Aktuell zeichnen sich Umbrüche in der Rezeption afrikanischer Literatur in Europa ab. Der Literaturnobelpreis wurde 2021 an den tansanischen Autor Abulrazak Gurnah verliehen. Im gleichen Jahr erhielt die simbabwische Autorin Tsitsi Dangarembga den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels. In Berliner Buchläden findet sich heute afrikanische und diasporische Literatur nicht selten als gut sortiertes, eigenständiges Themenfeld. Ninja Steinbach-Hüthers Monographie erscheint also zur rechten Zeit. In dem aus ihrer Dissertation hervorgegangenen Werk untersucht sie die Rezeption akademischer Literatur afrikanischer Autor:innen in Deutschland und Frankreich zwischen den 1950er-Jahren und 2012. Sie fragt zunächst danach, wie vielen bzw. welchen afrikanischen Autor:innen, aus welchen Ländern und geographischen Räumen, mit welchen Themen sich Importräume geöffnet haben. Anschließend untersucht sie, wie sich diese Verteilungen erklären lassen. Für die Beantwortung kombiniert sie quantitative Verfahren mit einer datengeleiteten qualitativen Analyse und erstellt einen detaillierten Überblick über die Zahl und Inhalte afrikanischer gesellschaftswissenschaftlicher Publikationen, die in Frankreich sowie im Kontext der deutsch-deutschen Doppelstaatlichkeit (BRD und DDR) rezipiert wurden. Sie ergänzt die quantitativen Einsichten mit qualitativen „Tiefenbohrungen“ (siehe z.B. S. 363), um identifizierte Trends, (Dis)-kontinuitäten und Umbrüche einzuordnen. In ihrer Analyse betrachtet Steinbach-Hüther sowohl die afrikanische Wissensproduktionsseite („Exportkontext“) als auch die europäische Rezeptionsseite („Importkontext“), deren Interaktion sie anhand des Kulturtransferkonzepts einordnet und diskutiert.
Die Monographie besteht aus 464 Seiten, 25 Graphiken, 17 Abbildungen und 15 Tabellen und ist in fünf Teile gegliedert. Die Autorin beginnt mit einer Kontextualisierung und Problembeschreibung, die ihre Forschungsperspektive sowie theoretische Überlegungen darlegt. Die kritische Reflektion über Begrifflichkeiten („afrikanisch“) sind von zentraler Bedeutung für die Qualität des Werkes. Teil zwei beschreibt das Konzept des Kulturtransfers, positioniert die eigene Arbeit im Themenfeld und bietet eine detaillierte Beschreibung der „Importräume“, insbesondere der Verlagslandschaften in Frankreich, der BRD und der DDR als sehr unterschiedliche und sich wandelnde Rezeptionskontexte. Teil drei präsentiert die Quellen- und Archivarbeit und das Herzstück der Arbeit, hier werden die Ergebnisse der quantitativen Analyse dargelegt und im Hinblick auf verschiedene Untersuchungsschwerpunkte visualisiert, wie z.B. Publikationssprache, Herkunftsland, akademischer Grad und Alter der Autor:innen sowie geographisch-thematische Themenkomplexe. Teil vier ordnet ausgewählte Aspekte der quantitativen Ergebnisse durch qualitative Tiefenbohrungen ein und liefert Erklärungsansätze für beobachtete Trends. Hervorzuheben ist hier vor allem die prägnante Diskussion und Zusammenfassung der identifizierten Einflussfaktoren und Generatoren von Kulturtransfer, die sich je nach Aufnahmekontext stark voneinander unterscheiden. Das Werk endet mit Schlussbemerkungen, in denen die Autorin auf zukünftige Ergänzungsmöglichkeiten der Forschung hinweist.
