Die Verschiebung der Aufmerksamkeit in der Geschichtswissenschaft von Fakten und festen Ordnungsgefügen hin zu den kollektiv geteilten Deutungen der Akteure hat in den vergangenen Jahren auch die Frage nach den kollektiven Erinnerungen in den Mittelpunkt der historischen Forschung gerückt. Während sich die Studien jedoch primär auf den Nationalstaat als Analyserahmen beziehen, sind Untersuchungen zur transnationalen Ausprägung von Erinnerungen weitgehend ausgeblieben 1.
Ein erster Schritt in diese Richtung wurde auf dem mit einem Durchschnittsalter von 24 Jahren jüngsten Panel des I. Europäischen Kongress für Welt- und Globalgeschichte präsentiert: Hier hatte eine hoch ambitionierte Gruppe von Studierenden der Universität Leipzig mit Unterstützung von Frank Hadler und Matthias Middell eine weltweite, mehrsprachige Internetbefragung über die Einschätzung politischer Ereignisse konzipiert und von April bis Juni 2005 durchgeführt. Ziel der Untersuchung war es, herauszufinden, ob sich bei individuellen Erinnerungszeugnissen eine globale Annäherung der Geschichtsbilder abzeichne. Der Kongress lieferte den Anlass, um sowohl erste Ergebnisse als auch Hypothesen über mögliche Einflussfaktoren in der räumlichen Ausprägung von Geschichtsbildern zu diskutieren.
In einer kurzen Einführung wurden die Teilnehmer zunächst über die Konzeption der Untersuchung und den verwendeten Fragebogen in ihren Möglichkeiten und Grenzen informiert. Um die Verkoppelung individueller und gemeinschaftlich geteilter Erinnerungen in den Blick zu bekommen, wurden die Fragen auf Erinnerungen an ‚politische Ereignisse’ ausgerichtet. Insgesamt wurden rund 5500 Fragebögen ausgefüllt, wobei sich die Antwortenden deutlich aus der Altersgruppe der 1969 bis 1989 Geborenen und sozial aus Studierenden bzw. Hochschulabsolventen zusammensetzten; die regionale Verteilung umfasste in erster Linie Länder der nördlichen Hemisphäre – Deutschland, die USA, Frankreich und Mexiko, aber auch Australien und Neuseeland.
Was erfuhr man in den folgenden vier Vorträgen über die regionale und transnationale Ausprägung der erhobenen Erinnerungszeugnisse? Legten sie eine weltweite Homogenisierung der Geschichtsbilder nahe?
Ein Blick auf die räumliche Verteilung der als für das 20. Jahrhundert am wichtigsten eingeschätzten Ereignisse zeigte zunächst, dass sich die Angaben weltweit auf drei zentrale Punkte konzentrierten: den Ersten Weltkrieg, den Zweiten Weltkrieg sowie den Fall der Berliner Mauer. Daneben zeichneten sich weitere ‚lokale’ Variationen ab, wobei die Äußerungen junger Australier vielleicht das erstaunlichste Ergebnis lieferten: hier wurde die Einführung der Frauenrechten besonders oft als eines der drei ‚wichtigsten politischen Ereignisse’ angegeben. Nicht weiter überraschen konnte hingegen, dass auf der Länderebene in Deutschland oder auch in Russland Angaben nationaler Ereignisse dominieren.
In der Altersverteilung konnte festgehalten werden, dass sich Variationen in der Benennung der Ereignisse ergeben. Als besonders interessant zeigte sich, dass die Ermordung John F. Kennedys nahezu weltweit von der Altersgruppe der 1950-1959 Geborenen erinnert wird.
Die nächsten beiden Vorträge widmeten sich weniger der Deskription der Ergebnisse, als vielmehr zwei Hypothesen der Studierenden, die durch die Befragung widerlegt werden konnten. So war festzustellen, dass die jüngeren Alterskohorten nicht auf ‚globalere’ Ereignisse zurückgreifen als dies die älteren tun. In der räumlichen Verteilung zeigte sich zudem, dass ‚globale Ereignisse’ der jüngeren Vergangenheit, wie 1989/91 oder 9/11, nicht unbedingt stärker in den direkt betroffenen Regionen erinnert werden: Zwar ließ sich für 1989/91 eine stärkere Repräsentation in Europa erkennen; ähnliches gilt jedoch nicht für den 11. September 2001, der in den skandinavischen Ländern, der Schweiz oder Deutschland deutlich öfter als in den USA angegeben wurde.
Insgesamt – so das Fazit der Studierenden – könne man auf Grundlage der erhobenen Erinnerungszeugnisse keine weltweite Angleichung der Geschichtsbilder beobachten, die nach Region und Alter ausdifferenziert deutliche Unterschiede nahe legten.
Was macht man mit einer solchen Untersuchung abgesehen davon, dass sie zum Lernprozess aller Beteiligter beitragen wird? Diese Frage bestimmte im Wesentlichen die anschließende Diskussion. Auch wenn sich einige der NachwuchsforscherInnen wünschen mögen, eine parallele Untersuchung in regelmäßigen Abständen unter dem Titel ‚Globus07’ oder ‚Globus09’ durchzuführen, bleibt doch eine Warnung auszusprechen. Denn mindestens so spannend wie die Frage über das ‚Was’ zu verfolgen, dürfte es nun sein, auch etwas über das ‚Wie’ herauszufinden, sprich: In welche Deutungen und Erzählmuster werden die Angaben jeweils eingebunden? Abgesehen von narrativen Interviews ließen sich die Daten ebenfalls durch Anschlussuntersuchungen der gängigen Sozialisationsinstanzen oder der Medienpräsenz von politischen Ereignissen im Erhebungszeitraum (50. Jahrestag des 2. Weltkriegs) ergänzen. Dann kann man hoffen, in ein paar Jahren auch darüber etwas zu erfahren, warum beispielsweise der 2. Weltkrieg weniger in Italien erinnert wird, die Ermordung John F. Kennedys von den heute 50jährigen weltweit als besonders relevant erachtet wird – oder wie die Frauenrechte in die Köpfe australischer Studierender gelangen.
1 Allenfalls findet man theoretische Annahmen, die auf globale Geschichtsbilder rekurrieren, vgl. etwa: Geyer, Michael / Bright, Charles: World History in a Global Age, in: AHR (1995), S. 1034-1060; Maier, Charles S.: Consigning the Twentieth Century to History. Alternative Narratives for the Modern Era, in: AHR 105 (2000), S. 807-831.