Während transatlantische Netzwerkgeschichten in den Geschichtswissenschaften an Interesse gewonnen haben, sind viele Perspektiven auf solche, besonders im Hinblick auf Anarchisten und Sozialisten des langen 19. und kurzen 20. Jahrhunderts, bisher noch nicht ausreichend untersucht worden. Im Mittelpunkt einer zweitägigen Tagung in Würzburg, die von Frank Jacob (New York) und Mario Keßler (Potsdam) in Zusammenarbeit mit der Rosa-Luxemburg-Stiftung organisiert worden war, standen daher Akteurinnen und Akteure innerhalb dieser Netzwerke des politischen Radikalismus.
Im ersten Panel widmete sich LUTZ HÄFNER (Bielefeld) den russischen Sozialrevolutionären, wobei deren europäische Wahrnehmung und die Verbindungen in die USA, wo regelmäßig finanzielle Unterstützung in Zirkeln russischer Emigranten eingeworben werden konnte, im Mittelpunkt der Betrachtung standen. Ergänzt wurden diese Betrachtungen im zweiten Vortrag von FELICITAS FISCHER VON WEIKERSTHAL (Heidelberg), die die Unterstützung russischer Revolutionäre in den USA zwischen 1880 und 1914 analysierte. Während bekannte Werke, wie etwa George Kennans (1845-1924) Arbeiten zum russischen Verbannungssystem, die pro-russische Wahrnehmung der russischen Revolutionsbewegung bedingten, waren es in den Vereinigten Staaten gegründete Vereine und Organisationen, etwa die Society of American Friends of Russian Freedom, die die Sammlung und den Transfer von Geldern zur Unterstützung der Revolutionäre übernahmen. Im Zuge dieser Ereignisse waren es vor allem russische Emigranten, die in den USA derlei Aktionen unterstützten bzw. koordinierten. REINER TOSSTORFF (Mainz) setzte die Untersuchung der persönlichen transatlantischen Beziehungen mit einem Diskurs der Zusammenarbeit der amerikanischen und deutschen Gewerkschaftsführer Samuel Gompers (1850-1924) und Carl Legien (1861-1920) fort. Zwischen 1896, als Gompers Legien in Europa zum ersten Mal traf, bis zum Ersten Weltkrieg, an dem die Kooperation der beiden Gewerkschafter zerbrach, waren es diese beiden, die eine Annäherung der Gewerkschaften in transatlantischer Perspektive bestimmten. Das erste Panel wurde schließlich von STEFAN BRAUN (Bochum) abgeschlossen, der sich der Frage widmete, inwiefern die deutsche Sozialdemokratie als trans-staatliche Gemeinschaft bzw. Identität, die durch das Sozialistengesetz begründet worden war, verstanden werden kann. Dabei argumentierte Braun im Sinne Andersons, dass die gemeinsame Erfahrung von Exil und Unterdrückung zur Etablierung einer imaginierten Gemeinschaft der exilierten Sozialdemokratie führte und der zudem eine messianische Aufgabe (die sich in der Unterstützung der deutschen Sozialdemokraten von außen zeitigen würde) bescheinigt wurde.
Das zweite Panel behandelte ausgewählte Exilerfahrungen in den USA, wobei RICCARDO ALTIERI (Würzburg / Potsdam) die Zeit zwischen 1941 und 1949/50, in der Rosi Wolfstein (1888-1987) und Paul Frölich (1884-1953) in den USA lebten und dort ein transatlantisches Netzwerk zu deutschen Freunden und politischen Weggefährten unterhielten, untersuchte, um die oben bereits angesprochenen Faktoren der Identität im Exil am dezidierten Fall der beiden KPD-Politiker abzuhandeln. Ergänzt wurde diese Perspektive durch den Vortrag von MARIO KESSLER (Potsdam), der die amerikanische Periode im Leben Ossip K. Flechtheims (1909-1998) analysierte und neben seinen entscheidenden Arbeiten zur Futurologie auch auf dessen Position innerhalb der deutschen „Exil-Community“ in den Vereinigten Staaten diskutierte.
Am zweiten Tag wurden im dritten Panel weitere US-Perspektiven beleuchtet. Während sich FRANK JACOB (New York) mit der Geschichte der Autonomen Industriekolonie Kusbass (1920-1926) und der damit verbundenen Werbung von amerikanischen Industriearbeitern auseinandersetzte, um zu zeigen, wie weit die versprochenen Utopien von den realen Gegebenheiten in Sibirien abwichen, stellte Hilary LAZAR (Pittsburgh) die Zeitschrift Man! vor und untersuchte deren Rolle für die Transnationalisierung des amerikanischen Anarchismus. Scott KRAUSE (Chapel Hill / Potsdam) schloss das Panel schließlich mit einer Analyse der Genese des sozialdemokratischen Antitotalitarismus nach dem Zweiten Weltkrieg im amerikanischen Exil, wobei er dafür den Zeitraum zwischen 1933 und 1963 eingehender betrachtete und darauf verwies, dass die politische Spaltung der deutschen Linken im Exil bereits die Frontverläufe des Kalten Krieges vorwegnahm.
