Auf dem Workshop „Die Schauplätze der deutschen Kolonialerfahrungen: Austausch, Transfer, Übertragungen 1850-1950“ trugen junge Forscher über verschiedenste Gebiete der deutschen kolonialen Erfahrungen vor und stellten dabei Phänomene des weltweiten Transfers und der Zirkulierung in den Vordergrund. So wurde nach transnationalen, transimperialen und globalen Zusammenhängen gefragt.
Mehrere Teilnehmer interessierten sich für heimgekehrte Kolonisten, die nach 1918 einen nicht zu unterschätzenden Einfluss auf rassistische Ideologien und koloniale Planungen der Weimarer und der NS-Zeit hatten. SWEN STEINBERG (Dresden) skizzierte den Lebensweg von Rudolf Böhmer, Bezirksamtmann, kolonialrevisionistischer Schriftsteller und später NS-Politiker. DÖRTE LERP (Rostock) untersuchte unter anderen die Karriere des Gouverneurs Friedrich von Lindequist, der aufgrund seiner praktischen Erfahrungen in Deutsch-Südwest von der Reichsregierung für siedlungspolitische Planungen in Polen engagiert wurde. Sie stellte die These auf, dass die Kolonialzeit die Sicht auf den Raum grundlegend verändert habe. Deutsch-Südwest wie auch Polen galten als "Grenzräume" des Kaiserreichs. In beiden Fällen wurde eine allgemeine Landenteignung der Bevölkerung gefordert, im Endeffekt wurde Land in Polen allerdings stets aufgekauft, um anschließend parzelliert, um an deutsche Siedler verpachtet zu werden.
OLIVER LORENZ (Münster) zeigte in seinem Vortrag über die Wanderausstellung „Das Sowjetparadies" von 1942 ebenfalls, dass die hier verwendete „Arbeitsfiktion des leeren Raums" sich an eine koloniale Argumentation anlehnte. In der nachfolgenden Diskussion bemerkte CHRISTINE DE GEMEAUX (Tours) allerdings, dass der Begriff des „leeren Raums" bzw. des „Lands ohne Leute" keine Schöpfung der Kolonialzeit oder der Weimarer Republik war, sondern schon im 18.Jahrhundert als „Terra nullus" bekannt war und auf der Berliner Konferenz 1884 wieder aufgenommen wurde. Außerdem wurde klargestellt, dass die Kolonisten sich durchaus bewusst waren, dass Afrika bzw. Osteuropa oder Russland keine menschenleeren Gebiete waren, in ihren Augen jedoch von einer Menschenkategorie zweiter Klasse bevölkert waren. Das Argument des leeren Raums war nur ein Aspekt eines kolonialen Diskurses, der noch lange nach 1918 fortlebte und auf Vorstellungen kultureller Überlegenheit und dem humanistischen Argument der materiellen und kulturellen Hebung von elendigen und rückständigen Völkern fußte.
Auch in ERIC ETTWEILERs (Straßburg) Vortrag über die Entstehungsgeschichte der Gesellschaft für Erdkunde und Kolonialwesen sowie in ISABELLE HEMONTs (Tours) Untersuchungen über deutsche Schulen im besetzten Elsass-Lothringen spielten der koloniale Diskurs und die Verherrlichung der Kolonialreiche eine wichtige Rolle. Diese beiden Beispiele des späten 19. Jahrhunderts sind auch insofern interessant, als sie zeigen, dass das koloniale Gedankengut nicht nur in Deutschland selbst und in den Schutzgebieten, sondern auch in anderen Gebieten deutscher Herrschaft, hier in Elsass-Lothringen, zirkulierte. Die Vorträge gaben somit auch eine erste Antwort auf die immer wieder gestellte Frage nach der Transimperialität, nach der Vernetzung der Schauplätze des deutschen Kolonialismus. Zum Beispiel standen in Afrika sowie auch im Elsass Bemühungen im Vordergrund, die einheimische Bevölkerung „zur Arbeit zu erziehen“, was als eine Art von Germanisierung verstanden wurde. In diesem Zusammenhang stellte CATHERINE REPUSSARD (Straßburg) klar, dass Germanisierung nicht mit der Verbreitung der deutschen Sprache verwechselt werden dürfe.
Ein zweiter Untersuchungsstrang fragte nach der Grenze zwischen formeller Kolonialherrschaft, informellem Imperialismus und Phänomenen von Massenmigrationen. MATTHIEU GOTTELAND (Paris I) untersuchte neben dem deutschen auch den österreichisch-ungarischen Einfluss in China bis zum Ende des Ersten Weltkrieges. OLIVIER BAISEZ (Paris IV) erklärte, dass die Zionisten in Palästina sich die Schutzgebiete zum Vorbild nahmen, dass sie zum Beispiel ähnliche Institutionen planten und dieselbe Argumentation anwandten: So sollte etwa ein Teil des Migrationsstroms, der vor allem nach Amerika verlief, nach Palästina umgeleitet werden. Um 1900 waren die deutschen Zionisten durchaus patriotisch gesinnt, ihre Pläne wurden von hohen Politikern des Reichs oft wohlwollend wahrgenommen und als Entlastung für den deutschen Kolonialismus angesehen, aber nie staatlich unterstützt.
