In der Forschungsperspektive der Welt- und Globalgeschichte wird ein neuer Schwerpunkt auf die Evolution der menschlichen Kultur als Basis historischer Prozesse gelegt. Diesem interdisziplinären Ansatz folgend, ging das Panel sowohl Aspekten der biologischen als auch der kulturellen Evolution der Menschheit nach, wobei neben der Ebene des Individuums auch die Gesamtheit der Entwicklung menschlicher Kultur betrachtet wurde. Geleitet wurde das Panel von Johanna Forster (Universität Erlangen-Nürnberg) und Jörg Wettlaufer (Akademie der Wissenschaften zu Göttingen / Universität Kiel); weitere Vorträge hielten Uwe Krebs (Universität Erlangen-Nürnberg) und Christa Sütterlin (Humanethologisches Filmarchiv Andechs).
In einem in die Thematik einführenden Vortrag erläuterte Jörg Wettlaufer das Verhältnis von evolutionärer Anthropologie und Ethologie, also der klassischen Verhaltensforschung, zur neueren Welt- und Globalgeschichte. Zunächst stellte er die hauptsächlichen Probleme und Missverständnisse dar, die sich bei einer interdisziplinären Zusammenarbeit zwischen der naturwissenschaftlich fundierten evolutionären Verhaltensforschung und der aus der geisteswissenschaftlichen Tradition erwachsenen Global- und Weltgeschichte ergeben haben. Den seit ca. 25 Jahren existierenden einseitigen Bemühungen der evolutionären Verhaltenswissenschaften, historische Daten für die Erforschung menschlichen Verhaltens nutzbar zu machen (sog. Darwinian history), stehen nur wenige Historiker gegenüber, die sich um eine Integration der Ergebnisse evolutionärer Verhaltensforschung in die Geschichtswissenschaften bemüht haben. In dieser Situation präsentiert sich die neuere Welt- und Globalgeschichte dem evolutionären Ansatz gegenüber relativ aufgeschlossen, weil sie an der globalen Vernetzung und den Gemeinsamkeiten historischer Prozesse interessiert ist. Sie geht hierbei u.a. von einer gemeinsamen Natur des Menschen und seiner unterschiedlichen Kulturen aus und hat ein naturwissenschaftlich fundiertes Weltbild. In diesem Zusammenhang wies der Referent auf die zur Zeit insbesondere in den USA erstarkenden Bemühungen des Kreationismus unter der pseudowissenschaftlichen Bezeichnung „Intelligent Design“ hin, von dem sich auch die Global- und Weltgeschichte in ihren Schul- und Universitätscurricula deutlich distanzieren sollte.
Christa Sütterlin widmete sich in ihrem Beitrag „Humans` face. A short study in art history“ der Geschichte des Porträts in verschiedenen Epochen und bei unterschiedlichen Völkern und setzte dies in einen Zusammenhang mit Ergebnissen der Hirn- und Entwicklungsforschung. Beispiele von Bildern und Figuren aus vorhistorischer Zeit zeigen durchweg einen hohen Grad an Schematisierung ohne Persönlichkeitsausdruck oder Darstellung physiognomischer Feinheiten. Erst mit dem Kaiserkult in der römischen Antike begann die Geschichte des Porträts im engeren Sinne, die von der Renaissance an besondere Ausprägung erfuhr. Diese kunstgeschichtliche Evolution vom Abstrakten zum Konkreten findet seine Entsprechung in der Wahrnehmung von Gesichtern während der kindlichen Entwicklung und auch bei den Phasen des eigenen Zeichnens von Kindern. Forschungen bei nicht-zeichnenden Stämmen in Afrika bestätigten diese Ergebnisse. Ursache für diesen Zusammenhang könnten neuronale Verarbeitungsstrategien der menschlichen Wahrnehmung sein, welche zur Kategorisierung und Typisierung individueller Vorkommnisse - auch im Falle des menschlichen Gesichtes - im Dienste der Entlastung von Gedächtnisfunktionen neigen. Das Einprägen differenzierter Züge ist mit einem besonderen Lernaufwand verbunden, der nur unter zusätzlichen Bedingungen – auch kulturgeschichtlicher Art – geleistet wird. Symbolhaft abstrakte Darstellung geht schon aus diesem Grunde jedem realistischen Bemühen voraus, selbst im Falle einer so stark persönlichkeitsgebundenen kommunikativen Körperstruktur.
