Die Revolutions- und Napoleonischen Kriege (1792-1815) prägten die europäische Geschichte so grundlegend und nachhaltig wie kein anderer bewaffneter Konflikt zwischen dem Dreißigjährigen Krieg und dem Ersten Weltkrieg. Sie erstreckten sich über einen Zeitraum von mehr als zwanzig Jahren und reichten weit über Europa hinaus. Von der Forschung werden sie als die ersten Weltkriege betrachtet, denn sie erfassten nicht nur fast alle europäischen Länder, sondern auch Teile Asiens, Afrikas sowie Amerikas. Sie waren damit Teil des Ringens zwischen Frankreich, Großbritannien, Spanien und den Niederlanden um den Einfluss in den Kolonien, eines Ringens, das von dem Konflikt zwischen dem französischen und britischen Empire um die maritime Vorherrschaft geprägt wurde. Diese Kriege waren zudem die ersten, die als ‚Nationalkriege' mit Massenheeren geführt wurden. Dies hatte weit reichende Folgen für das Militär und die Zivilgesellschaft. Erstens führten sie infolge ihrer Ausdehnung und der Größe der mobilisierten Heere selbst Männer aus den Unterschichten in Regionen Europas, die diesen vorher völlig unbekannt waren. Umgekehrt lernte die Zivilbevölkerung Soldaten und Offiziere aus den verschiedensten Teilen Europas mit ihren fremden Sprachen und Gebräuchen kennen. Beides prägte die Ausformung von Selbst-, Fremd- und Feindbildern nachhaltig. Zweitens scheinen diese Kriege, da sie zunehmend als ‚Nationalkriege' geführt wurden, für die mit intensiver Propaganda geworben wurde, den Prozess der politischen und kulturellen Nationsbildung gefördert zu haben. Drittens wären die meisten Kriegsmächte ohne die Unterstützung der Zivilbevölkerung nicht in der Lage gewesen Krieg zu führen. Mithilfe wurde bei der Einkleidung und Ausrüstung der vielen Soldaten, bei der medizinischen Versorgung der Verwundeten und Kranken und der Kriegsopferfürsorge benötigt. In der Folge veränderte sich das Verhältnis zwischen Militär und Zivilgesellschaft. Die Revolutions- und Napoleonischen Kriege prägten Erfahrungen und Erinnerungen vieler Menschen, Männer wie Frauen. Aufgrund ihrer wirtschaftlichen, politischen und gesellschaftlichen Nachwirkungen spielten diese Kriege im kollektiven Gedächtnis Europas und seiner Regionen und Nationen bis weit in das 20. Jahrhundert hinein eine wichtige Rolle.
Zwar haben sich in den letzten Jahrzehnten die Geschichts-, Sozial- und Kulturwissenschaften zunehmend mit Erfahrung, Erinnerung und Gedächtnis beschäftigt, doch der Schwerpunkt der Forschung liegt bisher eindeutig auf dem 20. Jahrhundert mit seinen beiden Weltkriegen. Für das 19. Jahrhundert, insbesondere für die Zeit der Revolutions- und Napoleonischen Kriege, liegen erst vergleichsweise wenige Untersuchungen vor. Das internationale Forschungsnetzwerk "Nations, Borders, Identities: The Revolutionary and Napoleonic Wars in European Experiences and Memories"1 , will diese Forschungslücke schließen. Sein Ziel ist eine erfahrungs- und erinnerungsgeschichtliche Analyse der Kriege zwischen 1792 und 1815 in europäisch vergleichender Perspektive. Geplant ist u.a. eine Reihe von Workshops und Tagungen. Als Auftakt fand am 1. November 2004 am Militärgeschichtlichen Forschungsamt in Potsdam der erste Workshop zum Thema "The Revolutionary and Napoleonic Wars: New Approaches and Future Questions of Research" statt, der von Karen Hagemann (University of Glamorgan) und Beatrice Heuser (Militärhistorisches Forschungsamt Potsdam) organisiert und vom MGFA finanziert wurde. An dem internationalen Workshop nahmen 40 Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen aus fünf Ländern teil, um den aktuellen Forschungsstand und die Forschungsperspektiven im europäischen Vergleich zu diskutieren und damit verbundene theoretische und methodische Fragen zu erörtern.
