European Social Science History Conference ESSHC 2016

European Social Science History Conference ESSHC 2016

Organizer(s)
International Institute of Social History, Amsterdam
Location
Valencia
Country
Spain
From - Until
30.03.2016 - 02.04.2016
Conf. Website
By
Norbert Fabian, Institut für soziale Bewegungen, Ruhruniversität Bochum

Intensiver als sonst auf Historikertagen wurden auf der 11. European Social Science History Conference (ESSHC) in Valencia in Spanien vom 30. März bis 2. April 2016 geschichtstheoretische und historiographische Fragestellungen diskutiert. Als Veranstalter konnte das Amsterdamer International Institute of Social History über 2000 Historikerinnen und Historiker begrüßen, wobei erstmals Historikerinnen in der Überzahl vertreten waren. Die vorab erfolgte Auswahl der einzelnen Sektionen lag bei ‘Network Chairs’ u.a. zu ‘Labour‘, ‚Social Inequality‘, ‚Economics‘, ‚Culture‘, ‚Women and Gender‘, ‚Ethnicity and Migration‘, ‚Theory’ und ‘World History’. Der folgende Bericht nimmt selbstverständlich nicht in Anspruch, den Gesamtertrag eines solch großen Kongresses zu resümieren, sondern versammelt vielmehr Beobachtungen des an allgemeineren Trends interessierten Besuchers zahlreicher Sektionen.

Ein Thema mehrerer Sektionen war das Verhältnis einer weiterhin dominierenden Nationalgeschichtsschreibung zur neu aufgekommenen Globalgeschichte. Stefan Berger vom Institut für soziale Bewegungen (Bochum) stellte den mit Christoph Conrad (Genf) zusammen verfassten Abschlussband ‘The Past as History. National Identity and Historical Consciousness in Modern Europe’ aus der ‚Writing the Nation Series’ zur Diskussion. Dieser analysiert einleitend die Konstruktion von Nationen durch Geschichte, vermittelt dann einen Überblick über die Entwicklung von Nationalgeschichtsschreibung in Europa und weist schließlich zukünftige Perspektiven auf. Dabei geht er von drei miteinander verbundenen ‘meanings’ von ‘national history’ aus: Die erste nimmt Bezug auf die ‘great works’ zur nationalen Vergangenheit von Staaten, Territorien und Völkern. Die zweite, abstraktere, betrifft einen methodischen Nationalismus, der Nationalstaaten als einen vorrangigen Akteur in der Geschichte betrachtet. Die dritte sieht in der Nationalgeschichtsschreibung Meta- oder Meistererzählungen, welche die Geschichtskultur zu gegebenen Zeiten in bestimmten Ländern prägen. Anknüpfend u.a. an Christopher Hill wird das Thema in den breiteren Rahmen der Beziehung zwischen transnationalen Prozessen und dem Aufstieg einer globalen Moderne einerseits und dem individuellen ‘nation building’ andererseits gestellt. Berber Bevernage (Gent) brachte seinerseits Argumente für eine nunmehr stärker transnational ausgerichtete, europäische Geschichtsschreibung ein, aus der auch eine ergänzende europäische Identität erwachsen könnte (1). Vorgeschlagen wurde zudem, Nationalgeschichte aus einer globalen Perspektive zu bewerten und sie entsprechend einzuordnen; auch da mit ‘nation states’ verbundene ‘empires’ erheblich zum Aufkommen von Globalisierung beigetragen hätten (2). Kontroversen und Diskussionen zwischen traditioneller Nationengeschichtsschreibung des 19. und 20. Jahrhunderts und neuerer Globalgeschichte auch didaktisch zu nutzen, bietet sich an. Dies berücksichtigte die Bochumer Geschichtsdidaktikerin Nicola Brauch in ihrer Präsentation zu der neuen Studie von Berger / Conrad jedoch nicht.