In dem folgenden Beitrag von Uwe Krebs mit dem Titel „From the Hunting Group to the Global Society. The Individual and its Society in a phylogenetical Perspective” wurde die Leithypothese formuliert, dass mit Zunahme der menschlichen Populationen, einem historisch jungen Phänomen, das Ausmaß an individuellem Altruismus sinkt. Da Verhalten nicht fossiliert, wurden ethnographische Daten, sofern sie kleine Populationen ohne staatliche Strukturen beschreiben (z.B. auf sich gestellte Oasen im Sandmeer der Sahara) für die Argumentation herangezogen.
Die phylogenetische Perspektive umspannt dabei einen Zeitraum von mehr als vier Millionen Jahren der Geschichte des Homo sapiens. Diese sehr lange Zeitspanne hätte für genetische Anpassungen im Verhalten ausgereicht, wie z.B. die verschiedenen Hautfarben des Menschen als Anpassung an Klimabedingungen, zeigen, die weit jüngeren Alters sind. Beabsichtigt wurde mit diesem interdisziplinären Ansatz eine Darstellung der Verhaltensentwicklung des Menschen auf der längstmöglichen Skala. Als Ergebnis konnte festgehalten werden, dass eine phylogenetische Perspektive dazu beitragen kann, Konflikte in der Wechselbeziehung von Individuum und Gesellschaft besser zu verstehen. Schließlich wurden Implikationen und praktische Konsequenzen dieser Sichtweise für moderne Gesellschaften diskutiert.
„Cultural History in a global perspective. The history of the social use of emotions as an example for evolutionary shaped aspects of cultural global history” war der Titel des Vortrags von Jörg Wettlaufer. Im Mittelpunkt stand der Versuch, mit Hilfe einer Untersuchung des sozialen Schamgefühls in der spätmittelalterlichen und frühneuzeitlichen Gesellschaft zu zeigen, wie eine physiologische Adaptation in diesen Gesellschaften durch einen längeren Zeitraum hindurch zur Regulierung des Gruppenzusammenhalts in einer ganz spezifischen Art und Weise instrumentalisiert wurde. Ausgehend von der Darwinschen Perspektive des Schamgefühls als physiologisch verankertem Mechanismus, der von allen Menschen geteilt wird, wurde die Perspektive der neueren evolutionären Anthropologie referiert, die insbesondere die Funktion des Schamgefühls in Bezug auf die Herstellung von Gruppenkohärenz und die Durchsetzung von gemeinsamen Normen herausgestellt hat. Dabei folgte er einer kritischen Haltung zur konstruktivistischen Kulturwissenschaft und Kulturgeschichte, indem er die biologische Basis von Emotionen anhand von neueren Studien zu deren weltweiten Verbreitung belegen konnte. Der Vortrag schloss mit einer Reihe von Beispielen zu frühneuzeitlichen Schand- und Ehrenstrafen, die vom Referenten im Sinne eines gesellschaftlichen Gebrauchs des Schamgefühls zur Regulierung der sozialen Interaktion von Gruppen in mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Gesellschaften interpretiert wurden.
Aufgrund von Zeitmangel konnte der Vortrag von Johanna Forster „Tracing the history of childhood and children`s education – the evolutionary perspective“ nicht mehr gehalten werden. Aus diesem Grund folgt an dieser Stelle eine ausführlichere Zusammenfassung des schriftlich vorgelegten Beitrags. Die Referentin stellte mit der Frage nach den Funktionszusammenhängen und Ausprägungen von Kindheit und Erziehung in der frühen Geschichte der Menschheit ein Beispiel für die Suchperspektive einer die evolutionären Prozesse berücksichtigenden Weltgeschichte vor. Kulturevolutionäre Prozesse bilden gleichsam Grundmuster menschheitsgeschichtlicher Entwicklungen ab. Die evolutionär orientierte, globalgeschichtliche Betrachtung fragt dementsprechend nach übergreifenden bzw. allgemeinen Phänomenen als Basis für gruppen- und kulturenspezifische Modifikationen, die in Anpassung an die jeweiligen zeitlichen und situationalen, inneren und äußeren Umgebungsbedingungen geschehen. Es gilt hierfür gleichermaßen nach Universalien und Invarianten als Rahmen spezifischer Ausprägungen und nach dem Spektrum menschheitsgeschichtlich beobachtbarer Variationen zu suchen. Diese Analyseperspektive bietet eine zusätzliche und erkenntnisreiche Möglichkeit, sich historischen Phänomenen und Prozessen zu nähern.
