Eine Debatte über das Verhältnis von Globalgeschichte und „Außereuropäischer Geschichte“ erscheint mir hochwillkommen, auch deshalb, weil die erste große Welle der Globalgeschichte etwas abgeflaut zu sein scheint und nun eine Reflexion zum Verhältnis der beiden Zugänge zur Geschichte sinnvoll sein könnte. In meinem Beitrag werde ich weniger aus der Perspektive einer Globalhistorikerin sprechen, als vielmehr aus derjenigen der Lateinamerikahistorikerin. Dahinter steht zunächst keine Wertung der einen oder anderen Richtung, die Perspektive ist vielmehr meiner Ausbildung und Tätigkeit sowie meinen Forschungsinteressen geschuldet.
Als Lateinamerikahistorikerin ist es allerdings eigentlich kaum möglich, nicht auch über Verflechtungen der Region mit anderen Weltregionen nachzudenken. Dies liegt erstens daran, dass der Raum bzw. die Vorstellung einer Zusammengehörigkeit des Teilkontinents ja überhaupt erst durch die Verflechtungsprozesse im Zuge der Errichtung des spanischen und portugiesischen Imperiums in Amerika entstanden ist. Vor der Eroberung durch Europäer gab es zwar zwischen unterschiedlichen Herrschaftsbereichen in Amerika Verbindungen über Migration und Handel, wenngleich nicht zwischen allen Regionen; eine Idee des Kontinents und einer Zusammengehörigkeit über politische Grenzen hinweg bestand allerdings nicht. Erst die Sicht von außen brachte langfristig eine solche Idee hervor, der Begriff „Lateinamerika“ entstand sogar erst um die Mitte des 19. Jahrhunderts1, hier schon in Abgrenzung zum anglophonen Amerika, also erneut aufgrund von weltregionalen Beziehungen.
Zweitens ist die Entwicklung der Teildisziplin der lateinamerikanischen Geschichtsschreibung dafür verantwortlich, dass die Verbindungen zu anderen Regionen immer schon Teil der Überlegungen waren, weil sie erst mit der Entdeckung durch die Europäer beginnt. In den Aufgabenbereich der lateinamerikanischen Geschichte fällt traditionell die Zeit ab 1492, die Zeit davor wird in der Regel in anderen Disziplinen behandelt, etwa der Altamerikanistik. Das ist in der Entstehung abgesehen von einem eurozentrischen Dünkel2 auch dem Umstand geschuldet, dass die vielen verschiedenen altamerikanischen Kulturen weniger Schriftzeugnisse hinterlassen haben bzw. viele dieser Zeugnisse im Zuge der Conquista zerstört wurden. Außerdem waren die Schriftsysteme bzw. die Aufzeichnungssysteme gänzlich anders ausgebildet als die europäische Schrifttradition, weshalb hier andere Kenntnisse und Analysemethoden notwendig sind als sie üblicherweise in der Ausbildung von Historiker/innen gelehrt werden. Außerdem sind archäologische Methoden in der Erforschung altamerikanischer Kulturen zentral.
