalb des politikwissenschaftlichen Bereichs der Internationalen Beziehungen (IB) ist immer schwieriger zu überschauen. Nachdem der prognostische Anspruch etablierter Forschungsansätze mit dem Zusammenbruch des Warschauer Paktes stark relativiert wurde, brachten die 90er Jahre eine bislang nicht da gewesene theoretische Ausdifferenzierung hervor. Postmoderne, Sozialkonstruktivistische aber auch Kritische Theorien der IB, die in den Jahren zuvor meist ein Schattendasein führten, gewannen an Relevanz. Der oft zeitlich versetzt wirkende Input anderer sozialwissenschaftlicher Disziplinen wie der Philosophie, Ökonomie, Soziologie oder Linguistik spielte dafür eine wesentliche Rolle. Noch mehr als das lässt sich die heute vorfindbare breite Theoriepalette mit den enorm erhöhten Anforderungen an Erklärungsansätze der IB begründen, die der Wandel der Weltordnung seit 1990 und die Transformation von Staatlichkeit im Zusammenhang mit Phänomenen der Globalisierung provoziert.

Die Studie des Kopenhagener Politikwissenschaftlers und Osteuropaexperten Kjell Engelbrekt über die Transformation der Sicherheitspolitiken in Schweden, Finnland, Bulgarien und Griechenland Anfang der 1990er Jahre (Juli 1990-April 1994) gibt ein originelles, gleichzeitig aber auch sehr spezielles Beispiel für den gegenwärtig offenen Stand der Forschungsansatzdebatte in den IB. Die theoretische Brisanz fällt schnell ins Auge, obwohl der Autor zunächst andere Forschungszwecke in den Vordergrund schiebt. So sei es das unmittelbare Ziel des Buches eine vielseitige und umfangreich vergleichende Analyse der sicherheitspolitischen Neuorientierung in den besagten europäischen Ländern vorzunehmen. Alle vier sind kleine oder mittelgroße europäische Staaten, deren Außenpolitik während der Systemkonkurrenz äußerst stark von der Nähe zum Eisernen Vorhang geprägt wurde. Während im Norden Finnland einen sogenannten Freundschaftsvertrag mit der Sowjetunion geschlossen hatte, praktizierte Schweden über Jahrzehnte eine neutrale Nichtpaktgebundenheit, die in der Gesellschaft hohe Zustimmung genoss. Auf dem Balkan war Bulgarien ein zuverlässiges Mitglied des Warschauer Paktes, Griechenland hingegen ein in die NATO-Strukturen voll integrierter Staat mit einer „special relationship“ zu den USA.

Mit der exemplarischen Analyse des sicherheitspolitischen Wandels innerhalb einer nord- und südosteuropäischen Region möchte Engelbrekt gleichzeitig Licht auf eine entscheidende Phase der Rekonstruktion der europäischen Sicherheitsarchitektur nach Ende des Kalten Krieges werfen. Doch der Autor hat keinesfalls nur beschreibende und darstellende Ambitionen. Indem die vier Länderstudien jeweils mit Hilfe von methodischen Instrumentarien operieren, welche aus drei Hauptströmungen der Theorienentwicklung in den IB abgeleitet werden (Realismus, Institutionalismus und politische Anthropologie), stehen auch erkenntnistheoretische Positionen im Vergleich. Neben konkreten Sicherheitspolitiken werden also die Auswirkungen unterschiedlicher theoriegeleiteter Perspektiven in der Forschungspraxis untersucht.

Es ist wohl heutzutage schon die überwiegende Mehrzahl der Arbeiten in den IB, die sich mehr oder weniger explizit auf einen Theoriepluralismus beruft. Auch hierzulande werden solche Konzepte zunehmend angewandt. Aber die Vorgehensweise von Engelbrekt verdient besondere Aufmerksamkeit wegen der sowohl Theorien als auch spezifische Sicherheitspolitiken vergleichenden Methode. Schon der Begründungszusammenhang der multiplen Theoriekonzeption ist instruktiv. Der Autor greift auf einen Aspekt der Philosophie Nietzsches zurück, nach der Wirklichkeit nur aus der Summe aller möglichen Perspektiven besteht.

