I. Wallerstein: Das moderne Weltsystem III

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Title
Die große Expansion. Das moderne Weltsystem III.. Die Konsolidierung der Weltwirtschaft im langen 18. Jahrhundert


Author(s)
Wallerstein, Immanuel
Series
Edition Weltgeschichte
Published
Extent
451 S.
Price
€ 29,90
Rezensiert für 'Connections' und H-Soz-Kult von:
Holger Nehring, University College

Immanuel Wallersteins monumentale Trilogie zur Entstehung und Entwicklung des „Weltsystems“ gehört zu den Klassikern der historischen Soziologie. Nun liegt der schon 1989 auf englisch erschienene dritte Band in deutscher Übersetzung vor.1 Während Wallerstein in den ersten beiden Bänden Ursprünge und Entwicklung des „Weltsystems“ seit dem frühen 16. Jahrhundert untersucht, geht es in diesem Band um die „große Expansion“ und „Konsolidierung“ dieses Systems zwischen 1730 und den 1840er Jahren. Die Bedeutung der „kapitalischen Weltwirtschaft“ bildet den zentralen Bezugspunkt der Epoche. Wallerstein geht diesem Thema in vier Kapiteln ungefähr gleicher Länge nach, vor allem mit Bezug auf die beiden „Leitsterne“ (S. 7) der Epoche, der Industriellen Revolution sowie des Aufstiegs von Bürgertum und bürgerlicher Gesellschaft im Gefolge der Französischen Revolution.

Im ersten Kapitel widmet sich Wallerstein in dichter historiographischer Beschreibung der industriellen und der Französischer Revolution. Im Unterschied zur herrschenden Meinung interpretriert er beide als spezifische Ergebnisse der Rückwirkungen des Weltsystems. Beide Revolutionen hatten, so Wallerstein, mit dem Kampf zwischen Frankreich und Großbritannien um Vorherrschaft im kapitalistischen Weltsystem zu tun. Im zweiten Kapitel zeigt Wallerstein im einzelnen, wie Großbritannien Frankreich im Kampf um die Vorherrschaft im kapitalistischen Weltsystem schlagen konnte und führt damit führt Gedanken aus dem zweiten Band der Trilgie fort (Kap. 3 und Kap. 6).

Im dritten Kapitel erweitert Wallerstein die bisher auf Europa beschränkte Perspektive. Es geht ihm hier um die Auswirkungen der Expansion der Weltwirtschaft auf die Gebiete des indischen Subkontinents, des ottomanischen Reichs, Russlands und Westafrikas. Wallerstein ordnet die Entwicklungen dabei in ein Raum-Zeit-Kontinuum ein, das drei Phasen aufweist. Auf eine erste Phase, in der die Gebiete lediglich Rohstoffe exportierten und sich der Einfuhr von Fertigwaren verweigerten, folgte eine zweite Phase der „Inkorporation“ ins Weltsystem: die Zonen wurden nun integrale Bestandteile der Produktionsprozesse der Güterströme in der Weltwirtschaft. In einer dritten Phase bildete sich eine Peripherie aus: die „Mikrostrukturen“ dieser Gebiete wurden noch stärker auf das Weltsystem ausgerichtet. Diesen Phasen entsprachen spezifische politische Beziehungen zum Zentrum des Weltsystems. Das letzte Kapitel verfolgt alle diese Entwicklungen spiegelbildich aus der Perspektive der „Dekolonisierung“ des amerikanischen Kontinents.

Wallerstein mutet es seinen Lesern zu, diese Synthese der aufgelisteten Fakten, Debatten und Interpretationen selbst zu leisten. Die Leser können allenfalls aus dem von Eric Kerridge stammenden Leitspruch des ersten Kapitels Trost schöpfen: „Die Erzählung wächst mit dem Erzählen“ (S. 7). Auf den folgenden 364 Seiten findet man einen Text, der von Zitaten nur so wimmelt. Weitere Diskussionen finden sich in den circa 1300 Fussnoten, welche mindestens ein Drittel des Gesamttexts ausmachen. Ein Literaturverzeichnis von 73 Seiten schliesst den Band ab.

Wallersteins Prosa wirkt selbst im englischen Original gequält und ist getränkt mit logischen Platzhaltern und sozialwissenschaftlichen Worthülsen. Der Band besitzt keine Einleitung, die den Leser in die komplexe Materie einführen könnte. Auch die Interpretationen der voran gegangenen Bände werden nicht systematisch rekapituliert. Man erfährt die zentralen Argumente der Wallersteinschen Weltsystemtheorie fast en passant (z.B. S. 52, S. 78). Wer sich über den Inhalt der Weltsystemanalyse informieren will, sei deshalb auf die unlängst erschienene Selbst-Interpretation Wallersteins verwiesen, in der er die Grundbegriffe systematisch erörtert.2

Trotz dieser Probleme avancierte Wallersteins Werk schon bald nach Erscheinen zum Kultbuch der amerikanischen historischen Soziologie, fand allerdings unter Historikern eine weit weniger freundliche Aufnahme.3 Besonders Wallersteins These von der Bedeutung des Handels für die „Industrielle Revolution“ in Großbritannien wurde eingehend diskutiert und auch wohl eindeutig widerlegt.4 Doch eine ins einzelne gehende Kritik wird Wallersteins umfassendem Ansatz eigentlich gar nicht gerecht. Das Werk steht und fällt mit dem allgemeinen Interpretationsansatz. Letztlich geht es Wallerstein darum, den Untersuchungsgegenstand „Nationalstaat“ als künstlich gesetzt zu enttarnen und das „Weltsystem“ an seine Stelle zu setzen. Dabei bezieht sich „Welt“ nicht auf die geographische Ausdehnung dieses Systems, sondern auf seinen Inhalt (dies deutet Wallerstein im englischen Original durch den Bindestrich in „world-system“ an). Das System bildet eine Welt – eine durch Handlungen, Institutionen und Regeln integrierte Zone, welche politische und kulturelle Grenzen überschreitet. Die Welt-Wirtschaft ist dabei eine mögliche Erscheinungsform des Weltsystems. Sie ist gekennzeichnet von der Arbeitsteilung zwischen Produktionsprozessen im Zentrum einerseits und in der Peripherie andererseits; der Markt dient als das zentrale Integrationsinstrument.

