Transnationale Kommunikationsräume im 19. Jahrhundert: Maßstäbe, Konstellationen, Institutionen des Wissenstransfers im Schul- und Hochschulbildungssektor

Transnationale Kommunikationsräume im 19. Jahrhundert: Maßstäbe, Konstellationen, Institutionen des Wissenstransfers im Schul- und Hochschulbildungssektor

Organizer(s)
Sylvia Kesper-Biermann, Universität Bayreuth, Universität Gießen; Johannes Wischmeyer, Institut für Europäische Geschichte Mainz
Location
Mainz
Country
Germany
From - Until
17.06.2009 -
Conf. Website
By
Susann Gebauer, Leipzig

Phänomene des transnationalen Austauschs, des Wissenstransfers sowie der Entstehung von Bildungsräumen finden zunehmend in Form theoretischer Begriffsbestimmungen sowie regionaler und transnationaler Fallstudien das Interesse der Historischen Bildungsforschung. Die Entstehung und Weiterentwicklung moderner Bildungssysteme im 19. Jahrhundert ist in besonderem Maße durch vielfältige Austausch- und Transferprozesse geprägt, da der Bildungsbereich des 19. Jahrhunderts von einer Dialektik zwischen nationaler und transnationaler Ebene gekennzeichnet ist. Die von Sylvia Kesper-Biermann (Bayreuth/Gießen) und Johannes Wischmeyer (Mainz) organisierte interdisziplinäre Tagung zum Thema „Transnationale Kommunikationsräume im 19. Jahrhundert“, durchgeführt am Forschungsbereich ‚Raumbezogene Forschungen zur Geschichte Europas seit 1500’ des Instituts für Europäische Geschichte in Mainz, verfolgte das Ziel, Austausch- und Transferprozesse im Bildungsbereich zu exemplifizieren, zu diskutieren und theoretisch zu beschreiben.

SYLVIA KESPER-BIERMANN näherte sich dem Thema über den Begriff ‚Bildungsraum’ an. Als ein weit gefasstes Spektrum an Räumen verschiedener Qualitäten definierte und charakterisierte sie Bildungsräume in ihrem Eröffnungsreferat. Sowohl Beziehungen zwischen Räumen als auch die Wahrnehmung von Räumen bezog sie in ihre Begriffsbestimmung mit ein. In Anlehnung an Regional- und Territorialstudien betonte Kesper-Biermann, dass nicht nur im frühen 19. Jahrhundert, sondern auch im deutschen Kaiserreich weit eher von einem hessischen, sächsischen, bayerischen, preußischen etc. Bildungsraum gesprochen werden müsse als von einem gesamtdeutschen Bildungsraum. Mit der Fokussierung auf Akteure, Formen und Funktionen von Transferprozessen legte Kesper-Biermann dar, dass ‚Bildungsexperten’ eine wichtige Rolle bei der Konstruktion von Bildungsräumen zukomme. Bildungsexperten zeichneten sich unter anderem durch ihre besonderen Fähigkeiten und ihr Wissen aus. Als notwendige Voraussetzung ihres Expertenstatus müssten sie durch Dritte legitimiert sein, wobei Institutionen der Bildungsverwaltung besondere Bedeutung zukomme.

Die nächsten beiden Vorträge zielten auf eine bildungspolitisch-administrative Ebene ab. HANS-MARTIN MODEROW (Jena) stellte in seinem Referat die zwei Ministerialbeamten Victor Cousin (1792-1867) und Gottlob Leberecht Schulze (1779-1856) vor und fokussierte damit auf Transferprozesse zwischen Frankreich und Sachsen im Bereich des Volksschulwesens in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Cousin wurde als französischer Bildungsexperte nach Preußen geschickt, um Lösungen für das Verhältnis zwischen Staat und Kirche im französischen Primarbildungsbereich zu erarbeiten. Moderow zeigte, dass Cousin mit seinem Bericht über das preußische Bildungswesen wesentlich zur Konstruktion des Mythos Preußen als „Land der Kasernen und Schulen“ beitrug. Obwohl das sächsische Schulwesen im Ausland einen guten Ruf genoss, initiierte Schulze als sächsischer Bildungsexperte zahlreiche Reformen im sächsischen Schulwesen. Das Reformbemühen Schulzes zeichnete Moderow als einen Transfer aus dem Ausland nach.

