Amelia Glaser u. a. (Hrsg.): Comintern Aesthetics

Title
Comintern Aesthetics.


Editor(s)
Glaser, Amelia; Lee, Steven S.
Published
Extent
592 S.
Rezensiert für 'Connections' und H-Soz-Kult von:
Tanja Zimmermann, Universität Leipzig

Im Zuge der immer stärkeren globalen Verflechtung, aber auch der Dekolonialisierung, setzen sich die Humanwissenschaften zunehmend mit transregionalen Forschungsfragen auseinander. Das eurozentrische Weltbild, seine Hegemonie und seine Durchsetzung in dominanten Medienkulturen, aber auch die Zirkulation von Menschen ebenso wie von Waren und Dienstleistungen, schließlich transkulturelle Vernetzungen werden mit Blick auf asymmetrische Machtrelationen neu durchleuchtet. Trotz des Anspruchs darauf, die Problemlagen von einem globalen Blickwinkel aus zu perspektivieren, werden die jeweiligen Weltbilder meistens von einem atlantischen „Westen“ aus revidiert. Osteuropa, insbesondere Russland, wird dagegen oft vernachlässigt, insbesondere wenn nicht nur der Kolonialismus – z.B. der in Zentral- und Ostasien, sondern auch das internationale Erbe des Kommunismus zur Debatte steht.

Amelia M. Glaser (San Diego) und Steve S. Lee (Berkeley) haben sich als Herausgeber des Sammelbandes Comintern Aesthetics das Ziel gesetzt, die Geographien des transnationalen Kommunismus neu zu kartographieren. Dazu gehört auch der linke Aktivismus in der Kultur, der auf die politisch-kulturellen Netzwerke der von Lenin wiedergegründeten „Dritten Internationale“ beziehungsweise der Kommunistischen Internationale 1919 in Moskau zurückgeht. Diesen betrachtete man lange als Kampf für eine antikapitalistische, antiimperialistische, antikolonialistische und antirassistische globale Alternative zum konsumorientierten, neoliberalen Westen, die weltweit Politiker, Intellektuelle und Kulturschaffende in ihren Bann zog. Doch wurde das Erbe der Kominform praktisch nur von Osteuropahistorikern und Slawisten erforscht. Hintergründe sind die Aneignung von Lenins Ansätzen durch Stalin, die zunehmende Zentralisierung und Russifizierung sowie die Beseitigung des Modernismus in der Kultur. Im vorliegenden Band werden transregionale Netzwerke der Kominform als Teil der globalen Geschichte betrachtet. In globalen Zusammenhängen wird ihre Strahlkraft rekonstruiert, die bis in die Nachkriegszeit reicht. Um den Niedergang des ursprünglichen Enthusiasmus für diese vermeintlich „humanistische“ Alternative, die jedoch in einer großen Enttäuschung mündete, vor Augen zu führen, haben die Herausgeber:innen zwei Kunstwerke ausgewählt: Einen Anfang markiert Vladimir Tatlins Entwurf für das Denkmal der Dritten Internationale von 1919, ein Ende Ai Weiweis Appropriation von 2007, betitelt als Working Progress. Während sich Tatlins dynamische Utopie aus Stahl und Glas spiralförmig in den Himmel windet, scheint Weiweis mit Lichterketten überladener Turm, der eher an einen Weihnachtsbaum erinnert, unter seinem Schmuck zu versinken.