Charles Esdaile (University of Liverpool) skizzierte einführend in einem Überblicksvortrag den europäischen Forschungsstand. Er betonte, dass die "Französischen Kriege" zwischen 1792 und 1815 seit dem 19. Jahrhundert von der Militärgeschichte zwar intensiv bearbeitetet worden seien, deren Fokus aber lange verengt gewesen wäre auf die Armeen und ihre bedeutendsten Heerführer sowie die großen Schlachten und ihre Helden. Mittlerweile gäbe es zwar eine ganze Reihe sehr guter Einführungen in die Geschichte der Revolutions- und Napoleonischen Kriege, die die Darstellung der militärischen Entwicklung mit der Analyse der außen- und innenpolitischen sowie wirtschaftlichen Verhältnisse verknüpfen. Dabei würden aber noch zu wenig die erheblichen Differenzen zwischen den verschiedenen vom Krieg betroffenen Regionen berücksichtigt. Was zudem nach wie vor fehle, sei eine Zusammenführung der Geschichte der Revolutions- und Napoleonischen Kriege. Bisher werden beide Kriegsperioden meist getrennt untersucht. Die wenigen Studien, die die Kriege von 1792 bis 1815 in einer längeren zeitlichen Perspektive betrachten, zeigten wie produktiv dies für deren Interpretation sei, denn nur so würden Kontinuitätslinien und Brüche in der Entwicklung deutlich.
Erst mit dem Aufkommen der New Military History und ihrer Öffnung zunächst für wirtschafts- und sozialgeschichtliche, später auch alltags- und kulturgeschichtliche Fragestellungen hätte sich der Fokus des Interesses der militärgeschichtlichen Forschung verändert. Über die Organisationsstrukturen, Funktionsmechanismen sowie die regionale und soziale Zusammensetzung der britischen und französischen Heere seien wir für die gesamte Kriegszeit heute recht gut informiert. Ähnliche Arbeiten für andere an den Kriegen beteiligte Armeen fehlten aber weitgehend. Vergleichsweise wenig untersucht worden seien zudem die vielfältigen Auswirkungen der Kriege auf die Zivilgesellschaft. Mit dem Fehlen von Studien zum Verhältnis von Militär und Zivilgesellschaft verbunden sei ein weiteres Forschungsdesiderat: der Mangel an erfahrungsgeschichtlichen Untersuchungen zu den Kriegen zwischen 1792 und 1815. Über die Alltagserfahrungen von Männern und Frauen, die im Militär wie in der Zivilgesellschaft an diesen Kriegen beteiligt bzw. von ihnen betroffen waren, wissen wir für viele europäische Regionen noch sehr wenig. Auch die erinnerungsgeschichtliche Forschung zur Zeit der Revolutions- und Napoleonischen Kriege stehe für viele Regionen Europas erst in den Anfängen. Sie habe sich bisher hauptsächlich auf zwei Bereiche konzentriert: den nationalen Totenkult und die nationale Gedenkkultur. Untersucht worden seien vor allem Denkmäler und Gedenkfeiern. In jüngster Zeit nehme zudem die Zahl der Studien zu, die sich mit dem kollektiven Gedenken an die regionalen und nationalen Helden und Heldinnen der Revolutions- und Napoleonischen Kriege befassen. Eine zentrale Stellung nehme hier die Beschäftigung mit den Erinnerungen an Napoleon ein. Die Ausführungen von Charles Esdaile verwiesen damit auf wichtige allgemeine Forschungsdesiderate einer europäischen Geschichte zur Zeit der Revolutions- und Napoleonischen Kriege.
