50 Jahre Römische Verträge. Supranationale Institutionen und transnationale Erfahrungsräume - Berlin 03/2007

50 Jahre Römische Verträge. Supranationale Institutionen und transnationale Erfahrungsräume - Berlin 03/2007

Organizer(s)
Tagung des Berliner Kolleg für Vergleichende Geschichte Europas, 16./17. März 2007 _Gefördert von der Gemeinnützigen Hertie-Stiftung und dem Italienischen Kulturinstitut Berlin_
Location
Berlin
Country
Germany
From - Until
16.03.2007 - 17.03.2007
By
Hartmut Kaelble, Institut für Geschichtswissenschaften, Humboldt-Universität zu Berlin

Anlässlich des 50. Jahrestags der Unterzeichnung der Römischen Verträge veranstaltete das Berliner Kolleg für Vergleichende Geschichte Europas, gefördert von der Gemeinnützigen Hertie-Stiftung und dem Italienischen Kulturinstitut Berlin, am 16. und 17. März 2007 eine internationale Tagung zu dem Thema „50 Jahre Römische Verträge. Supranationale Institutionen und transnationale Erfahrungsräume“. Angesichts vieler Kongresse und Workshops aus diesem Anlass stellte sich die Tagung eine spezielle Frage: die Wechselwirkung von europäischen Institutionen und Gesellschaft. Damit sollten der Einfluss der europäischen Integration auf das „gelebte Europa“ wie auch umgekehrt die Wirkung der gesellschaftlichen und kulturellen Kräfte und Prozesse auf den Wandel der europäischen Institutionen konturiert und erklärt werden. Als Themenfelder wurden dafür die Migration, der Konsum, die Sozialpolitik und die Kultur, die Repräsentationen und Symbole ausgewählt.

Nach der Eröffnung der Tagung durch Marina Mezzasalma (Italienisches Kulturinstitut Berlin) und Arnd Bauerkämper (Berliner Kolleg für Vergleichende Geschichte Europas) stellte Bo Stråth (Europäisches Hochschulinstitut Florenz) in seinem Einführungsvortrag heraus, dass der europäische Zusammenschluss nicht nur integrierte, sondern auch spaltete. Anfänglich, so schien es, zwischen katholischem und protestantischem Europa, später zwischen EWG und EFTA, aber auch zwischen einem europäischen Wirtschaftsprojekt und einem europäischen Sozialprojekt. Stråth argumentierte darüber hinaus, dass die europäischen Integrationspläne in den frühen siebziger Jahren einen Höhepunkt erreichten (Tindemans-Bericht, Werner-Plan, Davignon-Plan), dagegen anschließend schwerwiegende Spannungen entstanden, sowohl zwischen Erweiterung und Vertiefung als auch zwischen sozialen und ökonomischen Projekten. Daneben öffnete sich eine Kluft zwischen Identitätsrhetorik und politischem Handeln vor dem Hintergrund des Zusammenbruchs der klassischen Industrien und des Weltwährungssystems, des Ölschocks und der wachsenden Arbeitslosigkeit. Zudem verstärkte sich die Reorientierung an nationalen Interessen, sodass sich eine Nationalisierung des Sozialen vollzog und die europäische Integration zusehends auf ein Wirtschaftsprojekt eingeengt wurde. Der Maastricht-Vertrag verstärkte den Übergang zu einer neoliberalen Wirtschaftspolitik, die Orientierung der Europäischen Zentralbank auf Währungsstabilität, einer Machtverschiebung von der Europäischen Kommission zum Europäischen Rat und eine Erosion des Politischen. Wie die französische Ablehnung des Verfassungsentwurfes der EU zeigte, ist die soziale Frage derzeit ungelöst. Nicht zuletzt deshalb wachsen gegenwärtig die Armut und der anti-europäische Populismus.