So muss also festgehalten werden, dass ein wesentlicher Teil der Geschichte der Region(en), die heute unter dem Label „Lateinamerika“ zusammengefasst werden, außerhalb der Geschichtswissenschaft als Disziplin und damit auch außerhalb von Historischen Instituten betrieben wird. Leider ist aber zu konstatieren, dass die Altamerikanistik als wichtigste Nachbardisziplin der lateinamerikanischen Geschichte in Deutschland in den vergangenen Jahren erheblich an Stellen eingebüßt hat. Dies ist auch insofern bedauerlich, als dass hier neben wichtigen Perspektiven auch wertvolle Expertise z.B. in Bezug auf die Entzifferung von Hieroglyphen, Piktogrammen und Sprachen im deutschen Universitätssystem verloren gehen. Gerade die Kenntnis indigener Sprachen und auch kultureller Codes hat aber in den letzten Jahren zu einer erheblichen Perspektivenverschiebung in einigen Bereichen der lateinamerikanischen Geschichte geführt. Besonders prominent geschieht dies in der neuen Geschichtsschreibung zur Conquista.3
Der Gegenstand bzw. der Raum der Geschichtsschreibung zu Lateinamerika ist also eine historische Konstruktion, zu deren Verständnis neben der Verflechtung zwischen Amerika und Europa noch diejenigen Verbindungen zwischen Afrika und Amerika gehören. Auch wenn hier häufig bis heute das Bild des Dreieckshandels zwischen Europa, Afrika und Amerika aufgerufen wird, muss man doch feststellen, dass die konkreten Verbindungen schnell zu Süd-Süd-Verbindungen wurden, in denen zwar noch teilweise Europäer eine Rolle spielten, nicht jedoch Europa direkt involviert war. Diese Verflechtungen rissen keineswegs mit dem Ende des Sklavenhandels ab, sie lassen sich vielmehr auch nach der Unabhängigkeit der lateinamerikanischen Länder und der Abolition der Sklaverei, die teilweise sehr viel später erfolgte, nachvollziehen, etwa in der „Re-migration“ von Nachfahren von Sklaven an die afrikanische Westküste oder auch in der Unterstützung afrikanischer Befreiungsbewegungen durch lateinamerikanische Revolutionäre. Die Untersuchung gerade der Süd-Süd-Verbindungen ist in den letzten Jahren verstärkt in den Fokus der lateinamerikanischen Geschichte bzw. der atlantischen Geschichte geraten.4
Das Verhältnis Lateinamerikanischer Geschichtsschreibung zur Globalgeschichtsschreibung und umgekehrt
Obwohl also Verflechtungen konstitutiv für Lateinamerika und seine Geschichte sind, lautet der unmittelbare Befund zur Frage nach dem Verhältnis der lateinamerikanischen Historiographie zur Globalgeschichtsschreibung: Es gibt nur wenige – viel zu wenige – Verbindungen zwischen diesen Richtungen. Dies gilt für die Geschichtsschreibung in den einzelnen lateinamerikanischen Ländern ebenso wie für die Historiographie, die gewissermaßen von außen aus den USA oder Europa, weniger aus Asien und Afrika, auf Lateinamerika blickt. Der Eindruck vermittelt sich keineswegs nur bei deutschen Publikationen, sondern auch dann, wenn Literatur aus den USA, in der die lateinamerikanische Geschichtsschreibung einen wesentlich bedeutenderen Stellenwert hat als hierzulande, in den Blick kommt. Beiträge zu Lateinamerika sind in den boomenden Readern zur Globalgeschichte eher selten zu finden. Auch viele der in den letzten Jahren erschienenen Monographien, die beanspruchen, Globalgeschichte zu betreiben, erwähnen Lateinamerika zwar teilweise, die Region bleibt allerdings häufig seltsam unterbelichtet.5 Auch wenn man Globalgeschichte nicht als Geschichtsschreibung über die (fast) ganze Welt verstehen möchte, sondern darin eher einen Zugang zum Verständnis der Vergangenheit sieht, so bleibt es doch eine paradoxe Situation, dass ausgerechnet diejenige Weltregion, in der sich interkontinentale Verflechtungen seit der Frühneuzeit am stärksten zeigten und bis auf die lokale Ebene die stärksten Einflüsse hatten, am wenigsten einbezogen wird in Überlegungen zur Globalgeschichte und dort, wo dies geschieht, häufig nur auf der Grundlage von relativ alten Überblickswerken, die notwendigerweise den neueren Forschungsstand zu entsprechenden Problemen nicht wiedergeben.
Der Grund für die relativ geringe gegenseitige Wahrnehmung ist sicher nicht nur auf einer Seite zu suchen. Viele Lateinamerikahistoriker/innen sind vielleicht bisher zu wenig offen für die Globalgeschichtsschreibung und die sich darum rankenden Diskussionen gewesen. Hier spielt vermutlich das Sprachproblem für denjenigen Teil der Historiker/innen, die in Lateinamerika arbeiten, eine große Rolle (häufig ist dort Französisch die Zweitsprache und nicht Englisch), aber sicher nicht nur. Hinzu kommt für Historiker/innen aus Lateinamerika auch, dass der akademische Betrieb stark auf die Nationalgeschichtsschreibung ausgerichtet ist. Neben der postkolonialen Situation spielt hier auch die wirtschaftliche Ausstattung der Universitätssysteme eine wichtige Rolle. Geld für Forschungen in anderen Regionen steht häufig nicht zur Verfügung.