Die 16 Beiträge, verfasst vorwiegend von transkulturell und transmedial arbeitenden Literaturwissenschaftler:innen und Komparatist:innen aus den USA, gehen auf ein Arbeitstreffen 2015 in Berkeley zurück. Texte, die verschiedenen Kunstformen wie Literatur, illustrierte Presse, Fotografie, Plakatkunst, Theater, Film und Architektur gelten, werden in drei Sektionen zur Diskussion gestellt: 1. Space: Geopolitics, Networks, Translations, 2. Form: Beyond Realism-versus-Modernism and Art-versus-Propaganda und 3. History: Beyond the Interwar Years – Afterlives of Comintern Aesthetics. In ihnen werden überkommene, polare Gegenüberstellungen aufgebrochen und durch Forschungen zu Verflechtungen und kulturelle Übersetzungen abgelöst. Durch alle drei Kapitel zieht sich ein Interesse für die Konvergenz ästhetischer und politischer Konzepte. Diese wird nicht leichthin als Propaganda abgekanzelt, sondern jeweils als künstlerische Umsetzung politischer Utopien studiert.

Den Beiträgen ist eine Chronologie von Dominik Lawton (Berkeley) vorangestellt, die einen Überblick über politische und kulturelle Ereignisse in übergreifenden translokalen, zeit-räumlichen Verknüpfungen vom Ersten Weltkrieg beziehungsweise von den Anfängen der Avantgarden bis zur Auflösung der Kominform 1943 beziehungsweise der Gründung der Komintern 1947 bietet. So kann man Querverbindungen von Russland nach Europa, von Zentralasien, China, Indien in die USA und Südamerika nachverfolgen.

Die erste Sektion, die sich mit Geopolitik und Raumkonzepten befasst, eröffnet der Text von Harsha Ram (Berkely) über die mythopoetische „Erzählung“ Zangesi (1922) des russischen Futuristen Velimir Chlebnikov, in der das Aufkommen eines neuen Eurasiens als Grundlage einer neuen, panslawisch-asiatischen Identität besungen wird. Der Dichter befasste sich mit einer Meta-Theorie des aktuellen Zeitraums und glaubte daran, dass man historische Umbrüche und die Durchsetzung neuer geopolitischer Formationen mathematisch berechnen könne. Eine neue ideographische Sprache, deren Bedeutung sich nach der lautlichen und visuellen Form der Buchstaben richtete, wurde entwickelt und als Grundlage einer neuen Weltsprache angeboten. Chlebnikovs Poem passte zur gleichzeitigen Neuausrichtung der Kominform auf den ehemals russisch-imperial bzw. sowjetisch dominierten Orient und Zentralasien. Doch war es trotz Bemühungen um eine multiethnische Literatur nicht gelungen, sich von eurozentrischen, von orientalistischen Stereotypen zu befreien, aufgrund derer Orientalen und Asiaten als „rückständig“ betrachtet wurden. In weiteren Beiträgen wird die Ausbildung einer kommunistischen „Ökumene“ (Katerina Clark, Yale) verfolgt, die mit Vernetzungen, Austausch- und Übersetzungstätigkeiten in verschiedenen Weltregionen einhergingen, die sämtlich durch die Kominform gefördert und finanziert wurden. Neue globale Verknüpfungen entstanden zwischen Moskau, Berlin und Shanghai (Clark) und reichten bis hin nach Brasilien (Sarah Ann Wells, Wisconsin), nach Indonesien und Vietnam (Tony Day), nach Pakistan und Indien. Aufgrund der kolonialen Unterdrückung, aber auch des inhumanen Umgangs mit der verarmten Kaste der „Unberührbaren“ im Hinduismus fanden sich dort Kreise, die für kommunistischen Ideale besonders empfänglich wurden (Sneha Shingavi, Austin). Der spanische Film wiederum löste sich in den frühen 1930er Jahren von den französischen Vorbildern ab und begann, die sowjetische Filmavantgarde und ihre Ideale zu rezipieren. Ermöglicht wurde dies durch Vermittlung der 1924 in Berlin von der Kominform gegründeten und von Willi Münzenberg geleiteten Filmgesellschaft Meschrabpom (Akronym für Internationale Arbeiterhilfe) (Enrique Fibla-Gutierrez, Masha Zalazkin).