Zentral waren auf der Tagung außerdem die Beziehungen zwischen verschiedenen Kolonialmächten, die sich auf ein- und demselben Territorium abwechselten oder aber benachbarte Gebiete beherrschten. Grundsätzlich war die Untersuchung von Dreiecksbeziehungen – Deutschland, andere Kolonialmächte, Kolonien oder andere Drittländer – eine Voraussetzung für die Teilnahme an der Tagung. AUDE CHANSON (Paris 10) beschrieb die Lage der deutschen Missionare unter der britischen Herrschaft in Tanganyika; YUKO MAEZAWA (Bayreuth) und FRANK JACOB (Düsseldorf) skizzierten die gegenseitige Wahrnehmung von Deutschland und Japan, sei es in den ehemaligen deutschen Kolonien in Mikronesien (Maezawa) oder in Deutschland selbst (Jacob). Der Kulturtransfer verlief schon seit der Eulenburg-Expedition 1859 in beide Richtungen, Deutschland und Japan beeinflussten und bewunderten einander gegenseitig. Nach 1900 aber wurde die Wahrnehmung feindseliger: So bewertete Japan die deutschen Infrastrukturen im eroberten Mikronesien zwar positiv, verbot aber die deutsche Sprache und setzte 1919 der Arbeit der deutschen katholischen Mission vor Ort ein Ende.
SEBASTIAN GOTTSCHALK (FU Berlin) und JONAS KREIENBAUM (Rostock) fragten nach Phänomenen von Transfer zwischen benachbarten Kolonien unter deutscher und britischer Herrschaft, einerseits im Umgang mit dem westafrikanischen Islam (Gottschalk), andererseits im Aufbau von Konzentrationslagern im südlichen Afrika (Kreienbaum). Der Begriff des Konzentrationslagers war in Deutschland bekannt und berüchtigt, seit die Internierung von weißen Zivilisten in Südafrika und das dortige Massensterben ab 1901 einen internationalen Skandal provoziert hatten. Trotzdem baute man in Deutsch-Südwest drei Jahre später ebenfalls so genannte Konzentrationslager, in denen allerdings nur Schwarze gefangen waren. Die Veranstalter sahen hier einen grundlegenden Unterschied, denn der rassistische Diskurs forderte teils eine solch radikale Behandlung der Schwarzen, während eine ähnliche Vorgehensweise gegen Weiße als undenkbar galt.
RUDOLPH NG (Heidelberg) schließlich nahm eine dezidiert globale Geschichtsschreibung in Angriff, als er den Kulihandel zwischen China, Samoa und Deutschland untersuchte. Seine zentrale Fragestellung kreiste um die internationale Wahrnehmung dieses Kulihandels, den Deutschland auch dann noch fortführte, als alle anderen Kolonialmächte ihn schon gestoppt hatten. Auch Christoph Kamissek (Rostock/Florenz), der krankheitsbedingt leider nicht kommen konnte, wollte globale deutsche Ambitionen ansprechen: Einige aus den Kolonien heimgekehrte Offiziere planten, nicht nur östliche Gebiete, sondern auch das Osmanische Reich und Teile von Südamerika zu unterwerfen. Diese, so das Argument, würden sich besser zur Besiedlung eignen als die verlorenen Schutzgebiete; darüber hinaus sollten die neu kolonisierten Bevölkerungen auch militärisch verwendet, also in die Armee integriert werden.
Die Tagung brachte einige Einsichten in begriffliche und konzeptuelle Grundfragestellungen. Es wurde zum Beispiel unterstrichen, dass schon zur Wende des 19. Jahrhunderts Neuigkeiten, Begriffe und Vorstellungen sehr schnell zirkulierten und ein europäisches mehr als nationales Wissen bildeten. Das galt etwa für die Sicht auf den Islam: Nicht so sehr die Phänomene von Transfer innerhalb des kolonialen Afrikas waren hier entscheidend, sondern der gemeinsame Wissensbestand, der von europäischen Forschungsreisenden, von anderen Kolonialmächten sowie von früheren Erfahrungen mit Muslimen in anderen Weltregionen herrührte. Die islamischen Kulturen galten allgemein als höher entwickelt, ihre zentralisierten Herrschaftsstrukturen waren dem europäischen System ähnlicher und vertrauter. Daher stützten sich sowohl die deutschen als auch die britischen Kolonisten auf ihren Einfluss, um manche Bevölkerungen in Westafrika indirekt zu beherrschen.
