Im Sommer 2016 konstituierte sich der neue Sonderforschungsbereich 1167 „Macht und Herrschaft – Vormoderne Konfigurationen in transkultureller Perspektive“ an der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn. Gegenstand der Auftakttagung des Sonderforschungsbereichs in Bonn waren transkulturelle Forschungsansätze. Damit wurde eine aktuelle und viel diskutierte Perspektive in den Geisteswissenschaften aufgegriffen. Die Vortragenden aus Mittelalterlicher Geschichte, Islamwissenschaft, Sinologie und Soziologie führten in Fallstudien und Erfahrungsberichten vor Augen, mit welchen terminologischen wie methodischen Herausforderungen und Erkenntnismöglichkeiten der gewählte Zugang verbunden ist.
Feierlich eröffnet wurde die Tagung nach einer Begrüßung durch den Sprecher des SFB, Matthias Becher, Grußworten des Rektors der Universität Bonn, Michael Hoch, und der Prodekanin der Philosophischen Fakultät, Claudia Wich-Reif, durch einen öffentlichen Abendvortrag von BERND SCHNEIDMÜLLER (Heidelberg). Dieser betonte zum Einstieg die Notwendigkeit zur Überwindung der Weberschen Definitionen von ‚Macht‘ und ‚Herrschaft‘. Allerdings sei bei der Beschäftigung mit diesen Begriffen eher mit der Aufdeckung von Paradoxien und Alteritäten als mit unantastbaren Neudefinitionen zu rechnen. Vormoderne Herrschaft könne mit der einfachen Binarität von Befehl und Gehorsam nicht adäquat beschrieben werden, sondern sei vielmehr von Aushandlung und Konsens, einem Zusammenspiel von Adelshierarchien und Partizipationsformen geprägt gewesen. Es gehe folglich darum, bestehende Modelle im Sinne einer „verschränkten Herrschaft“ weiterzudenken und vormoderne Ordnungen als Verantwortungsgemeinschaften zu begreifen.
In seinen einführenden Bemerkungen verwies MATTHIAS BECHER (Bonn) am nächsten Tag auf den zweifach transkulturellen Blickwinkel des Verbundprojekts: Dabei werde durch den Rückgriff auf Wolfgang Welschs Transkulturalitätskonzept zum Ausdruck gebracht, dass ‚Kulturräume‘ niemals monolithische Einheiten bilden, sondern stets vielseitigen Einflüssen unterworfen sind und selbst Veränderungsimpulse geben. Darüber hinaus sei es das erklärte Ziel, die Grenzen der oftmals eurozentrisch geprägten wissenschaftlichen Fachkulturen zu überschreiten, um strukturelle Gemeinsamkeiten und Unterschiede der untersuchten Phänomene aufzudecken. Ein möglicher Zugang hierfür sei der historische Vergleich. Becher sensibilisierte zudem für das Problem der Anwendung moderner Theorien auf vormoderne Phänomene: Max Webers Idealtypen seien aufgrund ihrer „Reisefähigkeit“ zwar ein geeigneter Ausgangspunkt der theoretischen Auseinandersetzung, für vormoderne Herrschaftskonfigurationen jedoch nur bedingt anwendbar. Er stellte daher auch die an Weber anknüpfenden Gedankenansätze des Soziologen Anthony Giddens vor und erinnerte an die Bemühungen mediävistischer Ansätze, bei wissenschaftlichen Beschreibungen eine begriffliche Nähe zur Quellenterminologie zu wahren.
Unmittelbar hieran anknüpfend griff ANDREA MAURER (Trier) Mechanismen und Strukturen der Macht- und Herrschaftsbildung aus soziologischer Perspektive auf und zeigte die Möglichkeiten und Grenzen westlich geprägter Sichtweisen von Theoretikern wie Thomas Hobbes, Max Weber, Heinrich Popitz oder Charles Tilly auf. Sie erläuterte, welche sozialen Aushandlungsprozesse zur Etablierung einer Ordnung führen und was Akteure dazu bringt, diese anzuerkennen. Eine große Bedeutung komme „relativen Vorteilen“ zu, wie sie sich beispielsweise aus der Vergabe von Privilegien ergeben. In diesem Kontext könne Herrschaft etwa als Grundlage vorteilhafter sozialer Ordnung fungieren. Solche Mechanismus-Modelle seien dabei sowohl von kausalen als auch von zufälligen Faktoren geprägt und somit eine wichtige Ergänzung rein handlungsbasierter Ansätze. Maurer sprach sich dafür aus, die Begriffe ‚Macht‘ und ‚Herrschaft‘ im Rahmen der Arbeit des Forschungsverbundes primär als Werkzeuge zu nutzen und dabei die Möglichkeit einer empirischen Typologie im Auge zu behalten.