Wolfram Kaiser (University of Portsmouth) kritisierte, dass die deutschen Historiker die Geschichte der Europäischen Union immer noch unzureichend als Gesellschaftsprozess untersuchten, vor allem wegen der Fixierung auf den deutschen Sonderweg und die nationale Geschichte bis 1945 und wegen der Neigung zwischen Nationen. Die Präferenz für strukturelle und wirtschaftliche Erklärungen, die damit einhergegangen sei, könne die Geschichte der europäischen Integration nicht erklären, vor allem nicht die damit verbundenen Kommunikations- und Aushandlungsprozesse. Er schlug dagegen für eine Gesellschaftsgeschichte der Europäischen Union drei Konzepte vor, die alle Interaktionen in das Zentrum stellen: (1) die Europäisierung, die Ausrichtung des nationalen Regierens an europäischen Regeln und Normen, die wachsende Handlungsmacht der Europäischen Union und ihre unterschiedliche Wirkung; (2) transnationale Netzwerkanalysen, die nicht nur elitenorientiert sind und Erfahrungsräume untersuchen und (3) die europäische Integration als Analyse der Geschichte von Kommunikations- und Transferräumen. Er warnte gleichzeitig vor drei Gefahren: vor anti-etatistische Einstellungen und vor der Vorstellung eines Gegensatzes zwischen Staat bzw. Europäischer Union und Gesellschaft bzw. Zivilgesellschaft; vor der Unterschätzung der Gefahr der ethnischen oder religiösen Aufladung europäischer Identität und vor der Schwierigkeit der Trennung von europäischen und globalen Trends.

Leo Lucassen (Universität Amsterdam) befasste sich in seinem Beitrag über die Geschichte der Migration vor allem mit Ethnizität. Er diskutierte das Argument, dass die Migration in der jüngeren Geschichte in Europa durch einen Niedergang der Assimilation und durch eine Verstärkung der Ethnizität von Migranten gekennzeichnet war. Lucassen kritisierte diese Interpretation am Beispiel der Heiratskreise. Er zeigte, dass die Heiraten mit nichteuropäischen Immigranten in den verschiedenen europäischen Ländern sehr unterschiedlich waren und die Mischehen für manche Immigrantengruppen in Großbritannien, den Niederlanden und Frankreich sehr hoch waren. Die höchste Zahl von Mischehen waren bei Immigranten zu finden, die aus früheren Kolonien kamen, einen christlichen Hintergrund besaßen und die gleiche Sprache sprachen wie die europäische Zuwanderergesellschaft. In seiner Interpretation war in Europa die Religion das Haupthindernis von Mischehen. Demgegenüber sei in den USA die Hautfarbe wichtiger.

Georg Kreis (Universität Basel) behandelte den engen Zusammenhang zwischen europäischer Integration und der Dekolonisierung. In den Beziehungen zwischen europäischen Staaten und ihren früheren Kolonien habe die EWG im Kalten Krieg eine ambivalente Rolle eingenommen. Während die Kolonien für die Erinnerungskultur und die Geschichtsschreibung in Europa wichtig geblieben seien, hätten sie viele Europäer nach der Lösung aus der Kolonialherrschaft weitgehend vergessen. Auch sei es zu einer mentalen Abgrenzung Europas gegenüber den Bewohnern Afrikas und Asiens und zu einer Intoleranz gegenüber Nicht-Europäern gekommen.

Michael Bommes (Universität Osnabrück) diskutiert in seinem Kommentar vor allem die europäische Immigrationspolitik, die Ambivalenz einer selektiven Immigrationspolitik mit den von Lucassen untersuchten Migranten und – damit verbunden – die hohe illegale Einwanderung, die freilich ähnlich übersehen wird wie die koloniale Vergangenheit.

