Anfang März 2006 richtete das Graduiertenkolleg „Transnationale Medienereignisse von der Frühen Neuzeit bis zur Gegenwart“ an der Justus-Liebig-Universität Gießen einen interdisziplinär besetzten Workshop zum Thema „Transnationalität in der Praxis“ aus. In der fächerübergreifenden Konzeption des Workshops, der WissenschaftlerInnen aus den Geistes-, Kultur- und Sozialwissenschaften zusammenführte, spiegelte sich die erfreuliche Heterogenität der gegenwärtig am Graduiertenkolleg versammelten Forschungsprojekte. Die sehr gut organisierte, im Schloss Rauischholzhausen, dem Tagungszentrum der Universität Gießen, abgehaltene Veranstaltung wurde von Friedrich Lenger (Justus-Liebig-Universität Gießen, Institut für Neuere Geschichte I), dem Sprecher des Kollegs eröffnet und war thematisch in zwei Blöcke gegliedert. Während am ersten Tag der Versuch unternommen werden sollte, die ‚Denkfigur’ des Transnationalen theoretisch auszuleuchten, stand am zweiten Tag eine methodische Exemplifikation des Arbeitens mit oder an ‚Phänomenen’ des Transnationalen im Vordergrund. Da diese Organisations- bzw. Ordnungsstruktur in einen theoretischen und methodischen Teil erfreulicherweise nur wenige präskriptive Qualitäten besaß, soll sie im Folgenden nicht wiederholt werden. Stattdessen soll der Versuch unternommen werden, den diskursiven Gesamtzusammenhang der Veranstaltung nachzuzeichnen und – von einer Position außerhalb des Graduiertenkollegs – kritisch zu reflektieren.
Jeder der insgesamt sechs Vorträge des Workshops wurde aus der Reihe der KollegiatInnen durch eine kurze, zumeist eloquente und inhaltlich differenzierte Stellungnahme eingeleitet. Die thematischen Einführungen der KollegiatInnen gingen daher zumeist über eine einfache Vorstellung der ReferentInnen und ihrer Forschungsarbeiten hinaus, indem die einleitenden Bemerkungen durch eine Bestimmung jener theoretischen und/oder methodischen Konturen des Transnationalen ergänzt wurde, die – zumindest nach Meinung oder Hoffnung der jeweiligen KollegiatInnen – in den einzelnen Vorträgen bzw. in den sich anschließenden Diskussionen thematisiert, skizziert oder gespiegelt werden sollten. Um die erhoffte intensive Diskussion der Beiträge sicherzustellen, war allen TeilnehmerInnen des Workshops zudem ein mehrere hundert Seiten umfassender Reader mit Arbeiten der ReferentInnen sowie einem durch die KollegiatInnen verfassten Konzeptpapier zur Vorbereitung zugegangen.
Dass die geäußerten Erwartungen und Hoffnungen der KollegiatInnen durch die Vorträge der ReferentInnen stets erfüllt wurden, kann – oder muss – bedauerlicherweise bezweifelt werden. Denn während sich einzelne ReferentInnen darum bemühten, die konzeptionelle Rahmung des Workshops zu reflektieren und die ‚Denkfigur’ des Transnationalen vor ihrem jeweils eigenen fachlichen Hintergrund und mittels der ihnen zur Verfügung stehenden Instrumentarien theoretisch und/oder methodisch zu adressieren, blieb die ‚Denkfigur’ des Transnationalen bei anderen Vortragenden leider nur schemenhaft wenn nicht sogar unkenntlich.
Den Anfangspunkt markierte der von Rudolf Stichweh (Universität Luzern, Soziologie II) vorgetragene Beitrag mit dem Titel „Das Konzept der Weltgesellschaft: Einführung und kritische Kommentare“. In seinem Vortrag situierte Rudolf Stichweh die ‚Figur’ des Transnationalen innerhalb der systemtheoretischen Reflexion über die so genannte Weltgesellschaft, die er als ein System der (kommunikativen) Vernetzung, der funktionalen Differenzierung sowie der sozialen Strukturbildung beschrieb. Auf diese Weise entwarf Stichweh das Bild einer auf der Basis eines binären Codes (Inklusion vs. Exklusion) operierenden, umfassenden Globalitätssemantik, in deren Matrix die ‚Denkfigur’ des Transnationalen, ebenso wie die zur Metakategorie erstarrten ‚Figuren’ von Nation und Nationalstaat, als ein im globalen Referenzraum der Weltgesellschaft emergierendes Phänomen betrachtet werden könne oder müsse. Inwieweit eine derartige, ausschließlich auf systemtheoretische Prämissen gegründete und in binären Kodierungen verharrende Reflexion über die ‚Figur’ des Transnationalen Impulse für eine interdisziplinäre Auseinandersetzung bieten kann, blieb auch nach der sich anschließenden Diskussion des Beitrages unklar.