Wallersteins Anliegen scheint aktueller denn je. Es ist wohl nur der gegenwärtigen Renaissance transnationaler und globaler Geschichte zu verdanken, dass Wallersteins Werk nach so langer Zeit nun in deutscher Übersetzung zu haben ist. Was hat Wallerstein aber zu bieten? So anregend sein Ansatz in seiner Gesamtheit einmal gewesen sein mag, so problematisch sind seine theoretischen und methodischen Grundannahmen. Wallersteins Trilogie lässt sich eindeutig in den sozialwissenschaftlichen und historischen Debatten der sechziger und frühen siebziger Jahre verorten. Der Autor kombiniert Modelle und Interpretationen aus der Dependenztheorie mit ihren Begriffen von Zentrum und Peripherie, Fernand Braudels Ansatz der longue durée, marxistische Einsprengsel, systemtheoretische Erwägungen und eine sich als kritisch verstehende Sozialwissenschaft.

Die sich aus diesem Ansatz ergebenden fundamentalen Probleme zeigen sich besonders, wenn man Wallersteins Methodik genauer analysiert. Obwohl er im Text vereinzelt auf politische und sogar kulturelle Faktoren hinweist, wirkt doch das Gesamtgebäude ungemein deterministisch. Denn das Theoriegebäude steht schon, bevor alle empirischen Komponenten versammelt sind und wird nicht mehr hinterfragt. Wallerstein kausales nomothetisches Modell wirkt wie ein Behälter, der im Verlauf der Erzählung mit Fakten gefüllt wird. Das Bestehen eines Systems ist für Wallerstein die unabhängige Variable, sie ist schon vor der Untersuchung gegeben. Er argumentiert deduktiv. Entsprechend weist er seine Grundannahme einer Weltwirtschaft durch logische Schlüsse, nicht durch empirische Forschungen nach. Wallersteins Vergleiche haben deshalb vor allem illustrativen Charakter. Die komparatistische Methode dient ihm vor allem dazu, die relative Position und Funktion der einzelnen Einheiten im Weltsystem festzustellen.5 Konkret ruhen damit die Thesen des ganzen Buches auf der Grundannahme, dass die Zentralität der Französischen Revolution letrztlich auf die Zentralität des britisch-französishen Ringens um Hegemonie in der Weltwirtschaft zurückzuführen sei. Obwohl dieses Vorgehen einen interessanten Beitrag zur Debatte über den historischen Vergleich bildet, blockiert es aber doch gerade die aus historischer Warte spannenden Fragen: Unter welchen politischen, gesellschaftlichen und kulturellen Bedingungen dachten welche historischen Akteure überhaupt in globalen grenzüberschreitenden Kategorien? War dieses Denken weit verankert? Ändert eine solche Perspektive die bestehenden nationalen Geschichtsdeutungen entscheidend?

Die mit Wallersteins Methode verbundenen Probleme verweisen nicht zuletzt auf ein zentrales Desideratum in der gegenwärtigen Debatte um „transnationale Geschichte“, „global history“ und „world history“. Wir sollten uns darüber bewusst werden, dass diese Begriffe selbst Ergebnisse gesellschaftlicher und wissenschaftlicher Selbstbeobachtungen sind. Ihre Grundpositionen sind mit ganz bestimmten Vorstellungen über Politik, Gesellschaft und Kultur verbunden. Wir benötigen deshalb Untersuchungen darüber, wann und wie das Denken in globalen Zusammenhängen in die Geistes- und Sozialwissenschaften Eingang gefunden hat.6 Letztlich beruht historisches Arbeiten eben nicht auf der Verwendung modischer Begriffe und der logischen Deduktion theoretisch reizvoller Modelle, sondern auf der präzisen quellenkritischen Analyse historischer Prozesse.

1 Das moderne Weltsystem. Die Anfänge kapitalistischer Landwirtschaft, Wien 2004; Das moderne Weltsystem II. Der Merkantilismus, Wien 1998.
2 Immanuel Wallerstein, World-Systems Analysis. An Introduction, Durham/NC und London 2004.
3 Vgl. z.B. recht positiv Daniel Garst, Wallerstein and his Critics, in: Theory and Society 14 (1985), S. 469-495; und kritisch: Theda Skocpol, Wallerstein’s World Capitalist System: A Theoretical and Historical Critique, in: American Journal of Sociology 82 (1977), S. 1083-1085.
4 Vgl. schon Richard P. Thomas und Donald McCloskey, Overseas Trade and Empire 1700-1860, in: Roderick Floud und Donald McCloskey (Hg.), The Economic History of Britain since 1700. Band 1: 1700-1860, Cambridge 1981, S. 108.
5 Vgl. Victoria E. Bonnell, The Uses of Theory, Concepts and Comparison in Historical Sociology, in: Comparative Studies in Society and History 22 (1980), S. 156-173.
6 Vgl. die Andeutungen bei Kiran Klaus Patel, Überlegungen zu einer transnationalen Geschichte, in: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft 52 (2004), S. 626-645.

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11.03.2005
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Diese Rezension entstand im Rahmen des Fachforums 'Connections'. http://www.connections.clio-online.net/
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