„Kindheit und die Erziehung von Kindern“ in der frühen Geschichte der Menschheit wird unter folgenden Gesichtspunkten diskutiert: Beide Phänomene sind sowohl anthropologische Konstanten als auch Ansatzpunkte umfangreichender kulturspezifischer Modifikationen. Im weiten historischen Entwicklungsverlauf öffnet sich so ein breiter Fächer an Modulationen von Erziehung in den aber interkulturell erkennbaren Feldern Enkulturation, Sozialisation und spezielle Wissensvermittlung.
Die historische Forschung setzt zumeist an den Quellenbefunden aus dem menschheitsgeschichtlich späten Zeitraum der frühen Hochkulturen, etwa Sumer und Ägypten, an. Gleichzeitig wird aber gesehen, dass die „vormodernen“, anthropologischen und gesellschaftsgeschichtlichen Wurzeln von Erziehung sehr viel älter seien, diese sich jedoch wenig rekonstruieren ließen. Wenn man nach historisch frühen Erscheinungsformen von Erziehung fragt und um die Wurzeln des Phänomens wissen will, ist in anderen Quellenfeldern nach Hinweisen zu suchen.
Der hier vorgestellte Forschungsansatz unternimmt den Versuch, die langen Zeiträume der frühen History of Mankind zu erschließen und fragt aus dieser, die evolutionstheoretische Perspektive integrierenden Position heraus nach der Gattungsgeschichte von Erziehung.
Entsprechend wird vor dem Hintergrund der weiten Zeitspanne der Menschheitsgeschichte zunächst nach Hinweisen auf Funktionen und funktionelle Kontexte des Merkmalsfeldes Erziehung in der Kindheit gesucht. Welche Voraussetzungen etwa sind für die Evolution von Erziehung in der Kindheit erkennbar? Welche Zusammenhänge sind beschreibbar zwischen der Entwicklung humanbiologischer Merkmalsausprägungen und dem Entstehen humanspezifischer erzieherischer Phänomene? Schließlich, in welchen Lebenszusammenhängen sind Hinweise auf Erziehungsphänomene aufzuspüren?
Die Beantwortung der gestellten Fragen beginnt mit der Suche nach Indizien für Merkmale, die sich historisch und vermutlich systematisch kennzeichnen lassen als Basis kultureller Modifikationen im weiteren geschichtlichen Prozess von Gesellschaft und Erziehung. Die Suche setzt dementsprechend einmal längsschnittlich auf der Ebene der Phylogenese, zum anderen querschnittlich auf der Ebene kultureller Evolution und Diversifikation an.
Der Vortrag fokussierte insbesondere auf Aspekte der längsschnittlichen Indiziensuche. Das Erkenntnismaterial bieten die Paläoanthropologie und Paläoarchäologie. Die Analyse setzt mit der Entwicklung der Sapienten, des archaischen Homo sapiens (Homo sapiens neanderthalensis, vor ca. 400.000 Jahren) und des modernen Homo sapiens (vor ca. 140.000 Jahren) an.
Die Suche nach Indizien zum Phänomen „Erziehung von Kindern“ mit den Sapienten anzusetzen – also in einem relativ jungen Abschnitt der universalen Menschheitsgeschichte – erscheint aus systematischen und pragmatischen Gründen sinnvoll: In dieser Übergangszeit sind große Entwicklungsschritte auf biologischer und vor allem auf kultureller Ebene zu beobachten. Das Hirnvolumen als wichtiges biologisches Entwicklungsmerkmal nimmt auf etwas 1400-1500 Kubikzentimeter zu. Zudem offenbart die vergleichsweise gute Fundlage ein hohes Niveau an Kulturtechniken.