Aber auch der Umstand, dass zum historischen Nachdenken über Lateinamerika die genannten Verflechtungsprozesse in der einen oder anderen Weise dazugehörten, hat dazu beigetragen, dass die Globalgeschichte als Verflechtungsgeschichte den Lateinamerikahistoriker/innen nicht als rasend neu erschien. Im Folgenden möchte ich anhand von viereinhalb Thesen diskutieren, warum Lateinamerika in der Globalgeschichtsschreibung bisher eher ein Schattendasein führt.
Erstens (und ein halbes): Lateinamerika passt nicht in die üblichen Epocheneinteilungen, wenn es um die außereuropäische Welt geht, und nicht in die mentalen Bilder von Europahistoriker/innen, wenn es um ähnliche Epocheneinteilungen wie in Europa geht.
Häufig wird die Nichtbeachtung der lateinamerikanischen Geschichte in globalhistorischen Darstellungen mit der atypischen Entwicklung des Kontinents erklärt (wobei natürlich zu fragen bliebe, ob es so etwas wie eine typische Entwicklung ganzer Kontinente überhaupt geben kann). Damit ist jedenfalls die im Vergleich zu Asien und Afrika epochal verschobene Kolonisierung durch europäische Mächte gemeint. Formale Kolonialherrschaft begann hier bereits früh (im 15./16. Jahrhundert) und währte drei Jahrhunderte. Aber auch die politische Unabhängigkeit der meisten lateinamerikanischen Länder kam bereits zu Beginn des 19. Jahrhunderts, mithin über ein Jahrhundert eher als in Afrika und Asien. Der lateinamerikanische Fall lässt sich schon deshalb nicht umstandslos einpassen in Überblicksdarstellungen, in denen die koloniale Ausdehnung Europas seit 1700 bis hin zum Imperialismus und Hochimperialismus im 19. Jahrhundert und dann die Phase der Dekolonisierung im 20. Jahrhundert behandelt werden. Lateinamerika fällt aus der Zeit – es war gewissermaßen zu früh kolonisiert und auch zu früh unabhängig, um einfach in globalhistorische Erzählungen über Kolonialismus und Dekolonisierung eingepasst werden zu können.
Diese epochalen Unterschiede trugen eben dazu bei, dass die Umstände und Bedingungen von Kolonisierung und Dekolonisierung sich von den Prozessen in Afrika und Asien unterschieden. Die lateinamerikanische Unabhängigkeit, da sind sich Lateinamerikahistoriker/innen einig, war Teil der atlantischen Revolutionen. Für viele Europahistoriker/innen ist dies bis heute wohl bestenfalls zweifelhaft, wenn es nicht einfach außerhalb des Horizonts steht. Und auch obwohl die Unabhängigkeit in Lateinamerika einen prominenten Fall in Benedict Andersons Buch über die Erfindung der Nation darstellte, ist der Befund, dass Nationen „imagined communities“ sind, zwar schnell und umfänglich aufgegriffen worden, der lateinamerikanische Fall allerdings hat deshalb keineswegs größere Beachtung in anderen historiographischen Zirkeln gefunden.6
Im Hinblick auf die Geschichte des 19. Jahrhunderts bleibt es vielfach auch dabei, dass der lateinamerikanische Fall – immerhin waren hier sehr viel früher als in Europa fast ausschließlich republikanische Systeme zu finden und nach der Unabhängigkeit war die Staatsbürgerschaft in vielen Ländern sehr viel breiter gefasst als in Europa7 – als defizitärer Abklatsch der europäischen Nations- und Staatsbildung gefasst wird. Dabei könnte es fruchtbarer sein, anhand der unterschiedlichen Wege in national begründete Verfassungsstaaten über die Ursachen dieser Unterschiede zu reflektieren und damit die Pfadabhängigkeit solcher Entwicklungen in den Blick zu nehmen. Gefragt wäre also hier, wie in vielen anderen Problembereichen, nach einer Perspektive, die die vielen Wege in die Moderne, bzw. die multiplen Modernen, wie sie schon von Eisenstadt formuliert wurden, ernst nimmt.8
Zweitens: Der moderne akademische Trend erzeugt Aufmerksamkeitswellen, oder: Lateinamerika ist gerade nicht „chic“.