REINHARD EMMERICH (Münster) näherte sich dem Tagungsthema über ein konkretes Fallbeispiel an. Im Zentrum seiner Ausführungen standen Qin Shihuangdi (gestorben 210 v. Chr.), Gründer der Qin-Dynastie sowie des ersten chinesischen Kaiserreichs, und seine Thronfolge. Emmerich stellte die Frage, ob auch ein bereits verstorbener Herrscher noch Autorität ausstrahle. Anhand des Berichts des Historiographen Sima Qian und der dort aufgezeichneten Streitgespräche zwischen den Söhnen des Ersten Kaisers, dem Kanzler Li Si und Zhao Gao, einem Vertrauten und Erzieher der Kaiserfamilie, konnte er aufzeigen, dass der verschriftlichte Wille des Herrschers nur bedingt über seinen Tod hinaus Wirkung entfalten konnte. Es sei erstaunlich, dass dieser in keiner Weise Eingang in die politische Rhetorik fand.
Den Vormittag beschloss STEFAN HEIDEMANN (Hamburg) mit einem Einblick in sein Forschungsprojekt zur Formierung des Early Islamic Empire (660–940). Um ein Gebiet dieses Umfangs (vom Atlantik bis zum Hindukush) zu beherrschen, seien fünf Elemente entscheidend gewesen: das Erbe der römischen und hellenistischen Welt zu inkorporieren, Provinzen zu schaffen, verschiedene Hauptstädte statt einer einzelnen zu errichten sowie regelmäßig wechselnde starke Eliten, die auch militärisch potent sein konnten, einzusetzen. Heidemann plädierte dafür, bei aller Bedeutung des Zentrums die Peripherie nicht aus den Augen zu verlieren. Periphere Verwaltung und Wirtschaft seien Kernelemente zur Entschlüsselung der Etablierung und Funktionsweisen islamischer Herrschaft, die oft einseitig auf das religiöse Moment reduziert werde.
JENNY RAHEL OESTERLE (Heidelberg) widmete sich in ihrem Vortrag am Nachmittag der Bearbeitung kultureller und religiöser Differenzen in der arabischen Frühzeit (615–622) auf der Grundlage der retrospektiven Mohammedbiographie Ibn Ishaqs. Im Fokus standen vor allem Fragen von Macht und Herrschaft, wobei insbesondere verschiedene Formen von Schutz für den Propheten (hier bezogen auf Sippenschutz, tribale Schutzformen und Fremdenschutz) in einer Situation der Bedrohung und Verfolgung während seiner Glaubensverkündung thematisiert wurden. Die unterschiedlichen Schutzarten verhinderten zum einen Gewaltausbrüche und schufen zugleich einen Toleranzraum für Differenzen im früharabischen Herrschaftsgefüge, dessen Funktion etwa anhand der mekkaischen Gemeinde oder des christlichen Hofes des abessinischen Herrschers veranschaulicht wurde.
Thematisch knüpfte WOLFRAM DREWS (Münster) mit seinen Überlegungen zu islamischer Herrschaft im Frühmittelalter an die vorangegangenen Beiträge an, indem er anhand der Hauptüberlieferungen der sogenannten Märtyrerbewegung durch Eulogius und Alvarus von Córdoba die Wahrnehmung islamischer Herrschaft durch mozarabische Christen im umayadischen Spanien beleuchtete. Dabei stellte er fest, dass die vor dem Hintergrund innerer Spannungen in der mozarabischen Gesellschaft entstandenen Texte eigene politisch-religiöse Intentionen verfolgten, wenn sie den Gegensatz zwischen Christen und Muslimen verstärkt hervorhoben und sogar durch öffentliche Schmähungen des Islams die islamische Herrschaft herausforderten. Drews konnte aufzeigen, dass dies eher eine Strategie war, den christlichen Glauben und die christliche Identität zu stärken, da sich aufstiegsorientierte mozarabische Christen, vor allem jugendliche Männer, vermehrt der arabischen Kultur, Bildung, Mode, Sprache und dem zugrundeliegenden Normensystem der islamischen Religion angepasst hatten. Islamische Herrschaft sei aber von der Mehrheit mozarabischer Christen eher nicht als fremdreligiöse Herrschaft verstanden worden.
