Im kollektiven und kulturellen Gedächtnis vieler Zeitgenossen*innen ist der Kalte Krieg symbolisch durch den Fall der Berliner Mauer am 9. November 1989 zu einem abrupten Ende gekommen. Er wurde abgelöst durch eine Phase des Überganges, in dem in zahlreichen Weltregionen neue politische Ordnungen ausgehandelt worden sind, für die sich – allzumal in westlichen Erzählungen – zunächst einmal Metaphern wie das „Ende der Geschichte“ (Francis Fukuyama) bzw. die „Dritte Welle der Demokratisierung“ (Samuel P. Huntington) durchsetzen sollten. Angesichts den nachfolgenden ungleichzeitigen, fragmentierten und widersprüchlichen Dynamiken in aller Welt – von der Vertiefung des europäischen Projekts und den „neuen Kriegen“ in den 1990er Jahren, 9/11 und dem Aufstieg der BRICS in den 2000er Jahren bis hin zu zahlreichen Wirtschaftskrisen und den aktuellen Angriffen auf das Prinzip des Multilateralismus – ist eine Chiffre „1989“ übriggeblieben. Mit wachsendem Abstand zum zeitlichen Geschehen „1989“ ist diese Chiffre immer stärker zu einem empty signifier geworden: einem Begriff, der von empirischen Inhalten (welchen?) abgekoppelt erscheint und keiner einheitlichen Interpretation unterworfen ist – wobei er dies vermutlich auch niemals gewesen ist.
Handelt es sich bei „1989“ also um einen „globalen Moment“, der – wie Matthias Middell in der Einleitung zu dieser Debattenreihe betont – „das Gedächtnis einer Generation über fast alle Kontinente hinweg formatier[te], wie es für 1918 und 1945 der Fall ist“, und damit aus einem kalendarisch begrenzten Ereignis eine langfristig wirksame politische und mentale Zäsur begründet, die möglicherweise sogar mit gemeinsam Idealen und Werten einhergeht? Oder stellt „1989“ vielmehr einen fundamentalen strukturellen Wandel dar – eine „Bruchzone der Globalisierung“, also einen über den „Moment“ hinausreichenden unbestimmten Zeitraum, in dem politischen, soziale und wirtschaftliche Interessen neu verhandelt worden und in dessen Ergebnis neue Raumordnungen entstanen sind? Die Beantwortung dieser sperrigen Frage bleibt schwierig, weil zwar einerseits der Kalte Krieg als historische Epoche mittlerweile sauber zwischen 1947 und 1991 abgezirkelt und zum Gegenstand eines eigenen Feldes der Geschichtsschreibung, den Cold War Studies, geworden ist. Andererseits jedoch wird auf die Epoche nach dem Ende des Kalten Krieges eher mit einem „post-“ verwiesen statt mit deutlich benennenden Charakterisierungen.
Was war „1989“ in Afrika? Und wie wird es in heutigen Debatten erinnert? (Und, ja, Africa is not a country). Zur Erinnerung: „1989 in Afrika“ wurde bereits im September 1986 im südlichen Afrika in Konturen erkennbar, als ein langsamer und fragiler Prozess der Entflechtung der Kriegsparteien in Namibia und Angola seinen Anfang nahm. Namibia war zu diesem Zeitpunkt noch vom südafrikanischen Apartheidregime besetzt, und in Angola wurde zwischen MPLA-Regierung und UNITA-„Rebellen“ eine der blutigsten Stellvertreterkriege zwischen den USA und der Sowjetunion ausgefochten. Dieser Verhandlungsprozess kulminierte nach einem grundsätzlichen Interessenausgleich zwischen den USA und der Sowjetunion im Dezember 1988 in einem Dreiseitigen Abkommen zwischen Südafrika, Angola und Kuba. Dieses Abkommen regelte den Rückzug der bis zu 50.000 Soldaten Kubas, die auf Seiten der Regierung Angolas in den Konflikt eingegriffen und u.a. durch die Rückeroberung der Lufthoheit für einen hurting stalemate (I. William Zartman) gesorgt hatten, der wiederum Südafrika und die USA stärker für eine Verhandlungsoption erwärmte.
In der Folge wurde die Raumordnung des Kalten Krieges im südlichen Afrika massiv verändert: Nach dem Rückzug Kubas wurden die Weichen für die Unabhängigkeit Namibias gestellt und parallel ein Einstieg in Verhandlungen über das Ende der Apartheid in Südafrika eingeleitet. Die Einigung zwischen den Supermächten leitete nicht nur ein Ende des Bürgerkrieges in Angola ein, sondern führte 1992 auch zu Friedensverhandlungen in Mozambique – dem zweiten großen Stellvertreterkrieg im südlichen Afrika (die dritte dieser Stellvertreterauseinandersetzungen spielte sich ebenfalls seit Mitte der 1970er Jahre und in wechselnden Konstellationen am Horn von Afrika ab).