Engelbrekt’s „Perspektivischer Ansatz“ erhebt demzufolge nicht den Anspruch, verschiedene Theorien in einem Mischmodell zu synthetisieren und letztendlich eine neue Art Metatheorie zu schaffen. Noch strebt er an, wie es gegenwärtig häufig in Forschungsarbeiten geschieht, unter dem grundlegenden Paradigma eines speziellen Ansatzes eine nur modifizierende Ausdifferenzierung desselben zu erreichen. Vielmehr werden drei Perspektiven der IB auf das Feld der Sicherheitspolitik bezogen und – separat nebeneinander gestellt – gleichermaßen zur Gewinnung empirischer Daten genutzt. Die sich quasi automatisch einstellende vergleichende Bewertungsebene dient Engelbrekt nicht der Gewinnung genereller Ausschlusskriterien für oder gegen einen bestimmten Ansatz. Aber es wird andererseits auch nicht im Sinne eines epistemologischen Relativismus verfahren, der von vornherein das analytische Potential aller theoretischer Sichtweisen gleich hoch einschätzt. Vielmehr kann nach Engelbrekt ein Vergleich durchaus die Erkenntnis erbringen, dass ein besonderer Forschungsrahmen, welcher auf eine spezifische Fragestellung angewendet wird, besser als andere dafür geeignet ist:

„Whereas epistemological relativism typically means that we value each theory equally highly irrespective of its analytical potential, perspectivism can hypothetically very well favor the framework which serves the purpose better in a particular context or a concrete research project.” (S. 59)

Im konkreten Fall werden ein an Stephen M. Walt angelehnter Realismus, ein von Martha Finnemore inspirierter soziologischer Institutionalismus und ein von Isaac Singer und Aaron Wildawsky ausgeliehener politisch-anthropologischer Blick für eine breite Definition von Sicherheitspolitik ausgewählt und für die empirische Studie operationalisiert. Die erste Perspektive, in welcher Daten ausgewertet werden, folgt somit einer „Bedrohungstheorie“, die die politische und ökonomische Macht, die geopolitischen Bedingungen, militärische Offensiv- und Verteidigungsfähigkeiten und die wahrgenommene Bedrohungsanalyse der vier ausgewählten Staaten untersucht. Ein zweites, separates Kapitel überprüft, inwiefern die Kooperation mit internationalen Organisationen wie EG/EU und NATO mit einer Übertragung von sicherheitspolitischen Rezepten auf Schweden, Finnland, Bulgarien und Griechenland einhergeht. Und in einem dritten Analyseschritt wird der Fokus auf die kulturelle Dimension von Sicherheit gerichtet, wobei insbesondere nach dem Einfluss von ökonomischer Bedürfnisbefriedigung und demokratischer Teilhabe auf die sozialen Werthaltungen zur Sicherheitspolitik der jeweiligen Länder gefragt wird.

Die Ausweitung des Sicherheitsbegriffs, die parallel zur erweiterten realpolitischen Wahrnehmung von Bedrohungspotentialen einem forschungsleitenden Trend folgt, zeigt in dieser Konzeption jedoch auch Grenzen. Der multiple Blickwinkel produziert zwar einerseits ein reichhaltiges Datenmaterial, nur lässt sich dieses bezogen auf die variierenden Untersuchungsperspektiven auch als Aneinanderreihung von Fragen interpretieren. Ebenso bleibt eine präzise Erklärung von ausschlaggebenden Ursachen und nachgeordneten Entwicklungen aus.

Deutlicher wird dies am Fallbeispiel. In Griechenland kam es im Untersuchungszeitraum nur zu einer bescheidenen Umorientierung der nationalen Sicherheitspolitik. Die Bedrohungswahrnehmung änderte sich kaum, die Türkei galt auch weiterhin als Hauptgefahr für die territoriale Integrität des Landes. Zudem war Griechenlands Vorgehen von nationaler Selbstbezogenheit und Nationalstolz-Debatten unterfüttert. Die nur allmählich sich vollziehende Änderung der bilateralen Sonderbeziehungen zu den USA und die mulilateralen Impulse für die griechische Außenpolitik wurden in dieser Zeit durch die verstärkte Kooperation im Rahmen der EG/EU angestoßen.