Detlev Siegfried (Universität Kopenhagen) behandelte die Verbraucherpolitik in der Europäischen Union, die Entwicklung des Verbraucherschutzes und die Heterogenität des nationalen gesetzlichen Verbraucherschutzes. In Frankreich wurde der Verbraucher eher als politischer Akteur, in Deutschland und Großbritannien eher als ökonomischer Akteur gesehen, dessen Information gesichert werden musste. In Skandinavien galten Konsumenten demgegenüber vor allem als Interessengruppe, die mit dem Staat verhandelte. Die EG entwickelte seit den frühen 1970er Jahren eine eigene Verbraucherpolitik, löste sie von der Agrarpolitik, arbeitete eng mit Verbraucherverbänden zusammen und legte im Maastricht-Vertrag einen Verbraucherschutz fest. Dies entsprach der Herausbildung eines aktiven kritischen, selbstbewussten Konsumenten, der selbstbestimmt konsumiert und durch Verbraucherzeitschriften wie Verbraucherinitiativen seit den sechziger Jahren unterstützt wird. Daraus resultiert eine nicht normative Verbrauchererziehung zu einem aktiven Konsumenten. Erst durch die Entstehung dieses aktiven Konsumenten und den Druck der Verbraucher- und Umweltverbände konnte der europäische Verbraucherschutz entstehen.

Klaus Eder (Humboldt-Universität zu Berlin) rekonstruierte die Emergenz der europäischen Öffentlichkeit, die Entstehung einer europäischen Semantik mit ihren Akteuren und ihrer Praxis und die Gemeinsamkeiten in den Mediendiskursen der letzten Jahrzehnte. Er unterschied zwischen Inhaltsanalyse und einer „Claimanalyse“, bei der ganze Sätze und Absätze nach Begründung, Adressat und Träger in einer Erzählung analysiert und dabei auch Netzwerke zwischen Akteuren der Öffentlichkeit verfolgt werden. Als Ergebnis seiner Forschungen stellte er heraus, dass dieselben Themen zur gleichen Zeit in unterschiedlichen nationalen Öffentlichkeiten in der Qualitätspresse häufig, in der Massenpresse dagegen wenig behandelt worden sind. Die Analyse der Rechtfertigung der europäischen Interpretation in deutschen und französischen Medien zeigt, dass sie primär aus dem guten Funktionieren der EU begründet wird, viel seltener aus Rechtsansprüchen und aus Werten. Auf der Akteursebene unterschied er zwischen zwei Öffentlichkeiten: einer Öffentlichkeit wie der Konventsöffentlichkeit zur Ausarbeitung einer europäischen Verfassung, also eine eingeladene Öffentlichkeit einerseits und eine andere, gegenläufige, populäre, „von unten“ wirkende Öffentlichkeit andererseits. Entscheidend für die europäische Öffentlichkeit ist für ihn nicht die Zahl, sondern die Bedeutung der Akteure.

Stephan Leibfried (Universität Bremen) befasste sich mit der Zukunft des sozialen Europa. Er erläuterte zunächst die Einrichtung der nationalen föderalen Wohlfahrtsstaaten, die oft mit Umgehungsstrategien entwickelt wurden. Dabei wurden drei Strategien gewählt: (1) das Patchwork der USA und Kanadas, mit ganz anderen Kompetenzen des Bundes; (2) die Übertragung der Verantwortung für soziale Sicherheit an die Privatwirtschaft durch staatliche Regelungen, wie vor allem in der Schweiz und Australien und (3) der panafrikanische Weg des Parafiskus (Sozialversicherungen), der eigene Einnahmen und Ausgaben zuließ. Leibfried übertrug diese Forschungsergebnisse auf die EU-Ebene. Er argumentierte, dass der nationale Sozialstaat bei der Gründung der EWG – im Gegensatz zu den Föderalstaaten – bereits entwickelt war und daher nur eine Minderheit der Europäer einen europäischen Sozialstaat wünsche. Darüber hinaus sind die nationalen Sozialstaaten so unterschiedlich und politisch so stark verankert, dass sie schwer veränderbar sind. Leibfried ordnete die EU als einen Extremfall des Föderalismus ein, bei dem die obere Ebene extrem stark von den unteren Ebenen abhängt. Gleichzeitig verfüge die EU heute über mehr Sozialkompetenz als die Vereinigten Staaten vor Roosevelt. Diese Kompetenz ist freilich sehr schwer veränderbar, baut extrem stark auf der Rechtssprechung auf und ist besonders stark mit der Schaffung des Binnenmarkts verbunden. Die EU unterwanderte die fehlenden Kompetenzen und schuf Elemente eines sozialen Europa, das sich derzeit aber in einer Krise befinde. In dieser Situation kann die EU von den Umgehungsstrategien der Föderalstaaten lernen. Dabei verspricht die Patchwork-Strategie wenig Erfolg, höchstens in der Frage einer Rückversicherung für besonders dramatische Arbeitslosigkeit. Dem Parafiskus als Umgehungsstrategie gibt Leibfried ebenfalls nur geringe Chancen. Am aussichtsreichsten hält er demgegenüber den regulativen Weg, da diese Regelungen mit Mehrheitsentscheidungen getroffen werden können. Der regulative Weg betrifft das Budget nicht und kann mit der offenen Methode der Regulierung vorbereitet und auch in starkem Maße vom Europäischen Gerichtshof beeinflusst werden.