In den folgenden Vorträgen vertieften ausgewiesene Experten und Expertinnen die Analyse des Forschungsstandes zu einzelnen europäischen Regionen, die entweder an den Kriegen besonders intensiv beteiligt oder von diesen in starkem Maß betroffen waren. Alan Forrest (University of York) verwies in seinem Bericht über den Forschungsstand zu Frankreich eingangs auf die Fülle der Literatur zu dieser für die französische Geschichte so wichtigen Periode. Auf den ersten Blick scheine alles erforscht. Dies gelte, anders als für andere Länder, selbst für die Kriegserfahrungen von französischen Soldaten und Offizieren. Auch seien in den letzten Jahren eine ganze Reihe wegweisender sozialhistorischer Regionalstudien zum Verhältnis von Militär und Zivilgesellschaft vorgelegt worden. Dennoch bestünden nach wie vor erhebliche Forschungsdesiderate. Viele sozial- und alltagsgeschichtliche Fragestellungen, die bei der Erforschung des Ersten Weltkriegs in den letzten Jahren im Mittelpunkt gestanden hätten, müssten für die Zeit der Kriege zwischen 1792 und 1815 erst noch bearbeitet werden. Man wisse, so Forrest, z.B. wenig über Phänomene wie Gewalt, Töten und Sterben, Trauer und Verlust, die zivilgesellschaftliche Unterstützung von Wehrdienstverweigerung und Desertionen oder die höchst unterschiedlichen wirtschaftlichen Folgen der Kriege in den verschiedenen Regionen. Eine Erfahrungsgeschichte der Kriege aus der Perspektive der Zivilbevölkerung gäbe es selbst für Frankreich noch nicht. Eine solche Erfahrungsgeschichte könne aber vermutlich viele Forschungshypothesen relativieren, die sich allein auf die Analyse der politischen, wirtschaftlichen und sozialen Strukturen stützen.
Zu ähnlichen Ergebnissen kam Jane Rendall (University of York), die den Forschungsstand zu Großbritannien und Irland referierte. Sowohl die militärgeschichtliche als auch die politik- und sozialgeschichtliche Dimension der Revolutions- und Napoleonischen Kriege sei zwar insbesondere für Großbritannien vergleichsweise gut aufgearbeitet worden. Es gäbe selbst Studien zum Zusammenwirken von Militär und Zivilgesellschaft in den Kriegsjahren, doch fehle es auch hier an erfahrungs- sowie erinnerungshistorischen Untersuchungen. Was zudem ausstehe sei ein systematischer Vergleich der kulturellen und politischen Auswirkungen der Kriege auf die vier britischen Nationen England, Irland, Schottland und Wales, der die Gemeinsamkeiten und Unterschiede in den Blick nimmt. Wichtig sei hier vor allem die Frage nach der Interdependenz zwischen den Kriegen, der Ausbildung konkurrierender "britischer" Nationskonzepte und die Prozesse nationaler bzw. regionaler Identitätsbildung sowie die Beförderung von Patriotismus. Bei der Beantwortung dieser Frage müsse die Dimension des Empires und die Bedeutung dieser Periode für die britische Empirebildung unbedingt einbezogen werden.
