Seit einigen Jahren hat sich in den historischen Wissenschaften die Erkenntnis durchgesetzt, dass in Untersuchungen lokaler und kommunaler alltäglicher Handlungen und Praktiken die Grenzen der Gestaltungsmacht von Gesetzen und Normen besonders gut sichtbar werden, dass durch den Blick auf den Alltag vor Ort die Funktionsweisen von Gesellschaften tiefenscharf analysiert werden können. Diese Betrachtungen haben ergeben, dass selbst scheinbar ‚ohnmächtige’ Akteure Spielräume in lokalen Handlungszusammenhängen nutzten, indem sie vor Ort ihre Ressourcen und Praktiken in die Aushandlungsprozesse erfolgreich einbrachten. Aus einer ähnlichen Überlegung heraus hat die Historische Migrationsforschung begonnen, ‚Migrationsregime’ und die Praxis der Migration auf regionaler und lokaler Ebene zu betrachten, um die Komplexität von Strukturen und Handlungen zu reduzieren und die Genese von Migration sowie deren Be- und Verarbeitung ‚von unten’ zu erklären.
Vor diesem Hintergrund diskutierten auf Einladung der Gesellschaft für Historische Migrationsforschung (GHM) und des Instituts für Migrationsforschung und Interkulturelle Studien (IMIS) Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler in Osnabrück über ‚Migrationsregime’. JOCHEN OLTMER (Osnabrück) als Organisator plädierte dafür, den Begriff in einem möglichst breiten Sinn zu verstehen. In diesem Verständnis ist ein ‚Migrationsregime’ ein „integriertes Handlungs- und Gestaltungsfeld“, welches geprägt ist durch eine „spezifische Konstellation individueller, kollektiver und institutioneller Akteure“, die an der Herstellung von Migration beteiligt sind. Diese Interpretation des Regimebegriffs, aus der anglo-amerikanischen Politik- und Sozialwissenschaft entlehnt, zielt darauf, Migration als einen Aushandlungsprozess unter Beteiligung zahlreicher Akteure zu verstehen. Die Analyse der Akteursgeflechte sowie der je spezifischen Interessen, Techniken, Beziehungen und Interaktionen im Prozess des Aushandelns von Migration erschließt dabei die Bedingungen der Produktion und Reproduktion von gesellschaftlichem Wissen über Migration, das die Zulassung oder Abweisung, Inklusion und Exklusion in unterschiedlichen Graden beeinflusst. Damit wird auch der Flüchtling in der Asylunterkunft eines Flughafens zu einem Teil eines solchen Regimes, der als handelnder Akteur wahrgenommen werden muss. Dieses weite Verständnis des Regimebegriffs führte während der Tagung immer wieder zu Diskussionen. Einige anwesende Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern kritisierten die Weite des Begriffs. Deren Argument beruhte im Wesentlichen darauf, dass eine Bezugnahme auf alle Akteurinnen und Akteure die inhärenten Machtverhältnisse dieser Regime verdecke. Damit, so die Kritik, könne der Eindruck von Waffengleichheit oder Aushandlung auf Augenhöhe entstehen. Der Gegenvorschlag lautete, den Regimebegriff auf die politischen und administrativen Strukturen und Handlungen zu beschränken. Ohne zu einem endgültigen Ergebnis zu kommen, strukturierte diese produktive Diskussion weite Teile der Tagung.