Auf überaus überzeugende Weise gelang es hingegen Vittoria Borsò (Heinrich Heine Universität Düsseldorf, Lehrstuhl Romanistik 1) sich in ihrem Vortrag über die „Topologie des Transnationalen: Grenzen, Schwellen und andere Orte“ an die Komplexität der ‚Denkfigur’ des Transnationalen anzunähern. In ihrem Versuch, eine Topologie des Transnationalen zu entwerfen, plädierte sie aus einer bereits im Vortragstitel angelegten (poststrukturalistischen) Perspektive dafür, bei der Beschäftigung mit der ‚Figur’ des Transnationalen stets die ‚Figuration’ des Transnationalen als möglicherweise entscheidende Größe mitzudenken und dabei jede epistemologische Arretierung zu vermeiden. Eine Analyse des Transnationalen, so ihr Argument, setze die Einsicht voraus, dass jeder (wissenschaftliche) Blick auf die ‚Denkfigur’ und damit auf die Topologie des Transnationalen zwangsläufig und stets situierend und modellierend wirke. Das Transnationale könne daher niemals als dem wissenschaftlichen Zugriff vorgängig betrachtet werden, da es immer (auch) unter den topologischen Bedingungen (s)einer Beobachterposition stehe. Aus diesem Grund sei für die Beschäftigung mit dem Transnationalen die Erkenntnis von entscheidender Bedeutung, dass der Blick auf und die Vorstellung von der ‚Figuration’ des Transnationalen niemals ortlos sein kann. Für die Bestimmung und Analyse des Transnationalen, d.h. von Vernetzungen und Interdependenzen, sei es aus diesem Grund entscheidend, jene topologischen Operationen und Techniken der Identifikation des Transnationalen zu bestimmen, durch welche jene als transnational begriffenen Vernetzungen und Interdependenzen erkennbar, bestimmbar, beschreibbar und schließlich analysierbar werden.
In ganz ähnlicher Weise schienen auch die Argumentationen von Rochona Majumdar (University of Chicago, Department of South Asian Languages and Civilizations) und Dipesh Chakrabarty (University of Chicago, Department of History & Department of South Asian Languages and Civilizations) gelagert. Doch während es Rochona Majumdar mit ihrem Vortrag zum Thema „Bollywood India: Film and History“ gelang, einen in theoretischer wie methodischer Hinsicht überzeugenden und produktiven Beitrag zum Projekt des Workshops zu leisten, und sie zudem die ‚Denkfigur’ des Transnationalen nicht nur direkt zu adressieren, sondern auch theoretisch wie methodisch zu reflektieren wusste, geriet Dipesh Chakrabartys Beitrag mit dem Titel „Provincializing Europe: Introduction and Critical Comments“ zu einem mitunter ins Anekdotische gleitenden Kommentar zu seiner weithin rezipierten Arbeit „Provincializing Europe: Postcolonial Thought and Historical Difference“. So verwies Dipesh Chakrabarty vor dem Hintergrund seiner eigenen Arbeit(en) letztlich (allein) auf die Notwendigkeit, jene Denkbewegungen zu hinterfragen, die auch im Kontext einer ‚transnationalen Perspektive’ (wiederum) die etablierten und privilegierten Metaerzählungen der Nation zu adressieren suchen, ohne dabei den Befund zu reflektieren, dass – zumal in einem außereuropäischen Zusammenhang – die Denkfigur der Nation zwar ‚unumgänglich’, aber dabei zugleich (eben) immer auch ‚unzulänglich’ ist. Leider vermied es Dipesh Chakrabarty, diese durchaus interessanten theoretisch-methodischen Überlegungen in einem konkretisierten empirischen Befund zu spiegeln.