Ein weiteres gravierendes Forschungsdesiderat, auf das Jane Rendall am britischen Beispiel aufmerksam machte, ist das Fehlen geschlechtergeschichtlicher Arbeiten. Das veränderte Verhältnis von Militär- und Zivilgesellschaft infolge dieser Kriege hätte zugleich zu einem veränderten Geschlechterverhältnis geführt. Die zwei Kriegsjahrzehnte seien nicht nur eine Periode des weit reichenden Wandels im Militärwesen und nachhaltiger Umstrukturierungen des Staatswesens, der Wirtschaft und der Verwaltung gewesen. Es sei auch eine Zeit gewesen, in der sich überall in Europa die Vorstellungen von einer ‚adäquaten' Geschlechterordnung nachhaltig gewandelt hätten und das sogenannte ‚bürgerliche Modell' sich durchgesetzt habe, das auf der Vorstellung von als ‚naturbedingt' definierten universalen Differenzen zwischen den Geschlechtern beruhe. Diese Entwicklung sei, so eine Forschungshypothese, die bisher nur für Preußen von Karen Hagemann genauer untersucht wurde, und die es für andere Regionen vergleichend zu überprüfen gelte, im Kontext der Kriege u.a. durch die allgemeine Mobilmachung verstärkt worden, denn nun sei allen Männern die Pflicht zur Verteidigung von Familie, Heimat und Vaterland zugewiesen worden, an deren Erfüllung zugleich politische Rechte geknüpft wurden. Wichtige Forschungslücken seien in der Forschung zu Großbritannien etwa der in der britischen Bevölkerung weit verbreitete Heldenkult, das vielfältige weibliche Engagement in den Kriegen - angefangen vom Fahnensticken bis hin zur Kriegskrankenpflege und -fürsorge - wie auch die konkurrierenden Männlichkeitsentwürfe innerhalb des Militärs und in der Zivilgesellschaft. Obgleich es ausgeprägte geschlechtsspezifische Unterschiede in den Kriegserfahrungen gegeben habe, seien die kollektiven Erinnerungen an die Zeit der Kriege offenbar in starkem Maße männlich dominiert. Auch dieser Zusammenhang sei - und dies gelte nicht nur für Großbritannien - bisher erst in Ansätzen untersucht worden.
Den Forschungsstand zu Osteuropa analysierte anschließend Ruth Leiserowitz (Humboldt-Universität Berlin). Die Historiographie zu Russland und Polen in der Zeit der Revolutions- und Napoleonischen Kriege sei im Vergleich zu den westeuropäischen Ländern geringer entwickelt und zudem sehr viel unausgewogener. Darüber hinaus seien die Forschungsinteressen und damit -schwerpunkte in beiden Ländern sehr verschieden, denn die Zeit, die durch die russisch-polnischen Auseinandersetzungen geprägt war, werde in Russland und Polen sehr unterschiedlich wahrgenommen und beschrieben. In Russland werde vor allem der Krieg von 1812 als "Großer Vaterländischer Krieg", als nationaler Befreiungskampf erinnert, in dem die Polen auf französischer Seite kämpften. In Polen hingegen gelten - gegen Russland und Preußen gerichtet - die polnischen Teilungen von 1792, 1793 und 1795 und die Zeit des unter französischer Vorherrschaft errichteten Herzogtums Warschau zwischen 1807 und 1815 als besonders wichtige Perioden in der nationalen Erinnerungsgeschichte. In der Folge habe die historische Bearbeitung der Zeit in Russland und Polen unter sehr verschiedenen nationalgeschichtlichen Vorzeichen stattgefunden. Übereinstimung bestehe jedoch ungeachtet dessen darin, dass bisher primär die genuin militärische Dimension der Kriege aufgearbeitet wurde. Über die Kriegserfahrungen von Zivilisten, insbesondere von Frauen, wisse man für beide Regionen nahezu nichts, obwohl es reiche Quellenbestände gebe. Überhaupt stehe die osteuropäische Geschlechterforschung zu dieser für die Entwicklung der Geschlechterverhältnisse so zentralen Zeit an der Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert erst in den Anfängen. Aufgrund der engen Verflochtenheit der polnischen und russischen Geschichte in dieser Zeit wären, so ihr letzter Punkt, vor allem vergleichende und transfergeschichtliche Untersuchungen sehr wichtig, um dieses weitläufige, bisher vernachlässigte Forschungsfeld zu bearbeiten.