In Bulgarien hingegen transformierte sich die Sicherheitspolitik grundlegend und sprunghaft. Von einem der loyalsten Bündnispartner der UdSSR wurde Sofia zu einer Stütze westlicher, insbesondere US-amerikanischer Außenpolitik auf dem Balkan. Bulgarien gehörte zu den ersten ehemaligen Warschauer Pakt-Staaten, die einen NATO-Beitritt vorbereiteten und versuchten, Anschluss an die Europäische Gemeinschaft zu finden.

Während im theorieinternen Vergleich beschrieben wird, wie sich die Veränderung der Bedrohungssituation in Bulgarien und die konstant bleibende Wahrnehmung in Griechenland sowie die Regeln und Normen induzierende Wirkung internationaler Institutionen auf die Sicherheitspolitik der Länder auswirkte, unterlässt die Untersuchung eine klar zuordnende Gewichtung der Faktoren. Die Frage, ob für Griechenland bzw. Bulgarien eher die Bedrohungssituation und das Machtpotential, die institutionelle Einbindung oder die Werteinstellung zur Außenpolitik ursächlicher für die Qualität der sicherheitspolitischen Transformation waren und in welchem Verhältnis die Phänomene der Veränderung zueinander stehen, wird nicht beantwortet. Der perspektivische Ansatz von Engelbrekt geht so teilweise zu Lasten einer konsistenten Erklärung der ausgewählten Sicherheitspolitiken und der Entstehung einer westlich orientierten Sicherheitsarchitektur an der ehemaligen Trennlinie des Eisernen Vorhangs. Dies geschieht durchaus bewusst, denn Engelbrekt schränkt seine Datenauswertung in Bezug auf eine querverweisende Gewichtung der unterschiedlichen Analyseperspektiven seinem Ansatz gemäß von vornherein ein:

“To reiterate the main point, (…) perspectivism does not allow for elaborate conclusions based on cross-references of theories and data. What can be offered instead of a conventional synthesis of findings are direct answers to the two descriptive purposes initially posed, and based on broad definitions of national security policy and security order. This will not preclude juxtaposition of findings originating from the different analyses, but each comparison takes place with a single covering value in mind, that of the security policy of an individual country.” (S. 258)

Der Vergleich wird nur im Rahmen eines theoretischen Ansatzes gesucht und ansonsten werden die Untersuchungsergebnisse „nur“ nebeneinandergestellt. Zweifelsohne erbringt dies eine reichhaltige empirische Dichte als Ergebnis und ebenso werden die methodologischen Pfadabhängigkeiten aufgezeigt. Die Spannungen und Widersprüchlichkeiten zwischen den einzelnen Paradigmen bleiben bestehen. Dass im Buch nur eine sanfte Problematisierung alternativer Lesarten angeboten wird, ist mit dem Wissen, dass der Autor den perspektivischen Ansatz für zukünftige Forschungsaufgaben plausibel machen möchte, nachvollziehbar.

Nur das Ende der lesenswerten Studie entzieht sich dann überraschend dem immer präsenten perspektivischem Paradigma. Nicht mehr Ansatz-pluralistisch im Sinne der drei Ausgangstheorien, vielmehr in Richtung eines konstruktivistischen Institutionalismus weisend, ist nämlich das ausblickende Fazit des Stockholmer Politologen. Zwar könne die Entwicklung der europäischen Sicherheitsordnung sowohl Kompetenzkonflikte in der sicherheitspolitischen Zuständigkeit zwischen NATO und EU als auch konfliktarme Koordination hervorrufen. Auf einer substantiellen Ebene sei die gemeinsame Sicherheitsordnung des Westens aber in einer wechselseitigen ökonomischen Abhängigkeit und auf einer normativen Grundlage der Partnerschaft verankert.

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04.02.2005
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Diese Rezension entstand im Rahmen des Fachforums 'Connections'. http://www.connections.clio-online.net/
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