Bernd Schulte (Max-Planck-Institut für ausländisches und internationales Privatrecht, München) befasste sich mit der Entwicklung der Sozialpolitik der EU und ihrer Vorläufer. Er betonte zwar die Priorität der Schaffung eines Wirtschaftsmarkts in der EWG und EU, stellte aber auch heraus, dass es daneben immer sozialrechtliche Elemente gab. Er belegt diese These schon mit den ersten Verordnungen der EWG (Wanderarbeiter), die freilich noch der EU-Wirtschaftspolitik angegliedert waren. Auch in der zweiten Phase der EU-Sozialpolitik blieb von hoffnungsvollen Planungen nur das Arbeitsschutzrecht übrig, allerdings auch die wichtige Rechtssprechung der EWG. Erst in der dritten Phase ab 1989, beginnend mit der Charta der Arbeitnehmer 1989 und mit Konvergenzempfehlungen des Rats 1992, sei das Eigengewicht der Sozialpolitik in der Gemeinschaft gewachsen. In der vierten Phase, mit der Unterzeichnung des Vertrages von Amsterdam 1999, wurde die EU eine Sozialgemeinschaft. Eine fünfte Phase sieht Schulte seit dem Beitritt der ostmitteleuropäischen und osteuropäischen Länder, als sich das Sozialrecht zunehmend von der europäischen Wirtschaftsintegration und den minimalen Solidaritätsprojekten gelöst habe. Er akzentuierte auch die Bedeutung der sozialen Grundrechte in der Verfassung und bestritt, dass die EU nur als ein rein neoliberales Projekt verstanden werden könne. Schulte diagnostizierte allerdings wie Leibfried eine Wende zur regulativen Sozialpolitik, die viel stärker mit EU-Recht verbunden ist als die klassische Gewährleistungspolitik. Die kontinuierliche Verstärkung des EU-Sozialrechts, das an eine soziale Unionsbürgerschaft heranreichte, wurde in besonders starkem Maß vom Europäischen Gerichtshof vorangetrieben. Er sieht die Zukunft des Sozialrechts vor allem in einer erweiterten Partizipation der Bürger.

