Die Studie von Johannes Spohr behandelt Verbrechen der deutschen Okkupanten während des Rückzugs der Wehrmacht aus der Ukraine. Das Ziel, dem Feind nur „verbrannte Erde“ zu hinterlassen, der Kampf mit vermeintlichen oder tatsächlichen Partisanen und die drohende Niederlage führten hier zu einer starken Ausweitung der Gewalt gegen die Zivilbevölkerung. Gleichzeitig sind die „Rückzugsverbrechen“ in der Forschung bisher nur kaum untersucht worden. Johannes Spohr behandelt diese Geschehnisse anhand des „Generalbezirks Shitomir“ (ukr. Schytomyr) im deutschen Reichskommissariat Ukraine.1 Im Zentrum steht hier die Zeit von Mitte 1943 bis Frühjahr 1944. Im September 1943 überschritt die sowjetische Armee wieder den Dnipro Richtung Westen und näherte sich damit dem Generalbezirk.
Die Untersuchung ist in drei größere Abschnitte gegliedert. Im ersten Abschnitt entwickelt Spohr die Fragestellung und gibt einen einführenden Überblick über den Generalbezirk sowie die Kriegssituation im Jahr 1943/44. Ins Zentrum der Studie stellt er die Frage danach, welche Bedeutung die NS-Ideologie und deutsche Stereotype über die Bevölkerung in den besetzten Gebieten gegenüber situativen Faktoren, die sich aus der verschlechternden militärischen Lage ergaben, für die zunehmende Gewalt gegen die Zivilbevölkerung in den Jahren 1943/44 hatten.
Im zweiten Abschnitt behandelt Spohr die verschiedenen deutschen und ukrainischen Institutionen und Akteursgruppen, die einen Einfluss auf die Verhältnisse in der Region Schytomyr während der deutschen Okkupation hatten. Auf deutscher Seite waren dies die Zivilverwaltung, die Wehrmacht sowie SS und Polizei. Eine spezifische Gruppe bildeten darüber hinaus „volksdeutsche Siedler“, da Teile der Region Schytomyr für die „Germanisierung“ vorgesehen waren. Auf der einheimischen Seite berücksichtigt die Studie die ukrainische Hilfspolizei, die nationalukrainischen Gruppierungen, die in der Region allerdings nicht sehr stark vertreten waren, sowie die sowjetischen Partisanen. Spohr skizziert aber auch die Verhältnisse in den Dörfern. Die deutliche Mehrheit der Bevölkerung bestand zu dieser Zeit aus Frauen mit Kindern und Älteren, da viele der jüngeren Männer und Frauen entweder schon vor der Okkupation zur sowjetischen Armee einberufen oder später zur Zwangsarbeit nach Deutschland deportiert worden waren. Andere verbargen sich in den Wäldern und schlossen sich den Partisanen an.
Der dritte Abschnitt enthält dann eine genaue Untersuchung der Geschehnisse in der Region Schytomyr während der Jahre 1943/44. Johannes Spohr beschreibt hier zwei zentrale Kontexte der Ausweitung der Gewalt gegen die Zivilbevölkerung. Der erste Kontext war der Kampf gegen sowjetische Partisanen. Zwar gab es in den meisten ukrainischen Gebieten weniger sowjetische Partisanen als im angrenzenden Belarus. Jedoch nahm ihre Zahl insbesondere in den nördlichen Teilen des Generalbezirks 1943 zu. Zur „Vergeltung“ für Partisanenangriffe wurden zahlreiche Dörfer niedergebrannt und die Einwohner erschossen oder in ihren Häusern verbrannt, auch wenn die Angriffe nicht von Dorfbewohnern ausgingen.
Der zweite Kontext bestand in Zerstörungen durch die deutschen Truppen vor dem Rückzug. Bereits Ende Februar 1943 hatte Hitler angeordnet, dass alle für den Feind nutzbaren Einrichtungen und Ressourcen vernichtet werden sollten, wenn Gebiete geräumt werden müssten. Außerdem verfügte er, dass die „Masse der Zivilbevölkerung“ als Arbeitskräfte mitzunehmen und die Dörfer niederzubrennen seien. Die militärischen Besatzungsorgane entwickelten daraus konkrete und detaillierte Planungen für das Vorgehen, die als ARLZ-Maßnahmen bezeichnet wurden („Auflockerung, Räumung, Lähmung, Zerstörung“) (S. 256-259). Zwar gelang die Umsetzung aus Mangel an Zeit und Ressourcen nicht immer. Gleichwohl war die Zerstörung beträchtlich. Allein für die ersten drei Monate 1944 berichtete die Heeresgruppe Süd über mehr als 400.000 Menschen, die aus ihrem Bereich „zurückgeführt“ worden seien (S. 424f.). Manche unter den Einheimischen schlossen sich dem deutschen Rückzug aber auch an, weil sie die Wiederherstellung der sowjetischen Herrschaft fürchteten. Insgesamt wurden in der Ukraine ungefähr 670 Dörfer zerstört, so quantifiziert Spohr in Anlehnung an ukrainische Vorarbeiten, darunter 138 in den heutigen Oblasten Schytomyr und Winnyzja, die ungefähr dem „Generalbezirk Shitomir“ entsprechen.
