Transkulturalität, Migration, Mobilität auf der einen – Familien und Verwandtschaftsverbände in ihrer Interaktion mit den Individuen und den gesellschaftlichen und politischen Strukturen auf der anderen Seite: Diese beiden aktuellen Fragestellungen standen im Zentrum des Workshops zu „transregionalen und transnationalen Familien“, welcher vom 25. bis zum 27. Jänner in Washington, DC am German Historical Institute tagte. Vorarbeiten hierzu hatten bei der European Social Science History Conference in Amsterdam 2006 stattgefunden, wo sich eine Reihe von Sektionen der Frage nach der Dynamik und Interaktion von Familienverbänden, die über weite geographische Räume verstreut agierten, gewidmet hatte.
Die aktuell diskutierten Themen „Transkulturalität“, „Migration“, „Mobilität“ sollten in langer zeitlicher Perspektive bis ins Mittelalter zurückverfolgt und die These in Frage gestellt werden, wonach Mobilität und Migration Phänomene der Moderne seien. Ein erstes Ergebnis der Beiträge in Amsterdam war, dass Europa seit jeher durch „Transnationalität“ gekennzeichnet war; Individuen überwanden große räumliche Distanzen lange ehe Nationen überhaupt entstanden. Zudem galt es aufzuzeigen, welche Rolle Familien bei diesen Migrationsbewegungen der Individuen spielten. Damit sollte eine zweite lieb gewonnene „Erzählung“ gekippt werden, nach der die Kleinfamilie in der modernisierten Welt die alten Verwandtschaftsstrukturen ablöste – die westliche europäische Moderne war fortan mit der Kleinfamilie verbunden, während Verwandtschaft zusehends Gegenstand der Anthropologie und der Untersuchung außereuropäischer Kulturen wurde.
Die Heterogenität der Amsterdamer Beiträge veranlasste David Sabean, Simon Teuscher, Jon Mathieu, Francesca Trivellato und Christopher Johnson zu einem Folgeworkshop in Washington zu laden, vor allem in Hinblick auf die gemeinsame Publikation, die bereits in Amsterdam angestrebt worden war. Dabei sollten einerseits die „alten“ Beiträge um Diskussionen und Rückmeldungen erweitert nochmals präsentiert und vertieft werden; zudem wurden gezielt zusätzliche Referent/innen eingeladen, um den Horizont der Betrachtung zu erweitern.
Zur Fokussierung legte das Organisationsteam ein dreizehnseitiges Call for paper vor, das die Analyse der Fallbeispiele anhand einer Reihe von Fragestellungen anleiten sollte. Nur so scheint es überhaupt denkbar, ein derart komplexes Phänomen in den Blick zu bekommen und eine komparative Studie anhand von Einzelbeispielen zu leisten. Drei Bereiche dienten zur systematischen Strukturierung der Analyse: 1) Die Frage nach Autoritätsstrukturen, Hierarchie und Macht in den betrachteten Familien und Verwandtschaftsgruppen; 2) Nachfolge und Erbe, die Zirkulation des Eigentums sowie die Formen der Zusammenarbeit in der Familie; 3) eine systematische und strukturelle Analyse der Familien und Verwandtschaftsgruppen, mit denen die Einzelanalysen befasst waren.
Sowohl „Familie“ als auch „Transnationalität und Transregionalität“ wurden dabei als bewusst zu hinterfragende Untersuchungskategorien verwendet, wohl wissend, dass die Begriffe historisch und regional unterschiedlich zu definieren sind. Komparative Analysen über weite historische Zeiträume müssen sich jedoch zumindest im Vorfeld der Fragestellung auf Begriffe einigen, die gewissermaßen als „Variable“ fungieren können, um eine Diskussion in Gang zu bringen und einen Vergleich zu ermöglichen.
Dass diese Herangehensweise mehr als fruchtbar war, zeigte sich beim Workshop in Washington. Die Tagung fand als Arbeitklausur ohne Publikum statt. Die Referate wurden auf ein Minimum von 15 Minuten beschränkt – die ausgearbeiteten schriftlichen Versionen waren bereits im Vorfeld unter allen Teilnehmer/innen zirkuliert, um einer breiten Diskussion von etwa 40 Minuten Raum zu geben.
