Die Selbst- und Fremdwahrnehmung des Militärs in Deutschland und Frankreich stand im Zentrum der vierten deutsch-französischen Tagung für Militärgeschichte, die das Centre d’Études d’Histoire de la Défense (CEHD) und das Militärgeschichtliche Forschungsamt (MGFA) Potsdam in Zusammenarbeit mit dem Deutschen Historischen Institut Paris (DHIP) am 25. Mai 2007 in Paris organisiert hatten.
Nach der Begrüßung durch den stellvertretenden Direktor des DHIP, Stefan MARTENS, und einer Einführung in die Thematik durch Jean-Christophe ROMER, Direktor des CEHD, eröffnete Wencke METELING (Marburg) die Tagung mit einem Vortrag zur Ideologie deutscher und französischer Regimenter zwischen 1870 und 1920. In einem ersten Abschnitt diskutierte sie zunächst die Funktion der Regimentsideologien. Der Esprit de corps diente einerseits der Stabilisierung des Regiments nach innen, andererseits aber auch der Legitimierung nach außen sowie insbesondere der Popularisierung der Armee gegenüber der Zivilbevölkerung. Regimentsgeschichten, Regimentsfeiertage und Fahnenkult dienten als gute Beispiele für die Selbstinszenierung der Regimenter. Im zweiten Teil ging die Referentin auf das „aristokratische Ideal des heldenhaften Offiziers“ ein. Obwohl übertriebenes Heldentum bereits nach 1870 seine Existenzgrundlage verloren habe, sei der Heldenmythos in den Offizierskorps beider Länder weiter aufrechterhalten worden, bis er schließlich unter dem Eindruck der Erfahrungen im Ersten Weltkrieg förmlich ausgelöscht worden sei. In methodischer Hinsicht plädierte Meteling für einen integrativen Ansatz der Militärgeschichte: Die Betrachtung der Regimentsebene erlaube es, den Blick „von oben“ mit der Sicht „von unten“ zu kombinieren.
Thomas LINDEMANN (Bordeaux) sprach im Anschluss über die Ehrvorstellungen deutscher Militärs zu Beginn des 20. Jahrhunderts. An den deutschen Reaktionen auf das Attentat von Sarajevo im Jahr 1914 verdeutlichte er, dass deutsche Vorstellungen von nationaler Identität und militärischer Ehre für den Ausbruch des Ersten Weltkrieges von großer Bedeutung waren. Die militarisierte wilhelminische Gesellschaft habe, wie er am Beispiel des jungen Grafen Moltke vor Augen führte, in dem Attentat auf den Thronfolger eine Verletzung der deutschen Ehre gesehen, die allein durch einen Krieg wiederherzustellen sei. Für die deutsche Selbstwahrnehmung sei das Attentat eine nationale Herausforderung gewesen, während die großen Mächte England und Frankreich die Explosivität dieser Frage unterschätzt hätten. Die Ursachen des Krieges lagen laut Lindemann letztlich nicht so sehr in macht- oder geopolitischen Interessenkonflikten als vielmehr in der Selbst- und Fremdwahrnehmung der Mächte.
Thomas VOGEL (Potsdam) schilderte das Bild der Wehrmacht im Zweiten Weltkrieg aus der Sicht des deutschen Reserveoffiziers Wilm Hosenfeld. Der während des Krieges in Warschau stationierte Besatzungsoffizier Hosenfeld hinterließ ein Tagebuch und zahlreiche Briefe an seine Familie, die erst Ende der 1990er-Jahre zugänglich gemacht wurden und seitdem eine wichtige Quelle für das Verständnis der deutschen Wehrmacht darstellen. Diese Texte öffnen den Blick für die innere Verfassung der Wehrmacht. Sie geben Auskunft über Mentalität und Motivation von Mannschaften wie Offizieren, ihre politische Einstellung sowie Formen von Luxus und Korruption. Darüber hinaus erlauben die gewonnenen Erkenntnisse, die wesentlich durch die regimekritische Haltung Hosenfelds bestimmt werden, Einblicke in den Spielraum oppositionellen Handelns innerhalb der Wehrmacht unter den Bedingungen der NS-Diktatur. Dass diese Regimekritik sich in erster Linie an den Verbrechen der SS festmacht, während die Wehrmacht auch bei Wilm Hosenfeld relativ unschuldig davonkommt, wurde in der anschließenden Diskussion aufgegriffen. Insbesondere die strikte Trennung zwischen „sauberer“ Wehrmacht und „verbrecherischer“ SS könne, so der Tenor, heutzutage nicht mehr aufrechterhalten werden.