Steinbach-Hüther schafft mit überzeugendem Material, technisch anspruchsvoller Quellenarbeit sowie einer reflektierten Analyse eine neue Perspektive auf die Rezeption afrikanischer Literatur in Europa. Sie zeichnet einen differenzierten Überblick über gesellschaftswissenschaftliche Publikationen afrikanischer Autor:innen in Deutschland und Frankreich – der in dieser Form erst- und einmalig ist – und zeigt auf, dass es weitaus mehr und diversere Veröffentlichungen gibt, als bisherige qualitative Arbeiten zu dem Thema annehmen lassen. Durch die kritische Auseinandersetzung mit zentralen Begriffen wie „afrikanisches“ Wissen wirkt die Autorin einer Essentialisierung des Forschungsgegenstandes entgegen, die insbesondere im deutschen Sprachkontext häufig zu beobachten ist. Besonders überzeugend ist die aussagekräftige Visualisierung des Materials in Teil drei des Werkes. Nicht alle Ergebnisse sind notwendigerweise überraschend, doch schafft Steinbach-Hüther zum ersten Mal einen belastbaren Datenüberblick. Sie zeigt beispielsweise auf, dass die Anzahl afrikanischer akademischer Publikationen über den Untersuchungszeitraum hinweg in allen Rezeptionskontexten stark zugenommen hat. Außerdem gibt es einen deutlich größeren Datenkorpus für Frankreich als für den deutsch-deutschen Kontext. Frankreich ist hinsichtlich afrikanischer akademischer Literatur also „aufnahmebereiter“, und die relative Überrepräsentation ehemaliger französischer Kolonien in der Autor:innenschaft weist zudem auf die Wichtigkeit historischer Verflechtungen hin. Es werden aber auch neue Tendenzen und Zusammenhänge herausgearbeitet, wie beispielsweise die Konzentration auf einige wenige Herkunftsländer bei deutschen Verlagen (Ägypten, Südafrika, Nigeria). Gleichzeitig erscheinen afrikanische Autor:innen in Deutschland öfter mit Büchern, die ihren eigenen Herkunftskontext behandeln, während in Frankreich die Themenpalette breiter ist. Steinbach-Hüther stellt die unterschiedlichen Verlagslandschaften und ihre Geschichten detailliert dar, so dass die unterschiedlichen lokalen und spezifischen Transfervoraussetzungen deutlich werden. Im westdeutschen Kontext beschreibt sie eine vorherrschende „gefestigte Randposition“ 1 afrikanischer Literatur und einen von Brüchen gekennzeichneten Wissensmarkt, der zwar – wie durch die Frankfurter Buchmesse 1980 veranschaulicht – Momente eines temporär erhöhten Interesses aufzeigt, auf dem afrikanische Literatur lange Zeit aber lediglich Teil der „Dritte Welt“-Niche blieb, während Frankreichs Verlagsszene ein dynamischerer Konzentrations- und Spezialisierungsprozess kennzeichnete. Spannend ist Steinbach-Hüthers Beschreibung des nach wie vor in der deutschen Öffentlichkeit weit verbreiteten exotisierenden Blicks auf „Afrika“ (Kapitel 5.3), der oftmals an Wainainas Essay Klassiker How to write about Africa2 erinnern lässt.
Zudem stellt die Autorin fast nebenbei die Genese der Afrikanistik-Institute in Deutschland dar und thematisiert die Zusammenarbeit zwischen Universitäten und Verlagen, die besonders in der DDR ausgeprägt war. Mit der Beobachtung, dass Frankreich sowohl Import- als auch gleichzeitig Exportkontext für afrikanische Literatur ist, indem es Werke afrikanischer Autor:innen in viele Herkunftsländer „reimportiert“ (S. 418), knüpft Steinbach-Hüther an die Debatte um Nord-Süd Machtverhältnisse in der globalen Wissensproduktion an. Die Herausarbeitung von Generatoren des Kulturtransfers in Teil vier (Kapitel 8.2) gibt schließlich hilfreiche Argumente an die Hand, um Universalismen und Plattitüden hinsichtlich der Rezeption afrikanischen Wissens in Europa zu überwinden.