In seinem Bericht zum Forschungsstand zu Spanien und Portugal konnte Charles Esdaile vor allem auf seine eigenen Arbeiten rekurrieren, durch die die Aufarbeitung der Zeit der Revolutions- und Napoleonischen Kriege auf der Iberischen Halbinsel in den letzten Jahren wesentliche Impulse erhalten hat. Bisher lägen vor allem Forschungen zur militär-, politik- und sozialgeschichtlichen Dimension der Kriege in Portugal, vor allem aber Spanien vor. Auch der Kriegsverlauf, die Rekrutierung und Organisation der spanischen Armee, die soldatischen Kriegserfahrungen sowie die Guerilla-Kriegsführung und ihre Wirkung und Wahrnehmung in Spanien und Europa seien relativ gut untersucht. Die empfindlichsten Forschungsdesiderate seien auch hier die Erfahrungsgeschichte vor allem der Zivilgesellschaft und damit einhergehend die Geschlechtergeschichte der Zeit, sowie die Erinnerungsgeschichte.
In seinem Beitrag zum Forschungsstand zu Belgien und den Niederlanden, einer häufig vernachlässigten Region, sprach Horst Carl (Universität Giessen) von einer "kriegsgeprägten Umbruchszeit in Nordwesteuropa" und arbeitete die Sonderstellung beider Länder in Kontinentaleuropa heraus, die sowohl für die Zeit selbst und deren Erfahrung durch die Zeitgenossen gelte, als auch für die Erinnerung an diese Zeit. Es fehle in beiden Ländern die "kathartische Erfahrung eines ‚Befreiungskrieges'". Weder in Belgien noch in den Niederlanden haben sich deshalb die Kriegserfahrungen in die Erinnerungskultur eingeschrieben. Die "Franzosenzeit" habe keinen wirklichen Platz in den jeweiligen nationalgeschichtlichen Narrativen eingenommen, die parallel nebeneinander existierten und stark von der angloamerikanischen (Niederlande) bzw. der französischen Geschichtswissenschaft (frankophones Belgien) geprägt worden seien. Dennoch sieht Carl ein beträchtliches Forschungspotential, insbesondere für vergleichende mentalitäts- und kulturhistorische Fragestellungen. Dafür gebe es eine insgesamt günstige Quellenlage: in außergewöhnlicher Dichte seien in beiden Ländern statistisches Material zur Wehrpflicht, aber auch ungedruckte und gedruckte Ego-Dokumente überliefert. Darüber hinaus stellten die vielen Briefe einfacher Soldaten eine bisher noch kaum ausgewertete Quelle dar, die sich für mentalitätsgeschichtliche, kulturhistorische und erinnerungsgeschichtliche Fragestellungen eigne.
Anschließend skizzierte Michael Rowe (King's College, London) den Forschungsstand zum deutschsprachigen Raum. Er betonte einführend, dass die Forschungsbilanz für die einzelnen Regionen in diesem Raum sehr unterschiedlich ausfalle. Dies läge u.a. daran, dass die Forschung zu diesem Raum mit großen ökonomischen, sozialen und kulturellen Differenzen, der Spaltung zwischen katholischen und protestantischen Territorien, und höchst unterschiedlichen politischen Verhältnissen in einer großen Zahl von Territorialstaaten unterschiedlichster Größe konfrontiert sei, die zudem sehr verschiedene und sich zwischen 1792 und 1815 wandelnde politische und militärische Erfahrungen mit Frankreich gemacht hätten. Es gäbe zwar, konstatierte Rowe, eine wachsende Zahl von politik-, sozial-, und gesellschaftsgeschichtlichen Untersuchungen, die sich mit einzelnen Regionen beschäftigen, eine modernen Ansprüchen genügende wirtschafts- und sozialgeschichtliche ebenso wie alltags- und mentalitätsgeschichtliche Fragen integrierende Gesamtdarstellung zum deutschen Raum existiere bisher jedoch nicht. Ebenso fehle eine vergleichende erinnerungsgeschichtliche Analyse der Kriege, die die sehr unterschiedlichen und zum Teil widersprüchlichen Erinnerungstraditionen in den Blicke nehme. Rowe wünschte sich als Basis für diesen Vergleich mehr Einzelstudien auf regionaler und lokaler Ebene.