In der ersten Sektion mit dem Titel ‚Migrationsregime vor Ort’ wurden Beiträge zu drei Kontinenten in der Zeit zwischen dem späten 19. Jahrhundert und dem Jahr 2000 vorgestellt. ANNE FRIEDRICHS (Lüneburg), ROLF WÖRSDÖRFER (Frankfurt am Main), WLADIMIR FISCHER (Wien) und MICHAEL G. ESCH (Berlin/Düsseldorf) untersuchten zunächst mit Bezug auf ost- und südosteuropäische Migranten verschiedene lokale und regionale Ausprägungen solcher Regime. Friedrichs und Wörsdörfers Untersuchungsraum ist das Ruhrgebiet. Anhand der ‚Polenseelsorge’ in Dortmund und Bochum konnte Anne Friedrichs aufzeigen, dass das Bild der ‚Ruhrpolen’ als homogener Gruppe einer Revision bedarf. Rolf Wörsdörfer legte dar, dass der politische und administrative Umgang mit slowenischen Migranten im Ruhrgebiet situativ entschieden wurde sowie wandelbar blieb und nicht zuletzt die Migranten diesen selbst mitbestimmten. Beitragsthema von Wladimir Fischer war das Identitätsmanagement südslawischer Migranten in den USA um 1900. Im Anschluss präsentierte Michael G. Esch das eigensinnige und widerständige Handeln osteuropäisch-jüdischer Einwanderer im Paris des frühen 20. Jahrhunderts. In einem weiteren Vortrag der Sektion stellte FRANK WOLFF (Osnabrück) die Migrationspraktiken jüdischer Argentinieneinwanderer vor, die mit Hilfe einer jüdischen Auswanderungsorganisation (ICA) ins Land kamen. Besonders betonte Wolff die differierenden Vorstellungen und Praktiken der einzelnen Akteure im Migrationsprozess. ANNA LIPPHARDT (Freiburg im Breisgau) nahm das Beispiel Zirkus zum Anlass, das Element des Aufenthaltsregimes (Aufenthaltsbestimmungen und -praktiken) in Migrationsregimen zu betonen. Schließlich betrachtete THOMAS BOHN (Gießen) die Steuerung von Binnenmigration in der Sowjetunion anhand des lokalen Migrationsregimes in der Stadt Minsk in den 1950er- und 1960er-Jahren. Wie in allen Vorträgen der Sektion wurde auch bei Bohn deutlich, wie gesamtstaatliche Steuerungsambitionen in der lokalen Praxis verformt wurden. Probleme erzeugte bereits die langsame Umsetzung von Vorgaben durch lokale Verwaltungen. Häufig wurden die aus den Problemen resultierenden Konflikte durch das Handeln von Migrantinnen und Migranten, Ordnungsbehörden, Ärzten und Priestern vor Ort verschärft, seltener entschärft.
Die zweite Sektion eröffnete BETTINA SEVERIN-BARBOUTIE (München), die für den Fall Stuttgart die politischen Einflussmöglichkeiten von Migranten skizzierte. Sie konnte feststellen, dass bis in die 1980er-Jahre das Wissen der lokalen Verwaltungen über ausländische Mitbürger äußerst gering war und die ‚Ausländerausschüsse’ (weiterhin) nur beratende Funktion hatten. OLGA SPARSCHUH (Berlin) zeigte anhand der Binnenwanderung nach Turin und der transnationalen Migration nach München, dass auf den verschiedenen Ebenen – lokal, national, transnational – differierende und zum Teil sich widersprechende Gesetze und Verordnungen Gültigkeit besaßen, die dazu führten, dass die Rahmenbedingungen von Migration und Integration in München für Süditaliener sich vorteilhafter gestalteten als in Turin, dass die Binnenmigration innerhalb Italiens staatlicherseits restriktiver gehandhabt wurde als die innerhalb Europas. Zum Abschluss dieser Sektion stellte JENNY PLEINEN (Augsburg) in ihrem Referat den behördlichen Umgang mit Einwanderern in Belgien und Deutschland vor. Sie betonte dabei, dass trotz nationalstaatlicher Regelungen die lokalen Praktiken maßgeblichen Einfluss auf die Migrationsregime hatten, weil z.B. vor Ort Aufenthaltstitel vergeben werden konnten und wurden.
In der dritten Sektion wurden Regime betrachtet, die auf erzwungene Migrationen verweisen. Im ersten Vortrag der Sektion stellte ISABELLA LÖHR (Basel) vor, wie akademische Selbsthilfeorganisationen in der Zeit des Nationalsozialismus die Ausreise und Vermittlung von Kolleginnen und Kollegen in sichere Länder und dortige Arbeitsstellen organisierten und welchen Eigenlogiken sie dabei folgten. Im Vortrag und Diskussion wurde deutlich, dass nicht nur die wissenschaftliche Produktivität, sondern gerade auch die sozialen Kompetenzen der Betroffenen eine erfolgreiche Vermittlung entscheidend beeinflussten. JANNIS PANAGIOTIDIS (Jena) arbeitete in seinem Vortrag den Einfluss lokaler Verwaltungen beim Umgang mit deutschen Aussiedlern seit den frühen 1950er-Jahren heraus. Ähnlich wie im Vortrag von Pleinen zeigte sich hier, wie breit der Spielraum der verschiedenen lokalen Akteure war. Im letzten Beitrag der Tagung präsentierte JULIA KLEINSCHMIDT (Göttingen) ein Projekt zu den sich verändernden Grenzregimen am Flughafen Schiphol. Die Flüchtlinge selbst, und auch die Unterstützergruppen, hatten hier auf die Ausgestaltung der jeweils aktuellen Unterbringungsmöglichkeiten und Verfahrensweisen einen nur marginalen Einfluss.