Seit dem Erfolg der kubanischen Revolution 1959 zog Lateinamerika ein gesteigertes Interesse auf sich. Für die einen eher Ausdruck einer Gefahr (dies trug zur Ausbildung der Area Studies bei), stellte es für andere eher die Verwirklichung von revolutionären Utopien dar, die es zu unterstützen galt. Mit dem öffentlichen Interesse an der Gegenwart stieg auch ein institutionelles Interesse in den Universitäten. In den verschiedenen geistes- und sozialwissenschaftlichen Disziplinen wurden entweder Lehrstühle mit entsprechender regionaler Denomination geschaffen (dies war in Geschichte der Fall), oder es wurden Professuren mit systematischer Bezeichnung mit Fachvertreter/innen besetzt, die zu Lateinamerika arbeiteten (wie dies in der Soziologie und Politikwissenschaft häufig der Fall war).
Mit dem boomenden Interesse an Lateinamerika änderte sich die Sichtweise auf die Rolle Europas in der Geschichte Lateinamerikas seit den 1960er-Jahren erheblich. Nun stand statt des vermeintlich zivilisierenden Einflusses die Unterdrückung und Ausbeutung des Kontinents durch Europa und die USA im Vordergrund. Dieser Perspektivwechsel brachte allerdings nicht unbedingt eine neue Sichtweise über die Hauptakteure in der lateinamerikanischen Geschichte mit sich. Sie galten zwar nun nicht mehr als Helden, sondern als Täter, trotzdem blieb es dabei, dass sie außerhalb der Region angesiedelt schienen. Die Bevölkerung vor Ort, oder gar die subalterns, wurden hingegen noch kaum als Subjekte der Geschichte angesehen. Dies sollte sich erst seit den 1980er-Jahren ändern.
Die Konzentration auf die wirtschaftliche Ausbeutung Lateinamerikas und die Analyse ihrer langen Geschichte brachte die Dependenztheorie hervor, die lange Jahre die Diskussionen um die Beziehungen zwischen der sogenannten Dritten Welt und den Industrieländern bestimmte und zur Weltsystemtheorie weiterentwickelt wurde.9
Die Befreiungstheologie, deren Wurzeln in Lateinamerika lagen, erregte ebenfalls eine hohe Aufmerksamkeit weit über die Grenzen des Kontinents hinweg. Gleiches gilt für die sozialistische Regierung Chiles unter Präsident Salvador Allende und den 1973 erfolgten Militärputsch mit der nachfolgenden Militärdiktatur sowie für die Bürgerkriege und Revolutionen in Zentralamerika. All die politisch linken Projekte in Lateinamerika scheiterten allerdings im Großen und Ganzen und wohl auch deswegen fand eine Abwendung von Lateinamerika statt.
Das gesteigerte Interesse an Lateinamerika, das auch in die Geschichtswissenschaft ausstrahlte, ist heute nicht mehr gegeben; Lateinamerika ist sozusagen nicht mehr in Mode, sondern scheint eher allzu bekannt zu sein. So sah es jedenfalls ein Kollege, mit dem ich – zugegebenermaßen schon vor etwas längerer Zeit – wegen einer für „außereuropäische Geschichte“ ausgeschriebenen Stelle telefonierte. Er sagte mir, dass er Lateinamerika nicht als die interessanteste Region sehe, da sie nicht so „exotisch“ wie Afrika und nicht so zukunftsträchtig wie Asien sei. Zwar sind Aufmerksamkeitswellen durchaus üblich, trotzdem bleiben sie natürlich in der Historiographie fragwürdig, wenn damit ganze Weltregionen ausgeblendet werden. Hinzu kommt, dass sich in Lateinamerika einige Phänomene studieren lassen, die heute auch in anderen Weltregionen verstärkt in der Debatte sind, etwa wenn es um Populismus geht oder die Frage des guten Lebens („buen vivir“) aufgeworfen wird.