Der US-Philosoph Paul Roth (Santa Cruz / CA) plädierte in der Sektion ‘Narrative Explanations and Historical Objektivity’ für eine Wiederbelebung von Geschichtsphilosophie als Wissenschaft in interdisziplinärer Zusammenarbeit. Allerdings verband er dies mit dem Versuch, Geschichtsschreibung im Anschluss u.a. an Arthur Danto und Hayden White auf strikt narrative Darstellungsformen zu verpflichten. Hierzu wurde in der Diskussion u.a. auf Johann Gustav Droysen verwiesen, der analytische, narrative, diskursive und didaktische Darstellungsformen unterscheidet und der Hegelsche Geschichtsphilosophie mit empirischen Studien zusammenführt.

Als Beitrag zu ‘The History of Doing Things, Pros and Cons of Praxeology in Historiography and the Social Sciences’ stellten Lucas Haasis und Constantin Rieske (Oldenburg) ihre Version von historischer Praxeologie als neuer Variante von individualisierender Alltagsgeschichtsschreibung vor (3). Dagegen vertrat Thomas Welskopp (Bielefeld) in seinem Kommentar das gesellschaftshistorische Anliegen, vor allem eine soziale Praxis konkreter Diskussionen und Diskurse zu analysieren, aus welchen Potentiale stärker kommunikativen Handelns auch im Alltag erwachsen können (4).

In der von Stefan Berger moderierten Sektion ‘Theories of Revolution, Reform and Democracy - and the Writing of History’ plädierte Matthias Middell (Leipzig) für ein neues Verständnis von Revolutionsgeschichte. Interpretationen der Französischen Revolution stellten 1789 nunmehr stärker in eine transnationale und globale Perspektive der Geschichte von Imperien und des Kolonialismus und hätten auch den transatlantischen Raum als Ganzen im Blick. Mit den revolutionären Veränderungen ab 1989 seien zudem neue Traditionen ‘friedlicher Revolutionen’ aufgekommen (5). Dominic Sachsenmaier (Göttingen) präsentierte eine Typologie von Revolutionen und Reformbewegungen im China des 20. Jahrhunderts. Viele chinesische Historiker hätten sich unterdessen von mao¬istischen Lesarten der Revolution distanziert. Eine Mehrheit optiere für Ideen gradueller Reform, um das China der Gegenwart nicht zuletzt kulturell mit dem China der Vergangenheit zu verbinden. Dabei stelle sich weiterhin die Frage nach einer neuen und fortschrittlicheren politischen Ordnung. In der Diskussion wurde u.a. nach der Möglichkeit ‘revolutionärer Reformen’ gefragt sowie dafür plädiert, gewaltarme und gewaltlose Traditionen in der globalen Revolutionsgeschichte und -theorie stärker als bisher herauszustellen.

Beispiele für eine transnational und global orientierte Gewerkschaftsgeschichte präsentierte die von Stefan Mueller (Bonn) moderierte Sektion ‘Transnational Actors and Networks of the Trade Union Movement’. Die von Heiner Dribbusch (Düsseldorf / WSI) organisierte Sektion ‘Strikes and Industrial Disputes: New Explorations in a Multi-Facetted Territory’ analysierte zudem statistische Daten zu Streiks im internationalen Vergleich. Am Beispiel des größten Massenstreiks im britischen ‘public sector’ am 30.11.2011 wurde auch diskutiert, inwieweit Streiks zu sozialpolitischen Anliegen als politische Streiks zu bewerten seien. Ausgangpunkt war eine Präsentation von D. Lyddon (Keele / Staffordshire).

Wer in der Doppelsektion ‘History of Nuclear Energy and Society: Nuclear Power, International Organisations and Anti-Nuclear Movements in Comparative and Transnational Perspektive’ vorrangig eine kritische historische Aufarbeitung der Geschichte der Atomenergie erwartet hatte, sah sich eher enttäuscht. Zwar wurden auch Anti-Atomkraftbewegungen berücksichtigt und in der Diskussion auf den weltweiten Aufschwung von ‘Renewables’ verwiesen - da EURATOM diese Sektion jedoch finanziell gesponsert hatte, stellte sich die Frage, inwieweit hier unvoreingenommen Umwelt- und Industriegeschichte präsentiert wurde.

