Nationale Identität und transnationale Verflechtung. Ostmitteleuropa im "langen" 19. Jahrhundert

Nationale Identität und transnationale Verflechtung. Ostmitteleuropa im "langen" 19. Jahrhundert

Organizer
Deutsches Historisches Institut Warschau
Venue
DHIW, Al. Ujazdowskie 39; 00-540 Warschau
Location
Warschau
Country
Poland
From - Until
11.10.2012 - 13.10.2012
Deadline
31.01.2012
Website
By
PD Dr. Ruth Leiserowitz

Die Herausbildung einer nationalen Ordnung der Staatenwelt am Ende des „langen“ 19. Jahrhunderts war weder eine natürliche, noch eine alternativlose oder unumstrittene Entwicklung; sie war ein von Menschen gestalteter Prozess mit offenem Ende. Ziel der geplanten Konferenz ist es, diesen Prozess im Kontext der Verdichtung und Beschleunigung von Kommunikations- und Austauschprozessen zu diskutieren, die im 19. Jahrhundert auch Ostmitteleuropa erfassten. Moderne Verkehrsmittel und Nachrichtentechniken erhöhten die Mobilität von Menschen und Informationen gleichermaßen. Industrialisierung, Urbanisierung und die zunehmenden staatlichen Ordnungsversuche weiter Lebensbereiche erzeugten Widersprüche und regionale Ungleichzeitigkeiten und brachten eine neue Schicht von Gebildeten hervor, die diese Neuerungen zugleich thematisierten und mitgestalteten. Diese Prozesse führten zur Verbreitung miteinander konkurrierender Wissenssysteme und politischer Ideologien, die jeweils universelle Gültigkeit beanspruchten. Eines dieser miteinander konkurrierenden Wissenssysteme gründete auf der Vorstellung, dass die Menschheit in Nationen aufgeteilt sei. Wenngleich nationales Denken einen Rahmen zur Konstruktion partikularer politischer und kultureller Gemeinschaften vorgibt, verweist es immer auch auf die globale Dimension, wonach alle Menschen in abgegrenzte Nationen eingeteilt und diese legitime Akteure der Weltgeschichte seien.

Im Mittelpunkt der Konferenz sollen daher keine isolierten „Nationalbewegungen“ stehen, sondern unterschiedliche Akteure oder Akteursgruppen, die mit ihren Handlungen und Deutungsangeboten in den Prozess der Ausbreitung nationalen Denkens eingriffen oder von ihm betroffen waren. In den Blick geraten Wechselbeziehungen und Aushandlungen zwischen Staatsmacht und unterschiedlichen politischen Handlungsträgern, die Erfahrung von Emigration und politischem Exil sowie ihre Übersetzung auf lokaler, regionaler und europäischer Ebene, das Aufkommen internationaler Kongresse und Organisationen, die universelle Ziele verfolgten, Unterschiede aber auch erfahrbar machten und ihnen eine bestimmte politische Bedeutung beimaßen. Um der historischen Dynamik gerecht zu werden, sollen weiter die Auswirkungen einschneidender Ereignisse für die untersuchten Akteure und ihre Agenda situativ und in längerer Perspektive herausgearbeitet werden. Zu denken ist hierbei an die polnischen Aufstände sowie insgesamt den Wandel der „polnischen Frage“ im 19. Jahrhundert, an den österreichisch-ungarischen Ausgleich, die deutsche Reichsgründung sowie Kulturkampf und Sozialistengesetze, die Revolution von 1905 in Russland, den Kriegsbeginn und -verlauf sowie der Untergang der Imperien und die Etablierung einer nationalstaatlichen Nachkriegsordnung.

Wir bitten um Beitragsvorschläge zu den drei folgenden Fragekomplexen:

I) „Mobilität und Verdichtung“ Grenzüberschreitungen und Migration als Motor von Veränderungen
Im Untersuchungszeitraum kam es einerseits zu einer internationalen Angleichung, die sich von Formen der politischen und sozialen Organisation bis hin zu individuellen Lebensstilen erstreckte. Gleichzeitig verliehen die Ideen und Institutionen der Moderne in ihren jeweiligen lokalen und partikularen Kontexten dem Gefühl kultureller Differenz eine neue Bedeutung und machten Ungleichheiten bewusst. Voraussetzung hierfür war die Verdichtung grenzübergreifender Kontakte und die damit verbundene Zunahme von interkulturellem Austausch.
- Wer waren die Träger dieser Verdichtung und wie veränderten sich ihre Vorstellungen und Handlungsmöglichkeiten durch die Erfahrungen von Unterschieden?
- Welche Wechselwirkungen entstanden zwischen der ostmitteleuropäischen „Peripherie“ und den „Zentren“ in Ost und West?
- Wie veränderte sich dadurch das Wissen über die Zustände in Ostmitteleuropa in den Zentren der Emigration einerseits und die Vorstellungen von den potentiellen Möglichkeiten eines „eigenen“ zukünftigen souveränen Nationalstaats in den Randgebieten der Imperien andererseits??
- Wie wirkte sich die nationale und transnationale Kommunikation auf die Identifikation der mobilen Akteure in ihren Migrations- und ihren Herkunftszusammenhängen aus?
- Welche Wahrnehmungen von Räumen und Zugehörigkeiten sowie deren Grenzen entstanden in unterschiedlichen Milieus zwischen Peripherie und Zentrum?
- Inwiefern beförderte der entstandene Kulturtransfer die Entwicklung eines nationalen Selbstverständnisses vor europäischem Hintergrund? Welche universellen künstlerischen oder politischen Formen partikularer Identität wurden transferiert?
- Welche Bedeutung hatte die Zugehörigkeit zu einer ethnischen Minderheit und wie wurde diese Besonderheit wahrgenommen? Welchen Einfluss hatten Diasporaminderheiten wie Juden, Armenier und Deutsche auf die Prozesse von Verflechtung und Mobilität?