BARBARA SCHLIEBEN (Berlin) setzte sich mit dem Thema Transkulturalität am Beispiel von Jacme d’Agramonts Traktat von 1348 zu Ursache, Verlauf und Prävention der Pest in der Region Lleida, Katalonien, auseinander. Als Gebrauchsliteratur von gemeinschaftlich öffentlichem Nutzen habe es sich über die engere Berufsgruppe der Mediziner hinaus an einen weiten Leserkreis gerichtet und sei durch die gemeinsame katalanische Sprache auch jüdischen, christlichen und muslimischen Ärzten, Barbieren und Apothekern zugänglich gewesen. Das Schriftstück, so stellte sie heraus, könne als Hybridprodukt gelten, welches vom interreligiösen Zusammenleben in Katalonien bestimmt sei und die transkulturelle Prägung des katalonischen Gesundheitswesens zum Ausdruck bringe.
Einen weiteren Beitrag zur praktischen Anwendung transkultureller Methodik lieferte ALMUT HÖFERT (Zürich) mit einem Einblick in ihre historischen Forschungsprojekte zu monarchischen Herrschaftsformen. Dabei betonte sie die Notwendigkeit eines gemeinsamen Blickwinkels als Grundlage transkulturellen Arbeitens, welches sich auf dem Wege epochenübergreifender Analysen konkreter Elemente besonders gewinnbringend vollziehe. Zur Erschließung monarchischer Herrschaften verwies sie beispielhaft auf einige Themenfelder: Eliten, religiöse Autorität und Sakralität, Netzwerke und Verwandtschaftsbeziehungen, Repräsentation, Männlichkeiten. Zusammenfassend konstatierte sie, dass sich die transkulturelle Methode im Sinne einer Arbeitsdefinition als Perspektive verstehen lasse, die die historiographisch gesetzten Zivilisationsgrenzen überschreiten könne.
Der Beitrag von DANIEL KÖNIG (Heidelberg) konzentrierte sich am darauffolgenden Tag auf die Funktionalisierung von Sprache als Herrschaftsmittel und postimperiale Prozesse der Sprachverschriftlichung. Mit der sukzessiven Expansion von Herrschaftsräumen im mittelalterlichen Euromediterraneum habe sich auch der Grad der Sprachanpassung verändert. Ausgehend von den poströmischen „Trümmersprachen“ (5. Jahrhundert), über eine neue Latinisierung unter christlicher Prägung in der Romania, welche nach einer Phase der Konfrontation mit germanischen Sprachen zur Selbstbehauptung derselben und ihrer Verschriftlichung im 9. Jahrhundert geführt habe, seien durch Herrschaftsetablierungen sprachliche Wechselwirkungen sowie Appropriations- und Hybridprozesse in Gang gesetzt worden. König deckte ähnliche Parallelentwicklungen zum Arabischen im Kontext der arabischen Expansion auf die Iberische Halbinsel im 8. Jahrhundert auf. Auch dort sei das Arabische zunächst mündliche Verkehrssprache und Sakralsprache im multilingualen Umfeld gewesen und dann zu einer Referenzsprache aufgestiegen.