Im abschließenden "round table" kommentierten Etienne François (Technische Universität Berlin), Jörn Leonhard (Universität Jena), Matthias Middell (Universität Leipzig) und Arnd Bauerkämper (Berliner Kolleg für Vergleichende Geschichte Europas) die Ergebnisse des Workshops. Im Zentrum der Diskussion stand die Frage, welche Möglichkeiten die verschiedenen derzeit diskutierten Ansätze zu einer komparativen Geschichte - Vergleich, Transfer, histoire croisée - für das geplante Projekt einer europäischen Erfahrungs- und Erinnerungsgeschichte der Revolutions- und Napoleonischen Kriege bieten und welche Grenzen zu beachten sind. Einigkeit herrschte auf dem Podium darüber, dass ein solches Projekt nur dann erfolgreich sein könne, wenn die theoretischen und methodischen Ansätze sehr bewusst gewählt und in der Forschungspraxis permanent reflektiert werden würden. Um den vielfältigen inhaltlichen Herausforderungen gerecht zu werden, die das Vorhaben einer komparativen Geschichte der Erfahrungen und Erinnerungen der Zeit der Revolutions- und Napoleonischen Kriege biete, müsse der Zugriff zudem offen sein und verschiedene Ansätze wie die Politik- und Militärgeschichte, Sozial-, Kultur- und Geschlechtergeschichte miteinander verknüpfen.
Etienne François betonte in seinem Statement, dass die auf die Akteure fokussierte Betrachtung für einen multiperspektivischen Ansatz viel versprechende Anknüpfungspunkte biete: Gehe man von der Erlebniswelt der Menschen, ihren Erfahrungen und Erinnerungen aus, die direkt in die kriegerischen Auseinandersetzungen involviert waren und deren Lebensläufe und damit auch Erinnerungen durch die Kriegszeit geprägt wurden, so biete dies nicht nur einen Fokus, der die verschiedenen Ansätze bündeln könne, sondern geschehe dies auch auf einer überwiegend günstigen Quellengrundlage. Auf letzteres hätten die Forschungsberichte zu den verschiedenen europäischen Regionen im Workshop gleichermaßen verwiesen. Jörn Leonhard hob in seinem Kommentar die Bedeutung einer longue-durée-Perspektive in der Analyse von Erfahrungen und Erinnerungen hervor. Erst sie ermögliche es, den Wandel der Wahrnehmungen, Erfahrungen und Erinnerungen im je spezifischen regionalen und historischen Kontext auszumachen und Brüche, Widersprüche und Wendepunkte in den Erinnerungen herauszuarbeiten. Matthias Middell unterstrich in seinem Statement, wie vorher bereits Etienne François, dass in einer solchen longue-durée-Analyse die erfahrene wie die erinnerte Zeit offen interpretiert werden müssten, denn Kriege seien nicht nur Zeiten des Konflikts und der Gewalt, sondern zugleich Perioden der Begegnung und des Austauschs, des kulturellen Transfers zwischen den beteiligten Akteuren, Regionen und Nationen. Hieran knüpfte Arnd Bauerkämper an, der hervorhob, dass auch die kollektiven Erinnerungen an Kriege einerseits erst durch den anhaltenden Transfer zwischen Personen und Gruppen, Regionen und Nationen und andererseits durch den stetigen Widerstreit zwischen verschiedenen Erinnerungstraditionen geformt werden würden. Dass die regionalen und nationalen Grenzen sich während und nach den Kriegen von 1792 bis 1815 vielfach verändert hätten, mache die Aufarbeitung der Erfahrungen und Erinnerungen, die wiederum zentral für die regionale und nationale Identitätsbildung gewesen seien, zu einem hochkomplexen und zugleich außerordentlich interessanten Gegenstand einer komparativen europäischen Geschichte. Eine solche Geschichte müsse aber, dies sei entscheidend, von vielfältigen und höchst widersprüchlichen europäischen Erfahrungen und Erinnerungen ausgehen.