II) „Rivalen des Nationalen“: politische Identitäten und Organisationen jenseits des Nationalismus
Ein großes Problem überzeugter Nationalisten war die häufige Unentschlossenheit, Gleichgültigkeit oder Ablehnung von Angehörigen der eigenen Nation gegenüber nationalen Anstrengungen oder die „Weigerung“, kulturelle Praktiken und Räume als national aufzufassen. Fragen nach den Alternativen und Rivalen der Nation als politischer Gemeinschaftsstiftung verdienen daher größere Aufmerksamkeit, als ihnen bislang in der historischen Forschung geschenkt wurden.
- Welche Identifikationsangebote mit universellem Anspruch entstanden in der politischen Öffentlichkeit, die leichter Anschluss an den Alltag der Menschen fanden, als die Nation?
- Inwiefern war die Teilhabe an einer internationalen Gemeinschaft eine attraktive Option, um die fragmentierte und politisch sowie ökonomisch als peripher wahrgenommene Lage ostmitteleuropäischer Gesellschaften zu überbrücken?
- Ordnungsvorstellungen wie die Idee einer westlichen Zivilisation, des christlichen Abendlandes oder einer slawischen Völkerfamilien stellten allesamt umfassendere Gemeinschaften durch den Bezug auf kulturell-ideologischen Gemeinsamkeiten her. Inwiefern waren sie Rivalen des Nationalen oder inwiefern trugen sie zur Durchsetzung der nationalen Ordnung der Welt bei?
- Wie wurden kulturelle und finanzielle Ressourcen etwa der Religionsgemeinschaften, des übernationalen Staates oder internationaler philanthropischer Organisationen eingesetzt, um die Nationalisierung der Lebenswelt zu unterlaufen?
- Welche modernen Identitäten wurden aus Traditionsbeständen der Konfession, der Arbeitswelt oder aus imperialer oder urbaner Zugehörigkeit generiert? Wie gestaltete sich dort der Verständigungsprozess über das „Eigene“ in Zeiten von „Massenmedien“, wachsender Migration und politischer Partizipation?
- Welche Nischen und Chancen boten sich in den imperialen Staaten für Minderheiten, die aus nationalen Entwürfen ausgeschlossen wurden?

III) Nationalismus als „Vehikel“ und „Fahrkarte“
Der gleichermaßen partikulare und universelle Charakter des Nationalismus ließ ihn zu einer wichtigen Legitimitätsressource heranwachsen. Da er die Existenzberechtigung anderer Nationen neben der eigenen anerkannte, ja sogar voraussetzte, konnte selbst die kleinste Nation die Legitimation eines multinationalen Imperiums herausfordern. Dazu musste das Prinzip der nationalen Ordnung von mächtigen Staaten propagiert und der eigene Status als Nation bestätigt werden. Einzelne Bemühungen um die Errichtung souveräner Nationalstaaten sollen daher unter der Berücksichtigung der Eigenlogik globaler Aufmerksamkeitsökonomie und der zunehmenden Akzeptanz der Vorstellung, dass Nationalismus eine demokratische Modernisierungsbewegung sei, betrachtet werden. Józef Piłsudskis ex post Bekenntnis, er habe die Straßenbahn Sozialismus an der Haltestelle (nationalstaatlicher) Unabhängigkeit verlassen haben, soll gleichsam gedanklich umgekehrt und als Frage formuliert werden: Wer bestieg den nationalistischen Zug, um die eigene Agenda voranzubringen?
- Welche sozialen Probleme und Lösungsansätze wurden narrativ derart umstrukturiert, dass sie im nationalistischen Modus stimmig erschienen?
- In wie fern war die Nationalisierung der eigenen Agenda eine Voraussetzung dafür, sich z.B. in internationalen Organisationen und Bewegungen engagieren zu können und damit die Relevanz des eigenen Anliegens in einer globalen Arena bestätigt zu bekommen?
- Inwieweit sorgte die Aufteilung der westeuropäischen liberalen Staaten in Nationalstaaten dafür, dass diese Ordnung zur Norm für transnationale Bewegungen wurden, an denen sich Akteure aus Ostmitteleuropa beteiligten?
- In welchem Wechselverhältnis standen Vorstellungen von der Machbarkeit und programmatische Visionen staatlicher Souveränität vor und nach dem „Wilsonian Moment“?

Senden Sie bitte bis zum 31. Januar 2012 einen Abstract (ca. 1 Seite), der sich dezidiert auf einen der 3 Fragebereiche bezieht sowie einen Lebenslauf in deutscher, englischer oder polnischer Sprache an: konferencja@dhi.waw.pl

Bitte machen sie genaue Angaben zu ihren aktiven und passiven Sprachkompetenzen. Reisekosten und Unterkunft werden übernommen. Eine Auswahl der Konferenzbeiträge wird in einem Sammelband veröffentlicht.

Programm

Contact (announcement)

PD Dr. Ruth Leiserowitz

Deutsches Historisches Institut Warschau
Al. Ujazdowskie 39; 00-540 Warschau
+48 22 5258313
+48 22 5258342

leiserowitz@dhi.waw.pl


Editors Information
Published on
01.12.2011