Rochona Majumdar gelang indes das Kunststück, die von Vittoria Borsò in erster Linie in einer theoretischen Perspektive exemplifizierten Überlegungen zur ‚Denkfigur’ des Transnationalen als topologische ‚Figurationen’ von Vernetzungen und Interdependenzen in einen methodischen und empirisch verifizierten Rahmen zu stellen. Am Beispiel einer historischen, gleichermaßen geschichts-, film- wie kulturtheoretisch fundierten Studie zum ‚Hindi-’ bzw. ‚Bollywood-Cinema’ vermochte Rochona Majumdar die Gefahren einer unreflektierten Anbindung des Transnationalen an einer zumeist als Verwestlichung gedachten Vorstellung der Moderne aufzuzeigen und sich so in kritischer Distanz zu den Ausführungen von Rudolf Stichweh zu positionieren. Bezug nehmend auf die Arbeiten Tom Gunnings (University of Chicago, Department of Art History, Commitee on Cinema & Media Studies) argumentierte sie, dass das ‚Bollywood-Cinema’, welches aus dem so genannten ‚Hindi-Cinema’ hervorgegangen sei und heute häufig als ein transnationales Phänomen verstanden werde, schon lange vor seiner Anbindung an die Metanarrative der modernen Kultur- und Sozialwissenschaften eine transnationale ‚Figuration’ besessen habe. Auf diese Weise machte Rochona Majumdar deutlich, dass das Reden vom Transnationalen immer wieder die Rahmungen einer epistemologischen Ordnung adressiert für welche die Matrix des Meta-Narrativs Nation und Moderne als eine in erster Linien auf den ‚Westen’ verweisenden ‚Denkfigur’ konstitutiv ist. Gleichzeitig deutete sie an, dass die ‚Denkfigur’ des Transnationalen, in dem diese auf das Narrativ des ‚Nationalen’ Bezug nehme ohne es zu arretieren, das Potenzial besitzt, über die normativen Rahmungen der Meta-Narrative von Nation und Moderne hinauszuweisen und damit auf Vernetzungen und Interdependenzen zu deuten, welche nationale und kulturelle Grenzen, Raster und Rahmungen überschreiten würden. Diese transnationalen Bewegungen würden – so ihre Argumentation – freilich erst in dem Moment wahrnehmbar, wo der Ort des Denkens und Redens von der Nation bestimmt werde – also dann, wenn das Denken und Reden vom ‚Nationalen’ und seine Variationen (International, Supranational etc) den Blick auf das freigäben, was die Meistererzählungen von Nation, Nationalstaat und Moderne unterdrücken und/oder verschweigen würden, wie beispielsweise Phänomene der Diffusion, der Distribution, der Interrelation etc.
In einem ähnlichen Kontext bewegte sich auch der Vortrag von Sebastian Thies (Universität Bielefeld, Hispanistische Literatur- und Medienwissenschaft) mit dem Titel „Performanz des (Trans-)Nationalen: Borderlands und Rituale der Grenzüberschreitung im mexikanischen HipHop“. Am Beispiel eines u.a. mit einem Grammy ausgezeichneten Videoclips der mexikanischen HipHop-Gruppe „Molotov“ mit dem Titel „Frijolero“ entwarf Sebastian Thies das Bild einer transnationalen Kulturindustrie. In dem er sich in seiner Analyse des Videoclips der Vorstellung verweigerte, die Zwänge des Kapitalismus als die zentrale Referenz für die Analyse und Diskussion der im Video realisierten kulturindustriellen Diskursstrategien festzuschreiben, vermochte er – ähnlich wie zuvor Rochona Majumdar – den Blick auf eine hybride Ordnung (aus postkolonialem Diskurs und nationaler Pädagogik) freizumachen, die sich der vermeintlichen Eindeutigkeit etablierter Meistererzählungen samt deren nationaler Prämierungen verweigert und auf diese Weise auf jene Figurationen des Transnationalen verweist, welche nicht in die Matrix von Nation und Kapitalismus eingeordnet werden können.
Stefan Troebst (Universität Leipzig, Geisteswissenschaftliches Zentrum – Geschichte und Kultur Ostmitteleuropas), der zum Thema „Transnationalität in der Global(kan)isierung: Die Erfolgsaussichten eines transnationalen Erinnerungsdiskurses“ referierte, reduzierte den Begriff des Transnationalen – so schien es – in weiten Teilen auf eine ‚basal-hermeneutische Figur’. Die empirische bis positivistische Argumentation, die Stefan Troebst in seinem Vortrag entfaltete, bemühte sich mögliche Antworten auf die Frage nach den künftigen Elementen einer europäischen, von Stefan Troebst ergänzend als transnational bezeichneten, europäischen Erinnerungskultur zu skizzieren. Leider gelang es Stefan Troebst in seinem Vortrag sowie auch in der sich anschließenden Diskussion kaum, die Begrifflichkeit des Transnationalen so weit zu differenzieren, dass sie beispielsweise von jener des Nationalen, des Internationalen oder des Supranationalen hätte abgegrenzt werden können. Im Verlauf der Diskussion bot schließlich Claus Leggewie (Justus-Liebig-Universität Gießen, Zentrum für Medien und Interaktivität, ‚GK’ „Transnationale Medienereignisse“) eine Interpretation des Vortrags von Troebst an. So argumentierte er, dass Troebst durch seinen Vortrag die Möglichkeit aufgezeigt habe, das Feld der europäischen Erinnerungskultur als ein Spielfeld zu verstehen, auf welchem verschiedene Akteure eine europäische Kultur des Erinnerns zu konstruieren, zu konstituieren und zu modifizieren versuchten und dabei in einem offenbar immer größeren Maße auf einen Referenzrahmen verweisen würden, der möglicherweise deshalb als transnational zu beschreiben sei, weil diese Rahmungen – dies habe der Vortrag von Stefan Troebst zumindest nahe gelegt – quer durch nationale, internationale und supranationale Ebenen verliefen.