Einigkeit herrschte bei den Teilnehmern des "round table" darüber, dass das Vorhaben einer europäischen Erfahrungs- und Erinnerungsgeschichte der Zeit der Revolutions- und Napoleonischen Kriege auch ein großes Potential für eine globale Geschichte biete, die über Europa hinausreiche, denn bereits die Kriege selbst waren ja weltweite Konflikte. Bevor ein solches globales Vorhaben zur Erforschung dieser Kriege jedoch begonnen werden könne, sollten die diskutierten Forschungsdesiderate zur europäischen Geschichte bearbeitet und hier verschiedene theoretische und methodische Ansätze eines Vergleichs in der Forschung erprobt werden. Ansonsten bestehe die Gefahr einer Überfrachtung und damit eines Scheiterns des Vorhaben. Der Fokus auf Europa dürfte jedoch, so wurde in der Diskussion nachdrücklich hervorgehoben, nicht bedeuten, dass die außereuropäischen Bezüge völlig ausgeblendet werden. Dies sei schon aufgrund der engen Verflechtung von Nations- und Empirebildung in dieser Zeit nicht möglich, die ja nicht nur für Großbritannien, sondern auch für Frankreich, Österreich, Russland und Spanien von Bedeutung sei. Zudem wären ohne die Bilder des 'Anderen', 'Fremden' außerhalb Europas, ohne die konkreten Erfahrungen dieses 'Anderen', 'Fremden', die u.a. Soldaten und Seeleute in diesen Kriegen machten, viele Prozesse der Identitätsbildung nicht zu verstehen.
Auf eine große Gefahr des geplanten vergleichenden Vorhabens wurde in der Schlussdiskussion von verschiedenen Seiten verwiesen: Das Projekt dürfte nicht bei einer bloß additiven Aneinanderreihung nationaler bzw. regionaler Studien stehen bleiben. Dies geschehe noch zu oft in größeren Vergleichsprojekten, da trotz aller Versuche einer Internationalisierung die Geschichtsschreibung bis heute durch ihre je spezifische nationale Tradition geprägt sei und primär auf ihren je nationalen Kontext und ihre je nationale Wissenschaftskultur bezogen wäre. Die Forschungsergebnisse des internationalen Forschungsnetzwerkes zu "Nations, Borders, Identities: The Revolutionary and Napoleonic Wars in European Experiences and Memories" werden, so betonten alle Teilnehmer und Teilnehmerinnen der Abschlussdiskussion, Antworten auf viele im Rahmen des Workshops diskutierte Fragen ermöglichen und in der Praxis zeigen, welche Ansätze und Fragestellungen für eine europäische Geschichte der Revolutions- und Napoleonischen Kriege besonders tragfähig seien.
Anmerkung:
1 Das Forschungsnetzwerk wird geleitet von Richard Bessel (University of York, De-partment of History), Alan Forrest (University of York, Centre for Eighteenth Century Studies), Etienne François (Technische Universität Berlin, Frankreichzentrum), Karen Hagemann (University of Glamorgan, Centre for Border Studies) (Projektkoordinati-on), Hartmut Kaelble (Humboldt Universität Berlin, Berliner Kolleg für Vergleichen-de Geschichte Europas) und Jane Rendall (University of York, Centre for Eighteenth Century Studies). Mehr Informationen zu diesem Netzwerk unter: http://www.tu-berlin.de/fak1/frankreich-zentrum/nbi/