In der zweiten Sektion wird die Polarisierung zwischen der internationalen, modernistischen Avantgarde und dem 1934 zentral proklamierten Sozialistischen Realismus neu kartiert. Revidiert werden dabei die diametral entgegengesetzten Konzepte von Vladimir Paperny, der in einer frühen Publikation 1996 zwischen einer Kultur Eins der Avantgarde und einer Kultur Zwei der Sozialistischen Realismus unterschied, und Boris Groys, der in seiner Schrift Gesamtkunstwerk Stalin (1988) im Stalinismus eine Fortführung der monumentalen Projekte von Futuristen, Konstruktivisten und sog. „Produktionskünstlern“ sah, allerdings in einem anderen Idiom. Stattdessen werden neue Übergangskonzepte vorgeschlagen (Paperny, Marina Khrustaleva).

Wie Nariman Skakov (Stanford) beobachtet, dienten Länder in der sowjetischen Peripherie wie Turkmenistan bereits in den 1920er Jahren der Erprobung von doktrinären Elementen wie dem Etatismus, der Kollektivierung, des Konzepts der Völkerfreundschaft, der Auffassung des Schriftstellers als Ingenieur der Seele, der Formalismuskritik sowie der Durchsetzung der epischen Genres in Literatur, bildender Kunst und Film. Damit schließt er an die Studie des russischen Literatur- und Kulturtheoretikers Jurij Tynjanov an, der auf die Bedeutung des Wechselspiels zwischen Zentrum und Peripherie bei der Formierung neuer Genres hingewiesen hat.

Im Austausch zwischen der Sowjetunion und anderen Ländern, der durch die Komintern initiiert wurde, haben sich auch neue nationale Genres und Poetiken ausgebildet. In China wurde das bisher dort nicht vorhandene Straßentheater ins Leben gerufen (Xiaobing Tang, Hong Kong). Yiddish schreibende Dichter in Spanien haben begonnen, jüdisch-religiöse Prophetie mit utopischen kommunistischen Vorstellungen zu verweben (Amelia M. Glaser, San Diego).

Die antikolonialistischen und antirassistischen Ideale der Kommunistischen Internationale trugen wesentlich zur öffentlichen Aufmerksamkeit für Rassismus in Südafrika und in den USA bei. Schwarze Dichter in den Vereinigten Staaten wie Langston Huges, der 1921 die Sowjetunion besuchte, begannen, sich zunehmend als Vertreter einer internationalen schwarzen Gemeinschaft zu verstehen (Jonathan Flatley, Wayne University). So wurden nicht nur die Diskriminierung von Schwarzen, rassistische Gerichtsprozesse und Lynchmorde in den USA, sondern auch das Leiden in den Minen des südafrikanischen Johannesburg zum Thema eindringlicher Gedichte. In der Sowjetunion selbst, wo kaum Schwarze lebten, wurde der Rassismus im Animationsfilm der 1930er Jahre zu einem führenden Thema. Jedoch wurden etliche Produktionen aufgrund von Formalismus-Vorwürfen nicht realisiert (Christina Kiaer, Northwerstern University).