Jeweils am Ende der beiden Veranstaltungstage wurde zum Abschluss eine Zusammenführung der Beiträge und Diskussionen durch Claus Leggewie bzw. Horst Carl (Justus-Liebig-Universität Gießen, Historisches Institut, ‚GK’ „Transnationale Medienereignisse“) vorgenommen. Der Versuch, den ‚Begriff’ des Transnationalen im Rahmen des Workshops herauszuarbeiten, wurde sowohl von Horst Carl als auch von Claus Leggewie letztlich als produktiv beurteilt. So sei es den Vortragenden wie auch den Diskutanten gelungen, sich über die ‚Denkfigur’ des Transnationalen ‚auseinander zu setzen’, ohne dass die Diskussionszusammenhänge dabei ‚auseinander gefallen’ seien. Gleichwohl wurde sowohl das Zwischenfazit (Claus Leggewie) als auch die abschließende Zusammenführung (Horst Carl) der Diskussionen durch eine soziologische bzw. sozialwissenschaftliche Perspektive dominiert. Sowohl Carl als auch Leggewie adressierten in ihren Zusammenfassungen der Vorträge und Diskussionen Beispiele von Vergemeinschaftungsprozessen, wie beispielsweise dem Europäisierungsprozess, die ihrer Meinung nach z.B. durch kulturelle Diffusionsprozesse gekennzeichnet seien, welche innerhalb bzw. durch ein Denken in nationalen Grenzen bzw. Kategorien kaum mehr hinreichend beschrieben, analysiert und verstanden werden könnten. Vor dem Hintergrund dieses recht konkreten Beispiels wurde die ‚Figur’ des Transnationalen dann in erster Linie als ein möglicher Alternativbegriff skizziert und in Opposition zu einer Binärkodierung (national – international; national - supranational) gebracht, die stets Gefahr laufe, auf der Ebene einer Interdependenzvorstellung stecken zu bleiben. Um den Eindruck zu vermeiden, dass das Reden vom Transnationalen mit einem Reden von nationalen Interdependenzen korreliert, betonte Claus Leggewie den Emergenzcharakter des Transnationalen. So hätten die Vorträge des Workshops – so die Einschätzung Claus Leggewies – den Umstand verdeutlicht, dass Phänomene oder Prozesse des Transnationalen gleichsam aus Entwicklungen emergierten, die nicht mehr innerhalb eines binären nationalen Codes des Internationalen oder des Supranationalen verortet werden könnten.
Dennoch bleiben Zweifel bestehen, ob diese Herausstellung des ‚Emergenten’ jenseits sozialwissenschaftlicher Prämierungen den Anspruch einzulösen vermag, die innerhalb des Workshops formulierten Überlegungen kulturwissenschaftliche Provenienz zu berücksichtigen. So lassen sich im Reden von den als transnational qualifizierten Vergemeinschaftungsprozessen und deren Emergenzcharakter nur zu geringen Teilen jene Workshopbeiträge wiederfinden, die eine kritische Reflexion über die Beobachtungsposition des Transnationalen einforderten. Damit droht auch die ‚Denkfigur’ eines emergenten Transnationalen - obwohl als eine Alternative zu einer nationalen Matrix entworfen - auf die Denkstruktur des Nationalen zurückgeworfen zu werden. Denn im Reden von der Emergenz des Transnationalen scheinen nicht nur die u.a. von Vittoria Borsò vertretene poststrukturalistische Anregung, die „Topologie“ des Transnationalen zu bedenken, unzureichend reflektiert, sondern darüber hinaus auch jene Argumente bezüglich der Verortung des Transnationalen innerhalb einer möglicherweise eurozentrischen Theoriematrix vernachlässigt, die von Rochona Majumdar und Dipesh Chakrabarty, aber auch von Sebastian Thies, in die Diskussion eingebracht wurden. Der Umstand, dass auch der Begriff des Transnationalen notwendigerweise auf die völlig unzulängliche ‚Denkfigur’ des Nationalen verpflichtet bleibt, ist innerhalb des Redens von der Emergenz nicht hinreichend berücksichtigt. So konnte letztlich auch nicht die Frage geklärt werden, wie sich innerhalb des Redens von einem emergenten Transnationalen die – von Claus Leggewie und Horst Carl zumindest angedeutete und in den Vorträgen von Vittoria Borsò, Rochona Majumdar, Dipesh Chakrabarty und Stefan Teobst betonte – Notwendigkeit zu einer Kritik an den Instrumenten und Apparaturen einer auf die Nation hin orientierten Begriffs- und Theoriematrix realisieren könnte.