Die Bedeutung von Flüssen und kleineren Wasserläufen für die wirtschaftliche und territoriale Entwicklung im spätmittelalterlichen Portugal und Kastilien demonstrierte Isabel Freitas (Porto) in der von Elena Woodacre (Winchester) moderierten Sektion ‘Water, Identity and Territory in the Late Middle Ages’. Urszula Sowina von der Polnischen Akademie der Wissenschaften wies in der Diskussion ergänzend darauf hin, dass spanische Juden als Emigranten erheblich zur Verbreitung von Wassermühlen als einer umweltfreundlichen Form von früher Energieerzeugung in Polen beigetragen und wirtschaftliche Entwicklungen dort mit vorangebracht haben (6).

Anmerkungen:
(1) Vgl. Stefan Berger, The Past as History, Basingstoke 2015, v.a. S. 1f, 4, sowie S. 363ff, 377. Weitere Literatur: Stefan Berger, Mark Donovan, Kevin Passmore (eds.), Writing National Histories. Western Europe since 1800, London 1999; Stefan Berger/ Chris Lorenz (eds.), Nationalizing the Past. Historians as Nation Builders in Modern Europa, Basingstoke 2015/2; Stefan Berger (ed.), Writing the Nation. A Global Perspective, Basingstoke 2015/2; Matthias Middell/ Lluis Roura (eds.), Transnational Challenges to National History Writing, Basingstoke 2013.
(2) Hierauf verweist z.B. Jürgen Habermas, Europapolitik in der Sackgasse. Plädoyer für eine Politik der abgestuften Integration, in: ders., Ach, Europa, Frankfurt am Main 2008, S. 96-127, S. 106ff. Von „zentraler Bedeutung“ ist für ihn dabei die Schaffung einer europaweiten politischen Öffentlichkeit und von Nationen übergreifenden Kommunikationszusammenhängen.
(3) Vgl. Johann Gustav Droysen, Historik, Darmstadt 1974, S. 273ff. Ergänzend sei insgesamt auf die Abstracts zu den Papers und Präsentationen verwiesen: https://esshc.socialhistory.org/esshc-user/programme?day=52
(4) Vgl. Thomas Welskopp, Das Banner der Brüderlichkeit. Die deutsche Sozialdemokratie vom Vormärz bis zum Sozialistengesetz, Bonn 2000, S. 56f, 510ff.
(5) Vgl. Ulf Engel/ Frank Hadler/ Matthias Middell (eds.) 1989 in a Global Perspective, Leipzig 2015.
(6) Verwiesen sei auch auf den klassischen Artikel von Marc Bloch, The Advent and Triumph of the Water Mill, in: ders., Land and Work in Mediaeval Europe, London 1967, S. 136-168 / Annales, no. 36, Nov. 1935, Vol. VII, S. 538-563.

Besprochene Sektionen:
- Meet the Author Session - Stefan Berger and Christoph Conrad, The Past as History: Historical Writing and National Identity in Modern Europe, Basingstoke: Palgrave Macmillan, 2015
- Narrative Explanations and Historical Objektivity
- The History of Doing Things, Pros and Cons of Praxeology in Historiography and the Social Sciences
- Theories of Revolution, Reform and Democracy - and the Writing of History
- Transnational Actors and Networks of the Trade Union Movement
- Strikes and Industrial Disputes: New Explorations in a Multi-Facetted Territory
- History of Nuclear Energy and Society: Nuclear Power, International Organisations and Anti-Nuclear Movements in Comparative and Transnational Perspektive
- Water, Identity and Territory in the Late Middle Ages

Contact (announcement)

Norbert Fabian
Institut für soziale Bewegungen
Ruhruniversität Bochum
e-mail: nobfabian@t-online.de


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Published on
14.10.2016
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