Die Studie schließt mit einer kurzen Skizze über die sowjetischen Ermittlungen zu Verbrechen und materiellen Schäden während der deutschen Okkupation sowie sowjetischen Gerichtsverfahren in der Nachkriegszeit. Von der deutschen Justiz wurden Verbrechen in der Rückzugsphase nie systematisch untersucht, geschweige denn geahndet.
Spohrs Studie zeigt nicht nur die verschiedenen Segmente der Gewalt und die Kontexte ihrer Ausweitung, sondern behandelt auch quellennah unterschiedliche Ansichten, Konzepte und Konflikte unter den deutschen Akteuren. Die Erkenntnis mancher Deutscher in der Wehrmacht und der Zivilverwaltung, dass das Niederbrennen von Dörfern und die Erschießungen von Bewohnern als „Vergeltung“ für Partisanenaktivitäten den deutschen Zielen nicht nutzten, sondern immer mehr Menschen zu den Partisanen trieben, eine pro-sowjetische Haltung stärkten und knappe Ressourcen vernichteten, setzte der massenhaften Gewalt kein Ende.
Eine Erklärung dafür bietet Johannes Spohr in seiner abschließenden Diskussion der Bedeutung ideologischer Faktoren für die Gewalt an. Vor dem Hintergrund der drohenden Niederlage habe eine „Vereindeutigung“ der Wahrnehmung kollektiver Identitäten und damit auch der Feinde stattgefunden und undifferenzierte Gewalt gegen die einheimische Bevölkerung gefördert (S. 472).
Gleichzeitig schreibt Spohr hier aber auch einem situativen Faktor eine besondere Bedeutung zu. Er betont, dass auch in dieser letzten Kriegsphase Konkurrenzen und Konflikte zwischen Personen und Institutionen fortbestanden hätten. Wer in dieser Situation, in der die Niederlage und der eigene Untergang drohten, weiterhin Handlungsmacht beweisen konnte, konnte unter den deutschen Offizieren und Beamten mit Anerkennung rechnen. Diese Handlungsmacht habe durch die Fähigkeit, weiterhin Gewalt gegen „den Feind“ ausüben zu können, demonstriert werden können, wenngleich sie sich „nur“ gegen die Zivilbevölkerung richtete.
Insgesamt hat Johannes Spohr eine wichtige und theoretisch reflektierte Studie zu einem bisher kaum beachteten Thema des deutsch-sowjetischen Kriegs vorgelegt. Sie ist besonders dort gelungen, wo sie quellennah die Sichtweisen, Planungen und Konflikte der deutschen Besatzungsbehörden und der Wehrmacht untersucht und genaue Fallstudien zu einzelnen Gewaltereignissen unternimmt.
Zur sehr breiten Quellen- und Literaturbasis, die Spohr für seine Studie heranzieht, gehören Interviews mit Zeitzeugen aus Dörfern der Region Schytomyr. Manche dieser Zeitzeugen dürften seit den Interviews in den Jahren zwischen 2013 und 2016 verstorben sein. Die anderen sind aktuell erneut den Gefahren und dem Leiden eines großen Kriegs ausgesetzt, wie es ihn seit 1945 in Europa nicht mehr gegeben hat. Zu den Voraussetzungen dieses neuen Krieges gehört nicht nur die mangelnde historische Aufarbeitung der sowjetischen Zeit in Russland, sondern auch ein manipulatives, ebenfalls der sowjetischen Zeit entstammendes Bild des „Großen Vaterländischen Kriegs“, das die Opfer und Leiden der Bevölkerung vorwiegend für eine heroische Erzählung des siegreichen Kampfes gegen den faschistischen, äußeren Feind in Anspruch nimmt. Dagegen stellt Johannes Spohr die Opfer von Kriegsverbrechen ins Zentrum und gibt eine differenzierte Beschreibung der Motive der Täter, und zwar auf der Basis einer dichten Analyse von Quellen und einer multiperspektivischen Erzählung.
Anmerkung:
1 Vgl. zu dieser Region mit einem Schwerpunkt auf dem Holocaust auch Wendy Lower, Nazi Empire-Building and the Holocaust in Ukraine, Chapel Hill 2005. In den Jahren 1943/44 waren hier nur noch wenige Juden am Leben; siehe Spohr, Die Ukraine 1943/44, S. 445-460.