Schließlich suchten die Teilnehmer Antworten auf die Frage, inwiefern die deutschen Schutzgebiete ein Experimentierfeld für neue politische, soziale und militärische Praktiken waren. Überraschend war hier die relative Freiheit der nichtpolitischen Akteure. So konnten die Missionare in Deutsch-Ostafrika zumindest anfangs ihr Unterrichtsprogramm selbst zusammenstellen und bevorzugten lokale Themenbereiche wie einheimische Fauna und Flora; ihren Unterricht hielten sie oft in afrikanischen Sprachen ab und erhoben Kisuaheli zur Verkehrssprache. Im Anschluss an manche Forschungsergebnisse riefen die Veranstalter dazu auf, die Sicht der Afrikaner mehr miteinzubeziehen, insbesondere in Bezug auf den kolonialen Genozid in Deutsch-Südwest.
Angesichts der hohen Qualität der Vorträge und Diskussionen sollen die Beiträge bzw. ein Teil derselben 2015 in der französischen Zeitschrift „Revue d'Allemagne" veröffentlicht werden.
Konferenzübersicht:
Grußwort und Vorstellung des Workshops
Jawad Daheur (Université de Strasbourg) und Isabell Scheele (Université d’Aix-en-Provence/Marseille und Universiät Tübingen)
Vorstellung der Moderatorinnen
Christine de Gemeaux (Université de Tours) und Catherine Repussard (Université de Strasbourg)
Die Vielfältigkeit deutscher Kolonialerfahrungen: Blick auf einige atypische Felder
Olivier Baisez (Université Paris IV Sorbonne), „Das Palästina der deutschen Zionisten: ein Raum deutscher Kolonisation?“
Frank Jacob (Heine-Universität Düsseldorf), „Die deutsche Rolle bei der Modernisierung des japanischen Kaiserreiches: zur deutschen Kolonialerfahrung in Japan seit der Eulenburg-Expedition"
Gedanken und Pläne zum kolonialen Raum: Übertragbare Erfahrungen?
Dörte Lerp (Universität Rostock), „Zwischen Kolonie und Metropole. Siedlungsexperten in Deutsch- Südwestafrika und den östlichen Provinzen Preußens, 1889-1917“
Swen Steinberg (TU Dresden), „Die alte koloniale Elite und die neue Sicht auf den Raum: zum Verhalten deutscher Kolonialbeamter nach dem Ersten Weltkrieg am Beispiel Rudolf Böhmers (1875-1944)“
Die Träger der deutschen Kolonialideologie: Transfer und Resonanz
Eric Ettwiller (Université de Strasbourg), « Die Ausbreitung des deutschen Kolonialismus im Reichsland Elsass- Lothringen durch die Gesellschaft für Erdkunde und Kolonialwesen“
Oliver Lorenz (Universität Münster) , „Die Ausstellung « Das Sowjetparadies »: Nationalsozialistische Propaganda und kolonialer Diskurs“
Von einem kolonialen Raum zum nächsten: Berufliche Erfahrungen und Mobilität
Christoph Jens Kamissek (Universität Rostock ), „Deutsche Militärinstrukteure und « martial races » in Asien, Südamerika und Osteuropa (1878-1918)“ (entfiel)
Jonas Kreienbaum (Universität Rostock), „Friedrich von Lindequist, koloniale Konzentrationslager und transimperiales Lernen“
Die Schule: Ein Experimentsfeld des deutschen Kolonalismus?
Aude Chanson (Université Paris-Diderot ), « Die Missionare als wandernde Erzieher in Deutsch-Ostafrika“
Isabelle Hemont (Université François Rabelais de Tours), „ Die Germanisierung in der Schule in der Provinz Posen und Elsaß- Mosel“
Connected Kolonien? Vernetzung, Kontakt und Interaktion vom Lokalen zum Globalen
Rudolph Ng (Universität Heidelberg), „Kulis in Samoa: Zwischen Rassenverständnis und Arbeitspolitik deutscher Kolonien im Pazifik“
Yuko Maezawa (Universität Bayreuth), „Mikronesien im Ersten Weltkrieg: Kulturkontakte und - konfrontationen zwischen Japanern, Deutschen und Mikronesiern“
Der deutsche Imperialismus und die anderen Kolonialmächte
Sebastian Gottschalk (FU Berlin), „Koloniale Emirate? Deutsche und britische Kolonialherrschaft im muslimischen Westafrika"
Mathieu Gotteland (Université Paris I Panthéon-Sorbonne), « Deutschland und Österreich-Ungarn in China (1897 -1918)“
Fazit und Schlusswort
Jawad Daheur und Isabell Scheele