In den Ländern der Region hatte „1989“ erhebliche Auswirkungen auch auf die Entwicklung „sozialistischer“ Regime: Noch vor dem Fall der Mauer verzichtete die regierende FRELIMO in Mozambique am 31. Juli 1989 auf ihr Bekenntnis zum Marxismus-Leninismus, im benachbarten Zimbabwe gab die regierende ZANU PF im Januar (nach der Hinrichtung des rumänischen Diktators Nicolae Ceaușescu am 25. Dezember 1989) den Versuch auf, per Gesetz einen Einparteienstaat einzuführen, und der im Februar 1990 wieder legalisierte ANC in Südafrika rückte zugunsten einer sozialdemokratischen Position sukzessive von seiner Verstaatlichungsprogrammatik ab.
Vergleichbare Entwicklungen lassen sich in den Jahren 1989 bis 1994 vielerorts auf dem afrikanischen Kontinent beobachten. Ein Beispiel aus Westafrika: Benin, einer der wenigen „marxistisch-leninistischen“ Staaten außerhalb des sowjetischen Orbits, befand sich in einer schwierigen Wirtschaftskrise. Ob ihres ausstehenden Soldes meuternde Soldaten ließen Präsident Mathieu Kérékou die Reißleine ziehen: Wie schon in Mozambique wurde das Bekenntnis der regierenden Partei zum Marxismus-Leninismus seiner revolutionären Volkspartei über Bord geworfen. Stattdessen berief Kérékou – 1989 war auch das Jahr, in dem sich die Französische Revolution zum 200. Mal jährte – eine Conférence Nationale des Forces de Vives du Pays ein, die eine neue demokratische Verfassung erarbeitete. Dieses und andere Muster lassen sich in den Folgejahren nahezu über auf dem Kontinent verfolgen: einige Autokraten gaben dem Druck der „Zivilgesellschaft“ nach (also Kirchen, Gewerkschaften, Studenten, Anwälte und andere Vertreter*innen urbaner Schichten), andere versuchten, durch schrittweise, häufig zu späte Zugeständnisse die geforderten Reformen zu vermeiden; und zu den Verfassungskonventen im Frankophonen Afrika gesellten sich Verfassungskommission im anglophonen Afrika. In der Forschung ist diese Dialektik als eine „strukturierte Kontingenz“ imaginiert worden (Bratton und van der Walle), in der langfristig wirksame und eher zeitgebundene Umstände, ökonomische und politische Dimensionen sowie nationale und internationale Faktoren zusammengekommen sind (die politische Bindung der Vergabe von „Entwicklungszusammenarbeit“ ist ein Ergebnis von „1989“ und, ungleich der ökomischen Konditionalität – Stichwort: IMF-Strukturanpassungsprogramme –, nicht dessen Voraussetzung).
Der Blick auf „1989 in Afrika“ hat den Charme, dem europäischen Erinnern einen Spiegel vorhalten und Narrative eines „1989 in Osteuropa“, oder gar des „deutschen 1989“, und den ihnen zugrunde liegenden konzeptionellen Eurozentrismus dezentrieren zu können. Stärker als die Meistererzählung eines osteuropäischen „1989“, erlaubt der Blick auf „1989 in Afrika“, die Frage zu stellen, was diese in allen Weltregionen zu beobachtenden Dynamiken miteinander verbindet – und voneinander trennt. Wieviel „1989“ in Westafrika (als Narrativ, als Vision, als empirische Substanz) ist im südlichen Afrika oder in Osteuropa koproduziert worden – und umgekehrt?