Bela Tomka (Universität Szeged) betonte wie die Vorredner die stark wachsende regulative Rolle der EU, aber auch die Zunahme der Budgetmittel im Sozialfonds, die freilich gegenüber den nationalen Sozialausgaben gering geblieben seien. Ein wesentliches Kennzeichen ist für ihn die Konvergenz der europäischen Sozialstaaten. Tomka fragte, wie sich der Beitritt der ostmitteleuropäischen Länder auf diese Konvergenz ausgewirkt hat und welches Sozialmodell diese Länder nach 1989/90 gewählt haben. Er stellte ähnliche Einstellungen gegenüber sozialer Sicherheit wie in den westeuropäischen Ländern fest, bedingt durch die Sozialpolitik des späten 19. Jahrhunderts, aber auch der kommunistischen Ära. Demgegenüber bestritt Tomka eine dauerhafte Ausrichtung der ostmitteleuropäischen Regierungen auf das neoliberale Modell, unter anderem weil der Einfluss der Weltbank in den neunziger Jahren sank. Daraus entstand eine Spannung zwischen dem Ziel der Europäischen Union, ein europäisches Sozialrecht einzuführen, und der Passivität der EU gegenüber der Sozialpolitik der neuen Mitgliedsländer. Er sah allerdings insgesamt einen Widerspruch zwischen den hohen Erwartungen der Bevölkerungen an den Wohlfahrtsstaat und der Sozialpolitik der Regierungen, da die Zivilgesellschaft zu schwach ist, um die Erwartungen der Bevölkerungen auszudrücken und sich daraus die wiederholten sozialpolitischen Kurswechsel der ostmitteleuropäischen Regierungen erklärten.

Werner Bührer (TU München) behandelte die Rolle der Unternehmer bei der Entstehung des gelebten Europa und die europäischen Netzwerke der Unternehmer nach dem Zweiten Weltkrieg. Sie trafen auf andere Bedingungen als zuvor, da Europa als Ersatz für den diskreditierten Nationalstaat angesehen wurde und stabile europäische Institutionen entstanden. Bührer kennzeichnete den Einfluss der Unternehmer auf die europäische Integration als schwach und reaktiv. Die transnationalen Netzwerke untersuchte er am Beispiel der französisch-deutschen Verbindungen, die sich seit dem späten 19. Jahrhundert herausgebildet hatten, auch während der Besatzungszeit aufrecht erhalten wurden und sich nach dem Zweiten Weltkrieg bald wieder intensivierten. Allerdings ist wenig erforscht worden, ob diese Kontakte das europäische Selbstverständnis unter Unternehmen verstärkten. Die Europavorstellungen der Unternehmer waren generell eher intergouvernemental, tendenziell nationalstaatlich und retardierend. Demgegenüber setzten sich die Spitzenverbände für ein neoliberales, integriertes Europa ein.

Rolf Petri (Universität Venedig) verfolgte die Frage, wie sich die EU-Regionalpolitik auf die Regionen auswirkte. Er vertrat die These, dass die Regionalpolitik der Europäischen Union beträchtliche Auswirkungen auf das Selbstverständnis der Regionen hatte, vor allem in Ländern mit starken Regionalbewegungen. Allerdings führte das nicht zu mehr Kompetenzen der Regionen, sondern nur zu regionalen Plattformen der europäischen Politik. Es ist dabei sehr schwer, diese Wirkung der EU von anderen Faktoren zu trennen, die regionale Identitäten stärkten. Er stellte in der regionalen Rhetorik wirkungsmächtige, in die Zeit vor den Zweiten Weltkrieg zurückreichende Kontinuitäten fest, in die zu Europa passende Symbole und Versatzstücke eingefügt wurden.

Anne-Marie Autissier (Universität Paris VIII) stellte die Repräsentationen Europas in der Kultur (im engeren Sinn der Künste) vor. Sie betonte, dass die Kompetenz der Europäischen Union in der Kultur gegenüber den Nationalstaaten sehr gering sei. Zudem sei kaum zu entscheiden, wo die geographischen Grenzen der europäischen Kunst liegen, vor allem weil diese einen globalen Anspruch erhebt. Hauptakteur der europäischen Kulturpolitik war seit den fünfziger Jahren der Europarat mit seiner Politik des europäischen Kulturerbes gewesen. Seit 1992 hat sich auch die Europäische Union mit ihrer Filmpolitik der Stärkung des europäischen Films gegenüber dem amerikanischen Film, der Erhaltung des europäischen Kulturerbes („Kulturhauptstadt Europas“) und mit ihrer Konvention der kulturellen Vielfalt in Zusammenarbeit mit der UNESCO profiliert. Autissier interpretierte die Politik der Europäischen Union als Mischung zwischen pragmatischen ökonomischen und idealistischen Elementen. Sie argumentierte, dass die geringe Sichtbarkeit der Europäischen Union eine Chance ist, da sie Kooperationen erleichtert. Die Vortragende sah die Chancen der europäischen Kulturpolitik nicht in einer Identitätspolitik, sondern in der Übersetzung zwischen Kulturen.