Drittens: Die Globalgeschichte privilegiert diejenigen Regionen, die mit dem letzten großen Imperium, nämlich dem British Empire, in Verbindung standen.
Die Globalgeschichte speist sich heute zu einem großen Teil aus Untersuchungen, die sich auf Regionen des ehemaligen British Empire konzentrieren. Dies hat sicher nicht nur, aber eben auch, mit Sprachkompetenzen zu tun. Englisch ist heute allgegenwärtig, unter „international“ wird auch im universitären Bereich all das verstanden, was sich am akademischen Betrieb der USA und Großbritanniens orientiert. Publikationen gelten nur dann als hochwertig, wenn sie in englischsprachigen US-amerikanischen oder britischen Zeitschriften erscheinen, als anerkannte Verlage gelten nur große Fachverlage in Großbritannien und den USA etc. Dies birgt allerdings für diejenigen, die sich in einem anderen Sprachraum bewegen, recht große Gefahren. Ein historiographischer Verlust von Vielfalt stellt eines der Risiken dar, denn mit der Sprache und den Publikationsorten geht häufig eine Anpassung an Denktraditionen und Darstellungsgepflogenheiten einher.
Auch wenn ein großer Teil der Lateinamerikaforschung nicht in der Region selbst publiziert wird, so ist es doch höchst problematisch, die spanisch- und portugiesisch-sprachige Literatur als irrelevant links liegen zu lassen bzw. Forschungsergebnisse und Konzepte aus der Region erst dann wahrzunehmen, wenn sie durch eine englischsprachige Vermittlung gegangen sind. So kommt es dann auch dazu, dass Konzepte, die von Wissenschaftler/innen in Lateinamerika entworfen wurden, denjenigen zugeschrieben werden, die sie erstmals in englischen Veröffentlichungen nutzten. Dies gilt z.B. für den Begriff der „strukturellen Gewalt“, der mit dem Namen Johan Galtung verbunden ist. Dass allerdings ein solches Konzept in vielen lateinamerikanischen Ländern unter der Bezeichnung „violencia institucional“ bereits in den 1960er-Jahren breit diskutiert wurde, ist nur wenigen bekannt.
Selbst in solchen Studien, die transnationale Verbindungen hervorheben und teilweise sehr einflussreich geworden sind, existiert Lateinamerika gewissermaßen nur am Rande. Dies gilt z.B. für Paul Gilroys „Black Atlantic“, in dem nicht nur auffällt, dass Afrika eigentlich nicht präsent ist; auch Lateinamerika fällt aus seiner Erzählung weitgehend heraus. Haiti findet viermal Erwähnung, Brasilien sogar nur zweimal, jedoch kein weiteres Land Lateinamerikas. Nimmt man das Konzept des „Schwarzen Atlantiks“ allerdings ernst, dann darf Lateinamerika genauso wenig fehlen wie Afrika. Zwar ist es natürlich richtig, dass ein Autor in einem Buch nicht alles sagen kann, Gilroys Kritik an den Cultural Studies und dem „ethnic absolutism that currently dominates black political culture“10 hätte aber an theoretischer Tiefe gewinnen können, wenn er Studien über Lateinamerika und Konzepte aus Lateinamerika11 zur Frage nach Kultur und Kulturwandel der afrikanischstämmigen Bevölkerung in der Region integriert hätte.
Viertens: In der Historiographie zu Lateinamerika fand in den vergangenen Jahrzehnten eine Dezentrierung, eine Hinwendung zum Lokalen, Besonderen und zu den unteren Bevölkerungsschichten, besonders zu indigenen und afrikanisch-stämmigen Bevölkerungsgruppen statt.