Der Aufbau des Workshops erfolgte chronologisch: Am Freitag referierte GABRIEL PITERBURG (UCLA) zu den politischen Haushalten der Osmanen und den Netzwerken der Eliten. CHRISTINA ANTENHOFER (Universität Innsbruck) setzte fort mit der Analyse der Gonzaga Familiennetzwerke im 15. Jahrhundert, die deren Aufstieg von „lokalen“ signori zu Mitgliedern des europäischen Hochadels bedingten. UWE ISRAEL (Deutsches Studienzentrum in Venedig) lieferte einen Beitrag zu den deutsch-italienischen Druckerfamilien im spätmittelalterlichen Venedig. Die Vormittagssektion schloss mit SIMON TEUSCHERs (Universität Zürich) Beitrag zur – oft unterschätzten – Mobilität in Patrizierkreisen um 1500.
Am Nachmittag eröffnete MICHAELA HOHKAMP (Freie Universität Berlin) mit einer Untersuchung der Verwandtschaftsdynamik in Herrscherfamilien am Beginn der Neuzeit, wobei sie insbesondere die Rolle der Tanten („Schwesterfrau“) hervorhob. RUKHSANA QAMBER (Quaid-i-Azam University) überschritt mit ihrem Beitrag zu transatlantischen muslimischen Migrantinnen (1492) den europäischen Horizont und warf Schlaglichter auf in den Quellen ansonsten kaum fassbare Migrationsphänomene. FRANCESCA TRIVELLATO (Yale University) beschloss den ersten Tag mit einem Ausblick auf transregionale sephardische Familien und deren Wirtschaftsunternehmen im Mittelmeerraum (17. bis 18. Jahrhundert).
Hier wie bereits bei den Beiträgen der gesamten Mittelalter- und Frühneuzeitsektion wurde deutlich, dass Mobilität und Migration in keinster Weise Phänomene der Neuzeit sind: Migration fand sowohl auf der Ebene der Eliten als auch auf jener von Sklavinnen und Dienerinnen statt und sah Frauen wie Männer als „dynamische Faktoren“, die von ihren Familien zum Teil sehr gezielt im Aufbau weit verzweigter Netzwerke eingesetzt wurden. Das Kapital, das mit ihnen zirkulierte, war ebenso vielfältig, konnte etwa die Form von „Blut“, von politischen Bündnissen, Geld oder handwerklichem Know-How annehmen. Ebenso wurde deutlich, dass das Konzept der Familie und Verwandtschaft nicht mit Blutsverwandtschaft gleichgesetzt werden kann.
Am Samstag stellte JONATHAN SPANGLER (University of Gloucestershire) Familien zwischen Nationen in das Zentrum seines Vortrags, deren „Transnationalität“ nicht durch Migration gegeben war, sondern durch die Tatsache, dass ihr Besitz in Folge der Nationenbildung von einer Grenze durchschnitten wurde. GISELA METTELE (German Historical Institute/University of Leicester) sprengte mit ihrer Untersuchung der Herrnhuter als „internationaler Gefolgschaft von Brüdern und Schwestern“ das Konzept einer durch Blutsbande begründeten Familienvorstellung endgültig und bediente zu Recht das Bild einer „spirituellen“ Verwandtschaft. CHRISTOPHER JOHNSON (Wayne State University) konzentrierte sich anschließend auf bretonische Bürgerfamilien und deren transregionale Netzwerke zwischen Paris und der Bretagne (1750-1890). CHRISTINE PHILLIOU (Columbia University) untersuchte phanariotische Familiennetzwerke vor der griechischen Revolution 1821 und deren Rekonfigurierung danach.
Die Nachmittagssitzung eröffnete DAVID SABEAN (UCLA) mit einer Untersuchung der Unternehmerfamilie Siemens und ihren transnationalen Netzwerken im 19 Jahrhundert. MARY CHAMBERLAIN (Oxford Brookes University) brachte wiederum die außereuropäische Perspektive herein mit ihrem Blick auf die Kultur der karibischen Migration nach Großbritannien in den 1950ern. Den Bogen zur Gegenwart spannte VIVIAN BERGHAHN (The CUNY Graduate Center) in ihrem Projektentwurf zur Analyse deutscher Business Eliten in New York.
Am Sonntag setzte JOSE MOYA (UCLA) zu einer Gesamtperspektive auf die Migration an, indem er „internationale“ Familien von deren Entstehung bis hin zur ihrem immer massenhafteren Auftreten in den Blick nahm (wobei er nicht unumstritten einen deutlichen Quantensprung in der Neuzeit sah). DOROTHEE WIERLING (Institut für Zeitgeschichte Hamburg) bot Einblick in ein aktuelles Forschungsprojekt zu transnationalen Hamburger „Kaffee“familien. Die Sitzung beschloss STÉPHANIE LATTE ABDALLAH (IREMAM/CNRS) mit einer Analyse zu Familienideologie und Netzwerken in palästinensischen Flüchtlingscamps in Jordanien seit 1948.