Afrikas „1989“ hat vor allem zwei fundamentale Entwicklungen ausgelöst: erstens, den mühsamen Aufbruch von Gesellschaften hin zur Begründung demokratischer Systeme und – diesem Trend entgegenstehend –, zweitens, die Erschütterung von Gesellschaften, hin zu teilweise dauerhaften (Stichwort: Somalia) Bürgerkriegen und der Entstehung transregionaler Kriegsökonomien. Dieser lange Schatten von „1989“ schlägt sich heute vorrangig in zwei kollektiven, pan-afrikanischen Projekten nieder: Dem Versuch der Afrikanischen Union (AU), auf der Basis gemeinsamer Werte eine Friedens- und Sicherheitsarchitektur für den Kontinent zu errichten und, zweitens, eine damit verwobene Governance-Architektur zu etablieren, die sich den Werten von „1989“ verpflichtet fühlt. Dahinter steht die zunehmende Akzeptanz eines Sicherheitsbegriffs, in dem der Sicherheit von „Menschen“ Vorrang vor der Sicherheit von „Regimen“ eingeräumt wird. Die Declaration on the Political and Socioeconomic Situation in Africa and Fundamental Changes Taking Place in the World, die im Juli 1990 auf dem 26. Gipfeltreffen der Organisation der Afrikanischen Einheit (OAU, dem Vorläufer der AU) verabschiedet worden ist, begründet in der Tat eine Zäsur im politischen Diskurs der kontinentalen Organisation. Verglichen mit dem Entwurf dieses Dokuments durch das OAU-Sekretariat unter dem tansanischen Diplomaten Salim A. Salim sind die Ausführungen zu Demokratie, Menschenrechten und Rechtsstaatlichkeit im letztlich verabschiedeten Text zwar deutlich zurückgenommen worden, um die Akzeptanz dieser Sekretariats-initiative unter den Staats- und Regierungschefs nicht zu gefährden. Dennoch stellt die Deklaration heute den Beginn einer anhaltenden und fortgeschriebenen Auseinandersetzung über Regierungsstandards auf dem Kontinent dar.
Eine Ironie der Geschichte ist es allerdings, dass die OAU die Veränderung der Welt 1989/1990 als eine extern vorgegebene wahrgenommen hat, die von außerhalb des Kontinents angestoßen worden ist. Jahrhunderte von Kolonialismus und abhängiger Entwicklung im Kalten Krieg hatten den Blick darauf verstellt, welche Dynamiken für das globale „1989“ in und von dem afrikanischen Kontinent selbst ausgegangen sind.
Unbeschadet dieser Verengung, ist „1989“ von der Afrikanischen Union als Referenzpunkt für die weitere politische Entwicklung auf dem Kontinent tatkräftig genutzt worden. Die Volkserhebungen und Revolutionen in Nordafrika 2011 (vor allem in Ägypten, Libyen und Tunesien) sind von der Afrikanischen Union als ein Prozess des catching-up des Maghreb mit den Erfahrungen Afrikas südlich der Sahara dargestellt und als Chance definiert worden, sich dem demokratischen Erbe von „1989“ anzuschließen. In ähnlicher historischer Analogie wurden die Entwicklungen im Sudan und Algerien 2019 gedeutet: Auch hier mussten langjährige Autokraten abdanken, um ungewissen Verhandlungsprozessen über das politische System und die Neuverteilung der Macht Platz zu machen (wobei in beiden Fällen das Militär die besseren Karten zu haben scheint).
Und wie wird „1989 in Afrika“ heute auf nationalstaatlicher Ebene erinnert? Diese Frage kann ich nicht flächendeckend beantworten. Aber wenn ich die Debatten in jenen zwei Ländern betrachte, die ich fast täglich verfolge (Äthiopien und Südafrika), dann fällt mir auf, dass „1989“ deutlicher seltener als Referenzpunkt aktueller Geschichten und Vergleiche gewählt wird, als dies etwa in der Bundesrepublik Deutschland, Polen oder Ungarn der Fall ist. In Südafrika ist der demokratische Neubeginn im April 1994 und der Mythos der rainbow nation der Referenzpunkt, und in Äthiopien ist dies die Übernahme der Macht durch die EPRDF im Mai 1991. Transnationale oder transregionale Bezugspunkte von dominanten gesellschaftlichen Identitätskonstruktionen sind, trotz einer zuweilen auch zu beobachtenden Wiederbelebung einer panafrikanischen Rhetorik, in den häufig lediglich national verhandelten Geschichtsentwürfen rar.
Es bleibt also ein Paradox: Während die empirische Einbettung des „1989 in Afrika“ im globalen Kontext im Sinne zumindest einer Koproduktion plausibel erscheint (wenngleich mit gelinde gesagt zurückhaltender akademischer Aufmerksamkeit), so ist die diskursive Verankerung von „1989 in Afrika“ außerhalb der Geistes- und Sozialwissenschaften allenfalls auf der Ebene der Afrikanischen Union ein Thema – in den meisten afrikanischen Gesellschaften sind diese Bezüge eher gering ausgeprägt. Sie orientieren sich stattdessen an Narrativen, die sich nicht der Chiffre „1989“ bedienen“, sondern lokale Erzählungen konstruieren, die je spezifische gesellschaftliche Folgen eines globalen „1989“ in das Zentrum stellen.