Zwar waren Verflechtungen, die damals noch nicht so bezeichnet wurden, in der lateinamerikanischen Geschichtsschreibung von Anfang an konstitutiv, allerdings bedeutet dies nicht, dass es aus heutiger Sicht nichts an den frühen Studien zu kritisieren gäbe. Die Akteure waren oft die Spanier bzw. Portugiesen, während die Angehörigen der anderen Bevölkerungsgruppen in den kolonialen und postkolonialen Gesellschaften als Akteure kaum eine Rolle spielten. Dies sollte sich seit den 1960er-Jahren ändern und stand mit gesellschaftlichen Entwicklungen in Verbindung. Es entstanden vermehrt soziale Bewegungen, in denen die ethnische Zugehörigkeit ihrer Mitglieder als Ursache für Diskriminierung gesehen und die Forderung von gesellschaftlicher Teilhabe von Indigenen und Afroamerikanern erhoben wurde. Dies war für die indigene Bevölkerung wesentlich markanter als für diejenige mit afrikanischen Wurzeln und schlug sich in dem Schlagwort der Re-Indianisierung Lateinamerikas nieder.12 In der Historiographie lässt sich für die letzten Jahrzehnte ebenfalls eine Hinwendung zur indigenen Bevölkerung nachvollziehen. Dabei kommt es bei verschiedenen Themen zu einer Neubewertung. So z.B. bei der vermeintlich mehr oder weniger kompletten Christianisierung durch die Spanier und Portugiesen. Es stellte sich heraus, dass der Wandel im Zusammenhang mit den Christianisierungsbemühungen keineswegs nur in eine Richtung verlief und insgesamt der Prozess der Glaubenskonversion wesentlich komplexer, facettenreicher und letztlich auch unvollständiger war als bis dahin angenommen. In Studien zu kulturellem Wandel werden neuerdings stärker gegenseitige Einflüsse in den Blick genommen, und der Behauptung der einseitigen Anpassung der indigenen Bevölkerung an die spanische Kultur eine Absage erteilt. Ebenso zeigen neuere Studien zur Kolonialherrschaft der Spanier, dass sie keineswegs so umfassend war, wie lange angenommen. Um zu solchen Ergebnissen gelangen zu können, bedarf es allerdings der Kenntnis indigener Sprachen.13 Während also in der Globalgeschichte ein Trend darin bestand, größere politische Zusammenhänge wie z.B. das Britische Imperium in den Blick zu nehmen und hier zu einer neuen Bewertung der Anteile unterschiedlicher,- auch indigener Akteursgruppen bei der Durchsetzung der Herrschaft zu kommen, ging der Trend der Dezentrierung in der lateinamerikanischen Geschichtsschreibung dahin, auf lokale Ebenen zu gehen und Herrschaft und deren Aushandlung vor Ort zu untersuchen. Zur Debatte um Glokalisierung leisten diese Untersuchungen einen wichtigen Beitrag und sie könnten für Vergleiche mit anderen Herrschaftsbeziehungen interessant sein.
Fazit
Die Globalgeschichtsschreibung hat zweifellos in den letzten Jahrzehnten eine Reihe wichtiger Studien und Tendenzen hervorgebracht, etwa in der Geschichte von Warenströmen und der Zirkulation von Wissen in unterschiedlichen Räumen. So ist die Verflüssigung von Raumkonzepten eine wichtige Neuerung. Die Debatten um Methoden und Herangehensweisen sind ebenfalls fruchtbar gewesen und haben einen Beitrag dazu geleistet, dass neben Europa und Osteuropa sowie dem anglophonen Nordamerika weitere Weltregionen heute auf ein größeres Interesse in der Geschichtsschreibung stoßen. Außerdem ist in den letzten Jahren eine Reihe von historischen Analysen erschienen, die einen räumlich sehr weiten Blick einnehmen, nun aber unter anderen Vorzeichen als frühere Weltgeschichten, in denen die Europäer doch stets die Akteure waren. Die Anstöße dazu sind allerdings zu einem großen Teil aus Historiographien zu bestimmten Weltregionen gekommen – etwa den subaltern studies aus Indien.