THOMAS ERTL (Wien) nutzte in seinem Vortrag das Konzept der konsensualen Herrschaft, welches bereits im Festvortrag von Bernd Schneidmüller zur Sprache gekommen war, als „Vergleichstool“ für transdisziplinäres Arbeiten. Zur Veranschaulichung griff er dabei auf Beispiele aus der chinesischen Sung-Dynastie (11. Jahrhundert) und verschiedener Mamlukensultanen (15. Jahrhundert) zurück. Insgesamt konnte er zeigen, dass die komplexen Verflechtungen zwischen Herrscher und Eliten durch fortwährende Aushandlungsprozesse konstituiert und bestimmt wurden, wobei im Hinblick auf die Quellen sorgfältig zwischen politischer Praxis und politischer Rhetorik unterschieden werden müsse. Ein Vergleichskonzept aus der eigenen praktischen Arbeit stellte auch JÜRGEN PAUL (Halle-Wittenberg) vor. Sein Vortrag beschäftigte sich mit einem historischen Vergleich herrschaftlicher Praxiskonzepte im lateinischen Westeuropa und Iran im 12. Jahrhundert. Paul legte seinen Schwerpunkt vor allem auf das sogenannte Ḫidma-Verhältnis, ein dynamisches Dienstverhältnis zwischen Herr und Mannen, im Vergleich zum westlichen Feudalismusmodell. Für transkulturelles Arbeiten sei es entscheidend, Räume zunächst sehr genau zu definieren, um sich beispielsweise nicht in alte Zivilisationsparadigmen zu verstricken, in denen der Islam als Einheitszivilisation betrachtet worden sei. Man müsse vielmehr daran arbeiten, Verhältnisse genauer zu beschreiben, anstatt sich vorschnell auf bestimmte Bezeichnungen festzulegen. Paul plädierte abschließend für eine Aufarbeitung der methodischen Trennlinien zwischen Geschichts- und Islamwissenschaft.
Im Fazit machte STEPHAN CONERMANN (Bonn) noch einmal deutlich, wie gewinnbringend und notwendig es sei, eine genaue lokale Analyse sozialer und politischer Ordnungen unter Einbindung zeitgenössischer Diskurse als Grundlage transkultureller Betrachtungen zu wählen. Eine verstärkte Einbeziehung außereuropäischer Betrachtungsweisen und Konzepte sei nötig, um den Eurozentrismus in einem empirischen Lernprozess zu überwinden. Der historische Vergleich sei dabei – wie die Tagung gezeigt habe – eine der wichtigsten Methoden, um zu einer umfassenden Phänomenologie von vormoderner ‚Macht‘ und ‚Herrschaft‘ zu gelangen.
Konferenzübersicht:
Matthias Becher (Bonn): Eröffnung
Michael Hoch (Rektor der Universität Bonn); Claudia Wich-Reif (Prodekanin der Philosophischen Fakultät Bonn): Grußworte
Bernd Schneidmüller (Heidelberg): Verklärte Macht und verschränkte Herrschaft. Vom Charme vormoderner Andersartigkeit
Matthias Becher (Bonn): Begrüßung und Einführung in das Tagungsthema
Andrea Maurer (Trier): Macht und Herrschaft als soziale Mechanismen. Ein altes Thema neu entdeckt?
Reinhard Emmerich (Münster): Die Autorität des chinesischen Dynastiegründers
Stefan Heidemann (Hamburg): The Apex of Late Antiquity – What Sets the Islamic Empire Apart? Territory, Capitals, and Elites
Jenny Rahel Oesterle (Heidelberg): Kulturelle und religiöse Differenzbearbeitung in Ibn Ishaqs Mohammedbiographie unter Berücksichtigung von Macht, Herrschaft, Schutz und Transkulturalität
Wolfram Drews (Münster): Die Wahrnehmung islamischer Herrschaft durch mozarabische Christen im 8. und 9. Jahrhundert
Barbara Schlieben (Berlin): Jedes Land hat seine Pest. Pest und Transkulturalität in Katalonien in der Mitte des 14. Jahrhunderts
Almut Höfert (Zürich): Historische transkulturelle Forschungsprojekte über Monarchien: Ein Praxisbericht über verschiedene methodische Zugänge und das Problem von Eurozentrismus und Kulturalismus
Daniel König (Heidelberg): Sprache und Herrschaft im mittelalterlichen Euromediterraneum. Transkulturelle Perspektiven
Thomas Ertl (Wien): Konsensuale Herrschaft – interkulturell betrachtet
Jürgen Paul (Halle-Wittenberg): Transkulturelle Ansätze in der Islamwissenschaft. Ein Erfahrungsbericht
Stephan Conermann (Bonn): Zusammenfassung