Die folgende Abschlussdiskussion zeigte ebenso wie die intensiven Diskussionen zu allen Einzelbeiträgen, dass die Fragestellung ein großes Potential in sich birgt und gleichzeitig ein Fülle neuer Fragen eröffnet, die weitere komparative Studien notwendig machen. Fest steht, dass alte Vorstellungen eines statischen Mittelalters oder eines auf die Kleinfamilie reduzierten modernen Staates endgültig verabschiedet werden müssen. Ebenso wie die Schlagworte der Mobilität und Transkulturalität getrost auch für andere historische Epochen angewendet werden dürfen und keine „Eigenheit“ der Moderne darstellen. Zweifelsohne haben sich die Zahlenverhältnisse geändert – aber auch hier gilt es keine vorschnellen Schlüsse zu ziehen, da auch die explosionsartige Zunahme der Bevölkerung in Rechnung gestellt werden muss.
Europa erweist sich als seit jeher von „Transnationalität und Transregionalität“ gekennzeichnete Region, Familien- und Verwandtschaftsgruppen als „Liebes“- und „Zwangs“gemeinschaften für die darin eingebundenen Individuen, die ihnen einerseits Rückhalt in der Fremde bieten, zum anderen aber auch aus familiären Interessen zur Migration zwingen. Letztlich zeigte sich außerdem das Fortbestehen verwandtschaftlicher Netzwerke, die geographische ebenso wie staatliche Grenzen überschreiten, Staat und Nation überwinden und manchmal regelrecht unterlaufen und bis zur Gegenwart tragende Säulen der internationalen Wirtschaft stellen.
Insgesamt war es ein dichter, überaus spannender Workshop, der insbesondere in seiner Arbeitsweise in die Zukunft geisteswissenschaftlicher Kooperation weist: Kleine, intensive Arbeitsworkshops als Basis komparativer Studien sind ein guter Weg, um komplexe Phänomene in den Blick zu nehmen und Geschichte in langer Perspektive und breiter geographischer Verankerung zu untersuchen. Die Ergebnisse des Workshops sollen zum Jahresende in Buchform vorliegen.
Kurzübersicht:
Friday, January 25
Introduction: David Sabean (UCLA)
Session One: David Sabean (UCLA)
Gabriel Piterburg (UCLA): Ottoman Political Households and Networks of Elites: Does Kinship Matter?
Christina Antenhofer (Universität Innsbruck): From local ‘signori’ to European High Nobility: The Gonzaga family networks in the 15th century.
Uwe Israel (Deutsches Studienzentrum in Venedig): German-Italian Families in Venice at the End of the Middle Ages
Simon Teuscher (Universität Zürich): Property Regimes and Migration among Patricians around 1500
Session Two: Christopher Johnson (Wayne State University)
Michaela Hohkamp (Freie Universität Berlin): Kinship Dynamics among Ruling Families at the Dawn of the Modern Era
Rukhsana Qamber (Quaid-i-Azam University): Family Matters: Post 1492 Transatlantic Muslim Migrants
Francesca Trivellato (Yale University): Diaspora, Marriage, and Dowry: Trans-regional Sephardic Families and Business Organization in the
Mediterranean (17th and 18th Centuries)
Saturday, January 26
Session Three: Simon Teuscher (Universität Zürich)
Jonathan Spangler (University of Gloucestershire): “Those in Between”—Life on the Margins of Great Powers
Gisela Mettele (German Historical Institute / University of Leicester): The Moravians as an International Fellowship of Brothers and Sisters
Christopher Johnson (Wayne State University): Into the World: Breton Bourgeois Families Make their Way in the Nation, 1750-1890
Christine Philliou (Columbia University): Phanariot Family Networks before the Greek Revolution of 1821 and their Post-Revolutionary Reconfiguration
Session Four: Francesca Trivellato (Yale University)
David Sabean (UCLA): Nineteenth Century German Families in Transnational Perspective
Mary Chamberlain (Oxford Brookes University): The Culture of Caribbean Migration to Britain in the 1950s
Vivian Berghahn (The CUNY Graduate Center): German Business Elites in New York: Corporate Governance, Capitalist Ideology, and Cultural Belonging
Sunday, January 27
Session Five: David Sabean (UCLA)
Jose Moya (UCLA): The Historical Emergence and Massification of International Families
Dorothee Wierling (Institut für Zeitgeschichte Hamburg): Transnational Coffee Families. Kinship and other networks of the Hamburg coffee trade
Stéphanie Latte Abdallah (IREMAM/CNRS): Exile, familial ideology and networks in Palestinian refugee camps in Jordan since 1948
General Discussion and Commentary