In der deutschen Debatte war und ist die Begeisterung für die Globalgeschichte angesichts der nicht gerade gut verankerten Geschichte derjenigen Regionen, die gemeinhin als außereuropäisch in einen Topf geworfen werden, so zwar einerseits zu begrüßen. Andererseits scheint mir hier eine gewisse Gefahr darin zu liegen, dass die afrikanische(n), asiatische(n), lateinamerikanische(n) und ozeanische(n) Geschichte(n) in den Hintergrund gedrängt werden zugunsten der Betonung von Verflechtungen, in denen Europa und die USA immer auch eine Rolle spielten. Dies würde der Komplexität und Vielfalt der genannten Geschichten aber nicht gerecht werden. Um sie in den Blick zu nehmen, bedarf es entsprechender Kompetenzen, die sich schlecht mal eben bei Bedarf erwerben lassen, sondern einer soliden Ausbildung bedürfen.
So wichtig die Frage nach den Beziehungen zwischen verschiedenen Weltregionen, ihren Folgen und dem durch sie verursachten Wandel auch sind, es gibt Fragen zu Gesellschaften in anderen Weltregionen, die ebenfalls wichtig sind und in denen etwaige Verflechtungen mit entfernten Regionen in den Hintergrund treten oder gar keine Rolle spielen. Solche Fragenkomplexe werden von Historiker/innen beantwortet, deren Expertise in einer bestimmten Region liegt, die über die entsprechenden Sprachkompetenzen verfügen, die Archivsituation kennen und sich selbst in die Archive vor Ort, und wenn die Fragestellung es erfordert bis hinunter in Provinz- und Lokalarchive begeben, und die schließlich auch mit den Kolleg/innen in den entsprechenden Regionen im Austausch stehen. Nur so lässt sich auf Dauer eine Vielfalt der Perspektiven aufrechterhalten, in denen die europäische/nordamerikanische nur eine unter vielen ist. Auch dies ist Teil eines Dezentrierungsprozesses. Allerdings kann dies nur gelingen, wenn wir von denjenigen Historiker/innen, die nicht aus den jeweiligen Regionen stammen, zu denen sie forschen oder schreiben, die gleichen Standards verlangen, wie von jeder/m Europahistoriker/in auch. (Umgekehrt allerdings sollten wir auch nicht mehr Kompetenzen verlangen – etwa wenn von Historiker/innen, die zu anderen Kontinenten arbeiten, umstandslos erwartet wird, dass sie in ihren wissenschaftlichen Interessen problemlos von einem Land zum nächsten wechseln könnten und sollten.) Es reicht eben nicht, außereuropäische Regionen nur durch die Linse der von den Kolonialregierungen produzierten Dokumente in den entsprechenden Zentralarchiven dieser Kolonialmächte zu untersuchen oder nicht selbst in die entsprechenden Archive zu gehen, sondern Assistent/innen dorthin zu schicken. Deshalb, da würde ich mich der Stellungnahme von Margrit Pernau und Helge Jordheim in diesem H-Soz-Kult-Forum anschließen, wäre Globalgeschichte in vielen Fragen besser ein Teamprojekt, in dem die relevanten Regionalexpertisen vertreten sind.
Wir sollten zu einer Geschichte der Weltregionen kommen, in der der Zuschnitt des jeweiligen Untersuchungsraumes abhängig davon ist, welches Erkenntnisinteresse im Vordergrund steht. Die Akzeptanz einer Geschichte aller Weltregionen als gleichberechtigt bzw. gleich wichtig für das Verständnis der heutigen Welt würde notwendigerweise zum Zusammenschnurren der Bedeutung Europas/des „Westens“ oder seiner Provinzialisierung führen, denn selbst in Zeiten formaler Kolonialherrschaft waren eben die europäischen Akteure und Wissenssysteme keine allmächtigen bzw. allumfassenden Faktoren in der Geschichte der kolonisierten Gesellschaften. Und in manchen Zeiten und Regionen interessierten sich die Akteure schlichtweg nicht dafür, was Europäer taten oder wollten, weil es für sie keine Rolle spielte.14 Dies heißt jedoch nicht, dass eine Geschichtsschreibung über diese Aspekte vergangener Gesellschaften deshalb keine relationale Geschichte ist, denn um Beziehungen geht es ja auch in der Sozialgeschichte, in der Geschichte unterschiedlicher Gruppen, die wir heute unter dem Begriff „subalterns“ fassen. Der Begriff selbst zeigt schon eine Beziehung an.15
Für eine gleichberechtigte Geschichtsschreibung zu allen Weltregionen und für einen Dialog mit diesen Historiographien wäre es neben einer allgemeinen Offenheit auch wichtig anzuerkennen, dass die Sprachenvielfalt ein hohes Gut ist, dem in der akademischen Welt Rechnung getragen werden sollte. Zum Verständnis einer Welt, die wir als globalisiert bezeichnen, würde es allemal beitragen, wenn wir mehr über die Geschichte ihrer Regionen wüssten sowohl im Sinne einer Verflechtungsgeschichte als auch im Sinne einer Geschichte unterschiedlicher Weltregionen mit verschiedenen Wegen in die Moderne. Beide Zugänge haben nicht nur gleichermaßen ihre Berechtigung, sie sind auch ebenso gleichermaßen notwendig.