Das vierte Panel erweiterte die bisher europäisch-nordamerikanische Perspektive um wichtige Untersuchungen im Hinblick auf Zentral- und Südamerika. CARLO ROMANI und BRUNO CORREA DE SÁ E BENEVIDES (Rio de Janeiro) stellten dazu zunächst die Bedeutung der brasilianischen Netzwerke italienischer Anarchisten in São Paulo zu Beginn des 20. Jahrhunderts vor, wobei besonders das Leben und Wirken Angelo Bandonis (1868-1940) im Fokus stand. JAMES MICHAEL YEOMAN (Sheffield) stellte danach die Rolle anarchistischer Publikationen im Zuge der Bauarbeiten des Panamakanals dar, wobei er nicht nur die transatlantischen Faktoren der zirkulierenden Publikationserzeugnisse in diesem geographischen und zeitlich determinierten Raum herausarbeitete, sondern auch die Interrelation zwischen schlechten Arbeitsbedingungen und einem Anwachsen anarchistischer Strömungen in Panama unterstrich. Abschließend referierte GEORG LEIDENBERGER (Mexiko-Stadt) über die Rolle des Architekten Hannes Meyer in den Zirkeln kommunistischer Exilanten in Mexiko. Meyer, der als pro-sowjetischer Vertreter zwar zwischen 1938 und 1949 viele andere Exilanten regelmäßig um sich scharte, ging im Gegensatz zu vielen anderen Exilanten davon aus, dass dieselben im Europa der Nachkriegszeit nicht gebraucht würden, weshalb sich Meyer selbst als Neo-Mexikaner verstand.
Insgesamt betrachtet konnten die Tagungsbeiträge zeigen, wie vielversprechend transatlantische Untersuchungsansätze im Hinblick auf Studien zum Anarchismus und Sozialismus des 19. und 20. Jahrhunderts sein können, es wurde jedoch gleichfalls offenbart, dass noch viel Forschungsarbeit zu den auf der Tagung behandelten Fragen und den damit verbundenen Themenstellungen geleistet werden kann und muss.
Konferenzübersicht:
Welcome Notes
Frank Jacob (City University of New York) / Mario Keßler (ZZF Potsdam)
European Perspectives
Lutz Häfner (Bielefeld University): Russian Social Revolutionary Terror, European Public, and American Capital
Felicitas Fischer von Weikersthal (Heidelberg University): Supporting Revolution – Russian Revolutionaries and Their Transatlantic Networks
Reiner Tosstorff (University of Mainz): Samuel Gompers – Carl Legien: A Transatlantic “Bromance“ of German and American Union Leaders
Stefan Braun (Bochum University): The German Social Democracy - A Trans-State Community and its Formation during the Anti-Socialist Laws 1878-1890
US Perspectives I
Riccardo Altieri (University of Potsdam): Damned to Do Nothing – The Transnational Network of Rosi Wolfstein and Paul Frölich in American Exile (1941-1949/50)
Mario Keßler (ZZF Potsdam): Ossip K. Flechtheim (1909-1998): Political Scientist and Futurologist between Europe and North America
US Perspectives II
Frank Jacob (City University of New York): Reversed Transatlantic Persperctives: The Kuzbass Autonomous Industrial Colony (1920-1926)
Hillary Lazar (University of Pittsburgh): Man! and the International Group: Transnational Anarchism, International Solidarity, and Depression-Era Ethnic Radicalism
Scott Krause (ZZF Potsdam): First We Take Manhattan, then We Take Berlin: The Roots of German Postwar Social Democracy’s Antitotalitarianism in American Exile, 1933-63
Latin and South America
Carlo Romani / Bruno Corrêa de Sá e Benevides (University Federal of the State of Rio de Janeiro, Unirio): The Italian Anarchists Network in São Paulo in the Beginning of the 20th Century
James Michael Yeoman (University of Sheffield): The Panama Papers: Transatlantic Anarchist Press Networks Across Spain and the Canal Zone in the Early Twentieth Century
Georg Leidenberger (Universidad Autónoma Metropolitana, Mexico City): Architect Hannes Meyer and the German-and Italian-speaking Communist Exile-Communities in Mexico
Final Remarks