KLAUS DITTRICH (Portsmouth, Mainz) nahm in seinem Referat die Weltausstellungen der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts als Anlass zur Entstehung transnationaler Kommunikationsräume in den Blick. Sein Interesse galt insbesondere den Transfer- und Aneignungsprozessen im Bereich der Schulhygiene, der technischen Bildung und der Knabenhandarbeit. Als wichtige Akteure stellte Dittrich Hermann Cohn (Schulhygiene), Maximilian Weigert (technische Bildung) und Alwin Papst (Knabenhandarbeit) vor. Die Analyse der Berichterstattungen ergab, dass nicht nur eine Beschreibung der Weltausstellungen erfolgte, sondern auch eine kritische Reflexion der Ausstellungen vor dem Hintergrund der eigenen Erwartungen und der Herausforderungen im eigenen Land, die man mit Hilfe des Besuchs der Weltausstellungen zu lösen erhoffte. Eine Erweiterung der Quellenbasis um private Zeugnisse und um unveröffentlichte Berichte kann, so Dittrich, dazu beitragen, einen Blick hinter den Inszenierungscharakter von Weltausstellungen zu werfen.

ESTHER MÖLLER (Bremen) zeigte in ihrem Referat Austausch- und Transferbeziehungen zwischen Frankreich und dem Libanon im Zusammenhang der Errichtung französischer Schulen im Libanon in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts auf. Obwohl Frankreich 1905 die Trennung zwischen Kirche und Staat auch im Schulwesen vollzogen hatte, unterstützte es die Errichtung katholischer Schulen im Ausland und vor allem im Libanon. Die Schulen spielten lange Zeit eine wichtige Rolle bei der Ausbildung einheimischer libanesischer Eliten. Durch die Einbeziehung der Eltern, die auf die Geschicke der Schulen aktiv Einfluss ausübten, in die Untersuchung gelinge es, die französischen Schulen als Knotenpunkte transkultureller Kommunikation im quasi-kolonialen Kontext zu profilieren.

In den beiden folgenden Vorträgen standen sowohl der Hochschulbildungsbereich als auch Fragen der Wissenschaftsgeschichte im Mittelpunkt. Mit VERA DUBINAs (Moskau, Mainz) Referat über den deutschen Einfluss auf die Rechtsausbildung im Russischen Reich in der Mitte des 19. Jahrhunderts wurde auch die Osteuropäische Geschichte in die Analyse transnationaler Kommunikationsräume einbezogen. Die deutsche Rechtswissenschaft galt im Russischen Reich für die Ausbildung ‚zivilisierter’ Juristen als vorbildhaft, und so wurden angehende Juristen und Staatsdiener durch deutsche Lehrer und Professoren an der Kaiserlichen Lehranstalt für Jurawesen, 1835 in Sankt Petersburg gegründet, ausgebildet. Der große Anteil Römischen Rechts und deutscher Rechtslehre an den Curricula für zukünftige Beamte – die doch eigentlich für eine praktische Tätigkeit vorbereitet werden sollten – erklärt sich daraus, dass moralische Rechtserziehung als wesentlicher Zweck der Rechtsausbildung gedacht war.