In der dritten Sektion, die dem Nachleben der Komintern in der Nachkriegszeit gewidmet ist, gehen die Autor:innen der Frage nach, ob und auf welche Art das Erbe der 1943 aufgelösten Komintern erhalten oder gar fortgesetzt werden konnte. Kate Baldwin (Tulene University) verfolgt ihre Nachwirkung in der Formierung des internationalen schwarzen Feminismus bei Autorinnen wie Alice Childress, die den Rassismus mit Sexismus in Verbindung brachte. Evgeny Dobrenko (Sheffield) bringt neue Perspektiven auf den Sozialistischen Realismus als „internationalen Stil“ des Ostblocks ein. Während Staaten ohne eine starke nationale modernistische Tradition wie Albanien, Bulgarien und Rumänien eher bereit waren, den ohnehin vagen sowjetischen Kanon zu übernehmen, formierte sich in Polen, Ungarn und in der Tschechoslowakei Widerstand. Kunstschaffende in diesen Ländern griffen oft auf die Traditionen des Modernismus in der Zwischenkriegszeit zurück und befragten kritisch verschiedene Realismus-Konzepte. Katie Trumpener (Yale) hebt hervor, dass erst die hochentwickelten sowjetischen Medien einen transnationalen Kommunismus ermöglichten. Bereits während der Weimarer Republik verfolgten die Nationalsozialisten mit großer Aufmerksamkeit die Strategien sowjetischer Medien. Nach 1933 übernahmen sie davon nicht nur ästhetische Anregungen, sondern auch Formen der Institutionalisierung. Das starke Erbe der Kominform führte in der Nachkriegszeit in Ostdeutschland zu spezifischen Erinnerungsformen. Die Enttäuschung vieler Kulturschaffenden über die späte Kominform wurde kaum verarbeitet, doch erfolgte die Identifikation mit dem antifaschistischen Kampf zugleich scheinbar reibungslos. Bo Zheng (Hong Kong) schließt den Band ab. In seinem Beitrag widmet er sich gegenwärtigem sozialen Kulturaktivismus in China – insbesondere der Musikgruppe New Workers Art Troupe und der Theater-Gruppe Grass Stage und ihrer Vorstellung „Weltfabrik“. Der Autor stellt deren Idee einer internationalen Arbeiterverbindung in die Tradition der Komintern.

Der Sammelband bringt wichtige neue Erkenntnisse zu globalen Vernetzungen, die in der Spätzeit des Kolonialismus nicht nur durch kapitalistische Warenzirkulation, sondern zugleich durch die Verbreitung der Kulturpolitik der Kommunistischen Internationale und ihrer Ideale geknüpft wurden. Dabei hat sich, wie die Herausgeber:innen zum Schluss noch einmal unterstreichen, keine einheitliche Komintern-Ästhetik etabliert, sondern es ging stets um kulturelle Übersetzungen, Reinterpretationen und Rekonfigurationen, die an regionale Spezifika anknüpften. Weniger in einer spezifischen Ästhetik, sondern vor allem in einer besonderen Form des politisch engagierten, linken Kulturaktivismus habe sich die Tradition der Komintern erhalten.

Der Band steht im Kontext zu weiteren wichtige Forschungspublikationen zu Osteuropa in seinen globalen Zusammenhängen wie dem Buch Globalizing East European Art Histories (Routledge 2018) von Beáta Hock und Anu Allas oder dem Jahrbuch für Historische Kommunismusforschung von 2019, das dem Kommunismus jenseits des Eurozentrismus bzw. einer transregionalen Geschichte der Kommunismus (Matthias Middell) gewidmet ist. Was hier fassbar wird, ist eine globale Geschichte der kommunistischen Länder und Imperien in ihren internationalen und transregionalen Verflechtungen.

Für alle, die sich vertieft mit kulturwissenschaftlicher Kommunismus-Forschung befassen, verdeutlich der vorliegende Band Comintern Aesthetics, dass frühere Formen des Aktivismus in unterschiedlicher Weise Traditionen bildeten, obwohl sich in den Ländern in der Einflusssphäre der Komintern trotz des Drucks der 1947 gegründeten Komiform als Nachfolger-Institution kein einheitlicher Stil als Sozialistischer Realismus durchgesetzt hat. Jenseits der Grenzen der Sowjetunion konnte man weiterhin auf avantgardistische, modernistische Formen zurückgreifen, obwohl die Kulturschaffenden zunehmend unter Druck gerieten. Zugleich zeigt sich, dass post- bzw. dekolonialistische Diskurse ihre Anfänge nicht nur in der Selbsterkenntnis und -kritik des Westens haben, sondern auch auf das internationale politische Programm der Kommunistischen Internationale zurückzuführen sind, die sich auf Antiimperialismus, Antikolonialismus und Antirassismus berief.

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16.09.2022
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Diese Rezension entstand im Rahmen des Fachforums 'Connections'. http://www.connections.clio-online.net/
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