Anmerkungen:
1 1856 benutzte der Chilene Francisco Bilbao die Formulierung América Latina und ein Jahr später der Kolumbianer José María Torres Caicedo in seinem Gedicht „Las dos Américas“.
2 Eric Wolf, Europe and the People without History, Berkeley 1982.
3 Matthew Restall, The New Conquest History, in: History Compass 10,2 (2012), S. 151-160.
4 Vgl. z.B. Robin Law, The Evolution of the Brazilian Community in Ouidah, in: Kristin Mann / Edna G. Bay (Hrsg.), Rethinking the African Diaspora: The Making of a Black Atlantic World in the Bight of Benin and Brazil, London 2001, S. 22-41; Christine Hatzky, Kubaner in Angola. Süd-Süd-Kooperation und Bildungstransfer, 1976-1991, München 2012.
5 Vgl. z.B. Christopher A. Bayly, The Birth of the Modern World, 1780-1914, Malden 2004.
6 Benedict Anderson, Imagined Communities. Reflections on the Origin and Spread of Nationalism, London 1983.
7 Vgl. z.B. Silke Hensel, The Symbolic Meaning of Electoral Processes in Mexico in the Early 19th Century, in dies. et al. (Hrsg.), Constitutional Cultures. On the Concept and Representation of Consitutions in the Atlantic World, Cambridge 2012, S. 375-402.
8 Shmuel N. Eisenstadt, Multiple Modernities, New Brunswick 2002.
9 André Gunder Frank, Capitalism and Underdevelopment in Latin America. Historical Studies of Chile and Brazil, New York 1967; Enzo Faletto / Fernando Henrique Cardoso, Dependencia y desarrollo en América Latina. Ensayo de interpretación sociológica, 24. Aufl. Mexiko-Stadt 1990; Immanuel Wallerstein, The Modern World-System: Capitalist Agriculture and the Origins of the European World Economy, New York 1986.
10 Paul Gilroy, The Black Atlantic. Modernity and Double Consciousness, Cambridge, Mass. 2005, S. 5.
11 Etwa das Konzept der Transkulturation von Fernando Ortiz, Contrapunteo cubano del tabaco y el azúcar, Barcelona 1973 (1. Ausg. 1940) oder die Überlegungen von Sidney W. Mintz / Richard Price, The Birth of African-American Culture. An Anthropological Perspective, Boston 1992.
12 Vgl. z.B. Stephan Scheuzger, Die Re-Ethnisierung gesellschaftlicher Beziehungen – neue indigene Bewegungen, in Martina Kaller-Dietrich et al. (Hrsg.), Lateinamerika. Geschichte und Gesellschaft im 19. und 20. Jahrhundert, Wien 2004, S. 153-174.
13 Eine wichtige Studie, die weitere solcher Untersuchungen anstieß, war James Lockhart, The Nahuas after the Conquest. A Social and Cultural History of the Indians of Central Mexico, Sixteenth through Eighteenth Centuries, Stanford 1992.
14 Frederick Cooper, Colonialism in Question. Theory, Knowledge, History, Berkeley 2005.
15 Vgl. Natalie Zemon Davis, Decentering History. Local Stories and Cultural Crossings in a Global World, in: History and Theory 50 (2011), S. 188-202.