JOHANNES WISCHMEYER zeigte am Beispiel der protestantischen Universitätstheologie den Transfer von Methoden und Standards universitärer Bildung zwischen Preußen und den USA im 19. Jahrhundert auf. Zugleich verdeutlichte er auch Momente des Austauschs und der Homogenisierung der protestantischen Kulturen Preußens und der USA. Dieser religiös-kulturelle Transfer vollzog sich unter anderem im kirchlichen Kontext der internationalen Erweckungsbewegung sowie im Bildungsbereich durch zahlreiche Bildungsreisen und durch Studienaufenthalte im Ausland. Den Briefwechsel zwischen dem preußischen Theologen Isaak August Dorner (1809-1884) und dem amerikanischen Theologen Charles Augustus Briggs (1841-1913) untersuchte Wischmeyer als eine Form der transnationalen Kommunikation und stellte fest, dass bereits im Vorfeld wichtige Transferprozesse stattgefunden hatten, damit diese entstehen und wiederum weitere Transferprozesse initiieren konnten. Die Analyse der Wissenschaftsbeziehungen sowie des Transfers von Fachwissen, von methodischem und organisatorischem Wissen zeigte, dass die Modernisierung der amerikanischen Universitätstheologie unter Anleihen beim deutschen Modell trotz wahrnehmbarer Nationalisierungstendenzen im 19. Jahrhundert weiterhin durch ein kosmopolitisches Bildungsverständnis geprägt war.

Mit dieser Tagung konnte die Produktivität der Grenzüberschreitung zwischen Geschichtswissenschaft und Erziehungswissenschaft wiederholt unter Beweis gestellt werden. Im Spannungsfeld von transnationaler Geschichtsschreibung, Transferforschungen und Fragen der Produktion und Konstruktion von Räumen kann die Historische Bildungsforschung wichtige Aufschlüsse liefern, lässt man sich auf das „Abenteuer Bildungsgeschichte“ jenseits von Vorstellungen einer „Nation-Building-Agentur“ ein. Aufgrund der vielfältigen Verschränkungen regionaler, nationaler, transnationaler und internationaler Ebenen im Bildungsbereich, so das Fazit der Tagung, eignet sich dieses Feld auch für differenzierte Bestimmungen und Abgrenzungen von Begriffen. Allerdings erfolgt ohne die Erweiterung von Transfermodellen um Methoden und Erkenntnisse, die im Zusammenhang des sogenannten Spatial Turns zu Konstruktionsprozessen und zur Beschreibung von Räumen gewonnen wurden, eine Engführung von transnationalen Kommunikationsräumen und Prozessen des Kulturtransfers. Es gilt die „Angst vorm Spatial Turn“ zu überwinden und einen konstruktiven Dialog zwischen transnationaler Geschichtsschreibung, Transferforschungen, dem Spatial Turn und der Historischen Bildungsforschung zu eröffnen. Es ist geplant, die Ergebnisse der Tagung in der Reihe VIEG (Veröffentlichungen des Instituts für Europäische Geschichte – Beihefte online) zu veröffentlichen.

Konferenzübersicht:

Sylvia Kesper-Biermann (Bayreuth, Gießen)
Bildungsräume und Bildungsexperten im 19. Jahrhundert

Hans-Martin Moderow (Jena)
Beamte der Schulverwaltung als Akteure des Kulturtransfers um 1830

Klaus Dittrich (Portsmouth, Mainz)
Transfer von Bildungspolitik auf Weltausstellungen des 19. Jahrhunderts: Beispiele aus den deutschen Ländern

Esther Möller (Bremen)
Orte der Zivilisation? Französische Schulen im Libanon 1909-1943

Vera Dubina (Moskau, Mainz)
„Jeder Jurist muss den Kodex Justinian beherrschen, sonst bleibt er nur ein ausgebildeter Barbar“: Einfluss deutscher Rechtsausbildung und Etablierung des Rechtsstudiums im Russischen Reich in der Mitte des 19. Jahrhunderts

Johannes Wischmeyer (Mainz)
Transfer von Methoden und Standards universitärer Bildung zwischen Preußen und den USA im 19. Jahrhundert am Beispiel der protestantischen Universitätstheologie


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Published on
03.08.2009
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Regional Classification
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German
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