Trotz der inhaltlich kompakten Analyse und der Präsentation bisher unbekannter Informationen zu den transregionalen Karrieren afrikanischer Akademiker:innen hätte man sich eine genauere Diskussion der Faktoren auf der „Export“ Seite gewünscht. Die Tiefe und das Detailniveau, das die Untersuchung der drei Importkontexte Frankreichs, der BRD und der DDR auszeichnet, wird in der Analyse der diversen Export- bzw. Herkunftskontexte nicht auf gleicher Ebene erreicht. Es wird zwar vieles angesprochen – beispielsweise Arbeitsmarktperspektiven nach Universitätsabschluss für afrikanische Autor:innen, Verschiebungen des Lebensmittelpunktes nach Europa oder die Herausforderungen der Verlagswesen in Herkunftsländern. Dies wird aber nicht weiter vertieft, und dabei wären die persönlichen Beweggründe afrikanischer Autor:innen bei der Entscheidung für Deutschland oder für Frankreich (und somit auch für oder gegen afrikanische Verlage) wissenswert. Statistische Daten zu der Zahl afrikanischer Studierender und Visumsausstellungen in der DDR, BRD und Frankreich sowie eine Analyse der Veränderungen in Migrationspolitiken, persönlicher Netzwerke sowie der Jobperspektiven nach Universitätsabschluss könnten hier unterstützende Quellen darstellen. Das hätte aber fraglos den Rahmen dieser Monographie gesprengt. Für künftige Analysen wären diese Aspekte von großem Wert, um die Reziprozität von Transferprozessen deutlicher zu machen und das Phänomen der transregionalen Zirkulation afrikanischen Wissens aus verschiedenen Blickwinkeln zu beschreiben. Eine zweite wünschenswerte Ergänzung wäre – wie in den Schlussgedanken von der Autorin selbst vermerkt – die Erweiterung der Analyse für die Jahre nach 2012 gewesen, insbesondere vor dem Hintergrund des steigenden öffentlichen Interesses an afrikanischer Belletristik. Kontinuitäten oder Brüche mit einer „gefestigten Randposition“ afrikanischer Literatur in Deutschland würde in einem erweiterten zeitlichen Untersuchungsrahmen vermutlich noch einmal anders hervortreten, zumal die Auswirkungen neuer Verteilungswege und Transferverbindungen (und -richtungen) durch die fortschreitende Digitalisierung, auch im Verlagswesen, eine interessante Ergänzung darstellen würden.
Zusammenfassend leistet Afrikanisches Wissen in Deutschland und Frankreich einen wichtigen empirischen Beitrag zu einer datenbasierten post-kolonialen Debatte um Machtstrukturen und Marginalisierung in der globalen Wissensproduktion, die insbesondere im deutschsprachigen Raum noch ganz am Anfang steht. Vor dem Hintergrund einer verzerrten und durch Hierarchien und Ungleichheiten geprägte „Landkarte des Wissens“ (S. 16) liefert das Werk eine wichtige Diskussionsgrundlage für die historische Einordnung der Entwicklungen in der globalen Literaturzirkulation und schärft gleichzeitig das Bewusstsein für die Präsenz, die afrikanische Literatur bereits hat. Steinbach-Hüther beschreitet mit ihrem quantitativen Ansatz neue innovative Wege im Bereich des Kulturtransfers, in dem zumeist qualitative Beschreibungen dominieren. Ihr Werk ist eine Bereicherung der digital humanities und ist zudem sehr gut zu lesen. Es ist Historiker:innen sowie Studierenden und Forschenden der Global and Area Studies wärmstens empfohlen und auch für all diejenigen lesenswert, die einen Überblick über das deutsche und französische akademische Verlagswesen bekommen möchten.
Anmerkungen:
1 Die Autorin zitiert hier nach Waltraud Kolb, Noch nicht unter zu vielen Geschichten begraben. Englischsprachige Literatur aus Afrika auf dem deutschen Buchmarkt, in: Norbert Bachleitner und Michaela Wolf (Hrsg.), Streifzüge im translatorischen Feld. Zur Soziologie der literarischen Übersetzung im deutschsprachigen Raum, Wien/Berlin 2010, S. 278-292, hier S. 279.
2 Binyavanga Wainaina, How to write about Africa, in Granta 92 (2005), <https://granta.com/how-to-write-about-africa/> (Zugriff 15. Februar 2023).