Am Nachmittag stand im zweiten Teil des Kolloquiums weniger die Vergangenheit als die aktuelle Situation des Militärs in Frankreich und Deutschland im Vordergrund. So verglich zunächst Florence GAUZY-KRIEGER (München) die Reformen des Militärs in Deutschland und Frankreich in den 1990er-Jahren, die Rückschlüsse auf das Selbstbild erlaubten. Während Deutschland bis zum heutigen Tag an der allgemeinen Wehrpflicht festhält und der Wandel zu einer Interventionsarmee nur langsam in Gang kommt, fand in Frankreich zwischen 1996 und 2002 die Umwandlung des Heeres in eine reine Berufsarmee statt. Die Gründe hierfür sind laut Gauzy-Krieger vielfältig: In Frankreich gebe es eine Tradition militärischer Interventionen, während die Bundeswehr in ihrem Selbstverständnis defensiv orientiert sei. Die deutsche Gesellschaft und Politik zeige sich aus naheliegenden historischen Gründen dem Militär gegenüber eher reserviert und bevorzuge diplomatische Konfliktlösungen. Darüber hinaus stellte Gauzy-Krieger die zentrale Durchführung militärischer Reformen in Frankreich das komplizierte parlamentarische Verfahren in der Bundesrepublik gegenüber. In der Diskussion wurde mit der Frage nach einem Armeeeinsatz zur Terrorbekämpfung im Inneren eine aktuelle deutsche Debatte wieder aufgegriffen. Die deutsch-französische Zusammenarbeit im militärischen Bereich war hier wie im folgenden Beitrag ein Thema.
Christophe PAJON (Salon-de-Provence) untersuchte die Selbst- und Fremdwahrnehmung in der deutschen und französischen Armee. Er stützte sich dabei auf eine Befragung von zahlreichen Verantwortlichen französisch-deutscher Militärstrukturen, die im Jahr 2005 vom Sozialwissenschaftlichen Institut der Bundeswehr unter Beteiligung von Forschern beider Länder durchgeführt worden war. Er schilderte, wie die Wahrnehmung von Unterschieden, etwa verschiedener Kommandostile und Arbeitsweisen, zu erheblichen Verständnisschwierigkeiten und Problemen in der deutsch-französischen Zusammenarbeit führen könne. Allerdings hätten sich mittlerweile Regeln der Zusammenarbeit zwischen den Partnern entwickelt, bei der man von einer regelrechten „Metakooperation“ sprechen kann. Ob sich diese engen Bindungen auch in Zukunft erhalten lassen, war aber sowohl für die Befragten der Studie als auch für die Diskussionsteilnehmer zweifelhaft, da die Tendenz von einer bilateralen zu einer multilateralen Verteidigungspolitik gehe.
In ihrer abschließenden Zusammenfassung hoben die beiden Organisatoren, Stefan MARTENS (DHIP) und Jörg ECHTERNKAMP (Potsdam) als Ergebnis der Tagung drei zentrale Themenkomplexe hervor: Erstens das Verhältnis zwischen Politik und Militär sowie die Frage des Primats, der sich in jüngerer Zeit immer stärker in Richtung Politik verschoben habe; zweitens die zeitlichen Dimension, das heißt Kontinuität und Wandel von Selbst- und Fremdwahrnehmungen, vom 19. zum 20. Jahrhundert und ihrer handlungsleitenden Bedeutung; und drittens den Wechsel der Untersuchungsebenen, von der Mikroebene zur Makroebene.
Die Tagung, die im Vorjahr zum ersten Male als öffentliche Veranstaltung organisiert worden war, stieß auch in diesem Jahr wieder auf großes Interesse. Viele der Zuhörer nutzten die Möglichkeit zum Meinungsaustausch. Die große Resonanz und die Fruchtbarkeit des Themas lassen auf eine Fortsetzung im kommenden Jahr hoffen. Die Beiträge werden, wie schon in den vergangenen Jahren, als eigenes Heft im Rahmen der Cahiers du CEHD veröffentlicht.