Die Indiziensuche konzentriert sich auf die drei lebensweltlichen Bereiche: Werkzeugtechniken und Subsistenzstrategien, Soziabilität sowie kulturell-religiöse Ausdrucksformen.
Die archäologischen Funde und Fundzusammenhänge lassen überzeugend annehmen, dass Erziehung Teil einer über lange Zeiträume kontinuierlich tradierten Lebensbewältigung war: Für beide Sapienten-Gruppen sind für den Bereich der Werkzeug- und Subsistenzfertigkeiten vielfache Hinweise auf eine Form der kulturtechnologischen Tradierung gegeben. Für die Entwicklung der Werkzeugtechnik und dann vor allem der bildlichen künstlerischen Zeugnisse des Menschen der Cro-Magnon-Zeit steht wohl außer Frage, dass hier in großem Umfang Wissen tradiert werden musste. Man wird zudem wohl annehmen dürfen, dass für den Funktionskreis der Vermittlung jener über Jahrtausende formal vergleichbaren abgebildeten Inhalte und Themenkataloge auch entsprechende erzieherische Prozesse vorlagen. Dies ist etwa in der Tradierung von Vorstellungen und Weltbildern, die den bildlichen Äußerungen zugrunde lagen, zu vermuten.
Auch für den Bereich der Soziabilität ist aufgrund der Fundlage soziales Lernen und eine komplexe soziale Kommunikation anzunehmen. Die hohen Anfordernisse des Gruppenlebens und zudem die Notwendigkeiten zunehmend unterschiedlicher Subsistenzformen konnten keinesfalls über disponiertes Verhalten und ein Lernen durch Versuch und Irrtum und am Erfolg gemeistert werden.
Zusammenfassend lassen sich zwei aus evolutionärer Sicht neue und miteinander in Verbindung stehende Entwicklungslinien bezeichnen, die das Merkmalsfeld Erziehung von Kindern im Verlauf der frühen Menschheitsgeschichte beschreiben: Einerseits geht es um die spezifische Ontogenese des Menschen und in diesem Zusammenhang um Lernbedürftigkeit und Lernfähigkeit, Erziehungsbedürftigkeit und Erziehungsfähigkeit, Kommunikations- und Bindungskompetenz sowie die Möglichkeit und Notwendigkeit der Tradierung. Andererseits ist in besonderer Weise die kulturelle Evolution angesprochen. Sie geht einher mit komplexen Subsistenzfertigkeiten, der Entwicklung von Kulturtechniken und dem sichtbaren Bedürfnis, Umwelt zu strukturieren und zu markieren, der Entstehung komplexer sozialer Gruppen und entsprechend notwendigen Sozialkompetenz sowie mit Formen von Selbstkonzepten und ideologisch-religiösen Vorstellungen. In diesen Funktionskreisen ist Erziehung erkennbar verankert als ein Heranführen junger Menschen durch Erwachsene an die gegebene sozio-kulturelle Praxis, an Aufgaben und das Überleben in der dinglichen wie sozialen Umwelt. Dieser Funktionszusammenhang ist ein wichtiger gesellschaftlicher Entwicklungsimpuls.
Erziehung als Strategie der Lebensbewältigung gattungsgeschichtlich und in den frühen Kulturen zu beschreiben, schließt den Funktionszusammenhang von Erziehung und Gesellschaft auf. Dieser Weg bietet einen zusätzlich zur gängigen kulturgeschichtlichen, in kurzer Perspektive angelegten Analyse prägnanten Forschungszugang an.
In der abschließenden Diskussion des Panels wurde die Frage der Fruchtbarkeit der interdisziplinären, aus der evolutionären Verhaltensforschung gespeisten Betrachtungsweise für die Global- und Weltgeschichte kontrovers diskutiert. Die grundsätzlichen Perspektivunterschiede zwischen „Essentialismus“ und „Konstruktivismus“ wurden dabei erstaunlicherweise kaum thematisiert. Vielmehr standen Probleme der interdisziplinären Verständigung und der konkreten Verwertung von außerfachlichen Wissensbeständen im Vordergrund des Gesprächs. Weltgeschichte wurde in diesem Panel des Kongresses sicherlich in zeitlicher und disziplinärer Hinsicht am breitesten vertreten.