In der folgenden Abschlussdiskussion wurden die zentralen Ergebnisse und Streitfragen der Tagung noch einmal aufgegriffen und eingehend diskutiert. Besonders hervorgehoben wurde die Bedeutung einer mikrohistorischen und lokalen Betrachtung von Migration. Vor Ort können normative Vorgaben und administrative Regelungen auf Probleme und Hindernisse stoßen, die zentral nicht bedacht wurden und lokal geregelt werden müssen. Einzelne Akteure oder Akteursgruppen verfolgen eigene Interessen, die erst in den Praktiken vor Ort sichtbar werden. Und erst in Mikrostudien werden die unterschiedlichen Auffassungen, Praktiken und Handlungen der einzelnen Akteure in den jeweiligen ‚Migrationsregimen’ fassbar.
Auch die vorgestellte Diskussion um den Regimebegriff wurde noch einmal aufgegriffen. Von den Befürwortern wurde auf der Basis der vorgestellten Ergebnisse noch einmal für ein weites Verständnis plädiert. Erst die Inklusion aller Akteure ermögliche das Verstehen der Genese und Struktur eines spezifischen ‚Migrationsregimes’. Beziehungen, Machtstrukturen und Hierarchien bei der Entstehung und Ausformung dieser Regime müssten in den Mittelpunkt der Analyse gerückt werden. Ohne den Blick auf die Grenzen der Partizipation und die begrenzten Einflussmöglichkeiten einzelner sei eine kritische Auseinandersetzung mit ‚Migrationsregimen’ gar nicht möglich. Dieses Verständnis des Begriffs und der damit einhergehende ‚Arbeitsauftrag’ wurde prinzipiell von allen Anwesenden begrüßt.
Die Tagung hat über den Einblick in einzelne ‚Migrationsregime’ hinaus einen wichtigen Beitrag zur Begriffs- und Standortbestimmung der Historischen Migrationsforschung geleistet. Die Beiträge und Diskussionen ließen deutlich werden, dass lokale und regionale Analysen für das Verständnis des Migrationsgeschehens unabdingbar sind und Regime zukünftig eine hilfreiche und produktive Beobachtungsperspektive der Migrationsforschung bilden können.
Konferenzübersicht:
Jochen Oltmer (Osnabrück): Begrüßung und Einführung
1. Migrationsregime vor Ort
(Leitung: Jochen Oltmer, Osnabrück)
Anne Friedrichs (Lüneburg): Migration und Vergesellschaftung. Eine Mikrogeschichte der Ruhrpolen 1870–1950
Rolf Wörsdörfer (Frankfurt am Main): Situative Reaktion oder einheitliches Migrationsregime? NS-System und Slowenenkolonien an Rhein und Ruhr 1932–1941
Wladimir Fischer (Wien): Identitätsmanagement und Infrastrukturen von Migrantinnen und Migranten aus Österreich-Ungarn in den USA um 1900
Frank Wolff (Osnabrück): Zwischen jüdischem Gaucho und Arbeiterbewegung: Raumkonzepte und Migrationspraktiken im jüdischen Argentinien 1889–1939
Michael G. Esch (Berlin/Düsseldorf): Regime, Struktur, Eigensinn: Milieus und Strategien osteuropäischer Einwanderer in Paris 1890–1940
Thomas Bohn (Gießen): Sowjetische Regimeorte und sozialistische Migrationsregime. ‚Eigenmächtige Bautätigkeit’ und ‚Kontingentarbeiter’ in Minsk im Poststalinismus
Anna Lipphardt (Freiburg im Breisgau): ‚Moving targets’ im Kontext lokaler, nationaler und europäischer Aufenthaltsregime. Das Fallbeispiel Zirkus
Diskussionsimpuls von Jochen Oltmer und Diskussion
2. Migration im kommunalen Handlungsfeld
(Leitung: Boris Nieswand, Tübingen)
Bettina Severin-Barboutie (München): Herausforderungen für die lokale Demokratie. Die Teilnahme ausländischer Migranten am kommunalen Geschehen
Olga Sparschuh (Berlin): Stadt, Land, EWG. Migrationsregime in Turin und München in den 1950er- bis 1970er-Jahren
Jenny Pleinen (Augsburg): Zwischen Zentralisierung und bürokratischem Widerstand. Lokale Behörden in den Migrationsregimen Belgiens und der Bundesrepublik seit 1945
Diskussionsimpuls von Boris Nieswand und Diskussion
3. Die Aushandlung von Zwangsmigration
(Leitung: J. Olaf Kleist, Berlin)
Isabella Löhr (Basel): Wissenschaft und Zwangsmigration: Handlungslogiken akademischer Fluchthilfeorganisationen in der Zwischenkriegszeit
Jannis Panagiotidis (Jena): Migrantenscreening vor Ort: Lokale Flüchtlingsverwaltungen als Akteure der Aussiedlermigration
Julia Kleinschmidt (Göttingen): Aktionsraum Grenze. Handlungsstrategien von Flüchtlingen und Unterstützergruppen am Flughafen Schiphol/Amsterdam
Diskussionsimpuls von J. Olaf Kleist und Diskussion