Am Ende zog Hartmut Kaelble (Berliner Kolleg für Vergleichende Geschichte Europas) eine Bilanz der Konferenz. Insgesamt erbrachte die Tagung aufschlussreiche Ergebnisse und einen klärenden Überblick zu den beiden Grundfragen, zu den Folgen der europäischen Integration auf Gesellschaft und Kultur und umgekehrt zur Wirkung der Gesellschaft auf die europäische Integration. Zur Wirkung der europäischen Integration auf Gesellschaft und Kultur wurden auf der Tagung zwei unterschiedliche Positionen vertreten. Bo Stråth strich eher eine fehlende Wirkung heraus, ein zu schwaches soziales Europa und eine zu starke Konzentration der Europäischen Union auf den Aufbau eines europäischen Wirtschaftsmarkts heraus. Ähnlich beklagte Klaus Eder das Fehlen einer kritischen Öffentlichkeit, die Dominanz der eingeladenen, kontrollierten europäischen Öffentlichkeit und die Schwäche der opponierenden populären Öffentlichkeit. Auch Anne-Marie Autissier sah in der Kulturpolitik der Europäischen Union nur wenig Wirkung. Jan Lucassen ging auf die europäische Migrationspolitik nicht einmal ein, hielt sie offensichtlich nicht für erwähnenswert. Andere Beiträge der Tagung betonten dagegen die massive Wirkung der Europäischen Union auf Gesellschaft und Politik. Wolfgang Kaiser akzentuierte die Europäisierung der nationalen Politiken und die Rolle von Netzwerken. Georg Kreis strich die Rolle der Europäischen Union in der Entstehung des Neokolonialismus und Rolf Petri das Gewicht der Europäischen Union für das politische Selbstverständnis der europäischen Regionen heraus. Stephan Leibfried und Bernd Schulte betonten die relativ starken sozialpolitischen Kompetenzen der Europäischen Union. Ebenso war nach Bela Tomka zwar die direkte Einflussnahme der Europäischen Union auf die ostmitteleuropäischen Sozialstaaten in den neunziger Jahren gering, aber die Attraktivität des westeuropäischen Wohlfahrtsstaatsmodells nicht zu unterschätzen. Überdies wurde die Wirkung von Gesellschaft und Kultur auf die Politik der Europäischen Union unterschiedlich eingeschätzt. Wolfgang Kaiser stellte eine starke Wirkung von Netzwerken auf die europäische Politik im Allgemeinen und Detlev Siegfried einen starken Einfluss sozialer Bewegungen auf die Konsumpolitik der Europäischen Union fest. Werner Bührer kennzeichnete demgegenüber die Unternehmer – im Unterschied zu den Unternehmerverbänden – als eher desinteressiert an europäischer Politik. Klaus Eder nahm in seinem Vortrag kaum auf den Einfluss der europäischen Öffentlichkeit auf die Politik der Europäischen Union Bezug. Insgesamt zeigte die Tagung, dass die ihr zu Grunde liegenden Fragen sehr unterschiedlich beantwortet werden. Die europäische Integration wurde teils als ein Prozess kontinuierlich zunehmender Europäisierung gedeutet, teils aber auch als eine Geschichte nicht realisierter Pläne und der enttäuschter Hoffnungen interpretiert. Sie wurde einerseits als Ergebnis eines relativ abgeschlossenen Eliteprojekts, andererseits aber auch als ein offenes, von außen beeinflussbares Projekt gesehen. Diese Themen bleiben auf der Tagesordnung der Historiker.

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27.07.2007
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